Maul, Michael

Musikwissenschaftler, Autor, Intendant | geb. am 15. Februar 1978 in Leipzig

Mittlerweile gibt es am Störmthaler See sogar einen Bach-Wald. Auf einer Fläche von rund 29 Hektar wächst in den nächsten Jahren ein Mischwald aus dann rund 130.000 Bäumen und Sträuchern. Die Idee dazu stammt von Michael Maul, dem Intendanten vom Bachfest Leipzig. Das Festival ist Leipzigs Aushängeschild. Viele der eingeladenen Künstler sowie fast die Hälfte des Publikums reist eigens aus dem Ausland an, sehr viele aus den USA. Da lassen sich Flugreisen, die bekanntlich für einen sehr hohen CO2-Ausstoß sorgen, nicht vermeiden. „Das ist in Zeiten der Klimaerwärmung ein ernstzunehmendes Problem. Aus diesem Dilemma können wir uns nur durch Kompensation befreien“, bekennt Maul. Daher sei die Idee entstanden, durch Anpflanzen eines Waldes wenigstens etwas gegenzusteuern. Der Intendant will das keineswegs als Feigenblatt verstanden wissen. Es ist ein ernsthafter Versuch, die Internationalität des Festivals zu erhalten. Was für die Wagnerianer Bayreuth ist, soll Leipzig für die Bachfans aus aller Welt sein. Was ihn freut: Der Bach-Wald hat bereits Modellcharakter, andere Festivals und Orchester nutzen die Idee nach.

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Der Klassikliebhaber Michael Maul lebt seinen Traum. Einst unsicher, ob der Studiengang Musikwissenschaft wirklich zu ihm passt, vermarktet er heute als Intendant des Bachfestes seine Heimatstadt. Im Jahr 2015 wird Maul zunächst Dramaturg des Bachfest Leipzig, bevor er im Mai 2018 zum Intendanten gewählt wird. „Leipzig durch überraschende Festival-Konzeptionen einmal jährlich ins ,Bayreuth Bachs’ zu verwandeln, betrachte ich als meine zentrale Aufgabe“, sagt Maul in einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung.

Die Suche in Archiven nach Bach


Geboren im Februar 1978, wächst Michael Maul in Engelsdorf auf. Dort besucht er die Polytechnische Oberschule „Friedrich Engels“ und macht am König-Albert-Gymnasium in
Czermaks Garten sein Abitur. In den späten 1990erJahren studiert Maul an der Universität Leipzig. Dort belegt er bis 2002 Musikwissenschaft, als Nebenfächer Journalismus und Betriebswirtschaftslehre. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bach-Archiv Leipzig durchforstet er weitere Archive in Mitteldeutschland und Osteuropa systematisch nach Bezügen zu Johann Sebastian Bach. Dabei stößt er beispielsweise 2001 in Vilnius/Litauen auf die älteste erhaltene deutschsprachige Oper Bachs, die Pastorello musicale. Datiert ist die Handschrift aus Königsberg mit 1663.

International bekannt wird Maul, als er 2005 in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar die Bach-Arie: „Alles mit Gott und nichts ohn’ ihn“ entdeckt. Bis dahin war das ein unbekanntes Vokalwerk des Komponisten. Und es war die erste Neuentdeckung seit etwa 70 Jahren. Ein Jahr später findet Maul ebenfalls in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zuvor unbekannte Notenhandschriften Bachs, die sogenannte Weimarer Orgeltabulatur mit Abschriften der Choralfantasien.

Maul promoviert 2006 in Freiburg im Breisgau an der Albert-Ludwigs-Universität mit einer Arbeit über die Barockoper in Leipzig. 2013 erfolgt die Habilitation an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die eine vielbeachtete Arbeit zur Geschichte des Leipziger Thomaskantorats ist und ausgezeichnet wird. Er ist außerplanmäßiger Professor im Fach Musikwissenschaft in Halle-Wittenberg, unterrichtet auch an der Universität Leipzig sowie der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“.

Der Lebenslauf der Alumnen


Der Wissenschaftler wird auch im
Stadtarchiv Leipzig fündig. So erforscht er das Album Alumnorum Thomanorum mit Handschriften von Bachs Schülern. Der Inhalt des fast 700-seitigen Bandes ist zwar bekannt. Das Original gilt allerdings lange Zeit als verschollen und schlummert seit den 1960er-Jahren nahezu unbeachtet mit anderen Dokumenten aus der Thomasschule im Stadtarchiv. Das Besondere: Alle 650 Alumnen, die von 1729 bis 1800 neu in die Thomasschule aufgenommen worden waren, haben dort eigenhändig einen Kurzlebenslauf eingetragen. Das wiederum liefert der Wissenschaft neue Hinweise zur Datierung der Bach-Werke. Denn damals können die Noten nicht einfach so kopiert werden. Bach setzt daher zahlreiche seiner Schüler ein, die die Noten für die Aufführungen abschreiben müssen.

Eine große Biografie über den Menschen Bach


Seit vielen Jahren beschäftigt sich der Musikwissenschaftler mit dem Musikgenie Bach. Über den Menschen Bach hingegen ist wenig bekannt. Anders als
Beethoven hat er der Nachwelt kaum persönliche Schriften hinterlassen. Mit seiner zweisprachig auf Deutsch und Englisch im Lehmstedt-Verlag erschienenen Biografie versucht Maul, Licht ins Dunkel zu bringen und hat dafür viele Dokumente ausgewertet. Selbst auf Noten auf vergilbtem Papier entdeckt er durch Bach verfasste Randnotizen, die dann faszinierende Einblicke in dessen Arbeitsweise geben.  Der Thomaskantor komponiert zwar Gebrauchsmusik für Gottesdienste. „Doch diese war teilweise so anspruchsvoll, dass viele Musiker und Sänger zeitweilig überfordert waren. Auch der Thomanerchor“, so Maul.

Bachs Leben sei ein Lückentext, schreibt der Forscher im Vorwort seiner bebilderten Chronik. Bekannt sind Zwistigkeiten Bachs mit seinem Arbeitgeber, der Stadt Leipzig. Für die ist er keineswegs erste Wahl. Die wollen lieber Georg Philipp Telemann, der damals schon eine europäische Berühmtheit ist und lieber in Hamburg bleibt.

Podcast und Bach-Hörbiografie für Musikliebhaber


Kompetenzstreitigkeiten mit Funktionsträgern von Schule, Kirche oder Stadt führen dazu, dass sich Bach den Ruf eines streitbaren Zeitgenossen erwirbt, der einige Male ins 
Alte Rathaus zitiert wird. Bach ärgert sich immer wieder über die „wunderliche und der Music wenig ergebene Obrigkeit“. Für den Bachforscher Maul bleibt das Musikgenie eine unendliche Geschichte, bei der es noch viel zu entdecken gibt. Regelmäßig ist Maul bei MDR Klassik zu hören. In einem Podcast nimmt er gemeinsam mit Bernhard Schrammek jeweils eine Kantate genauer unter die Lupe. „Mir ist wichtig, meine Ergebnisse nicht nur mit der Forscher-Community zu teilen. Ich will sie in verschiedenen Formaten einer musikinteressierten Öffentlichkeit vermitteln.“ Neben dem Podcast gibt es beim Deutschlandfunk Kultur die XXL Hörbiografie über Bach mit 33 Folgen. In der Insel-Bücherei nimmt er im Buch „Wie wunderbar sind deine Werke“ Interessierte charmant in die Welt der Kantaten mit.

Darüber hinaus ist Familienvater Maul sehr sportlich unterwegs. Für Ideen wie „Bach – We are family!“, die Chöre aus aller Welt zum Bachfest nach Leipzig holte, bekommen Maul und sein Team 2022 den Leipziger Tourismuspreis. Im Jahr 2024 erhält er die Leipziger Lerche, die begehrte Trophäe des Wirtschaftsvereins „Gemeinsam für Leipzig“. „Mir macht es Spaß, immer wieder neue Konzepte zu entwickeln, um die Welt in Leipzig zu Gast zu haben“, sagt der Professor. Und man darf sich gewiss sein, das Maul, der heimliche Popstar in Sachen Klassik, noch viele Überraschungen hat.

Stand: 04.02.2024

Speck von Sternburg, Wolf-Dietrich

Kunstmäzen, Hotelier | geb. am 17. Februar 1935 in Stolp (damals Pommern)

Er ist Nachfahre eines Wollhändlers und Schafszüchters: Wolf-Dietrich Freiherr Speck von Sternburg, der sich in Leipzig längst einen Namen als der Kunstmäzen gemacht hat, stammt aus einer alten Leipziger Kaufmannsfamilie. Deren Name ist noch heute mit dem Rittergut in Lützschena, dem Schlosspark Lützschena, dem Handelshaus Specks Hof und deren wunderbar gestaltete Passage sowie dem Sternburg Bier verbunden. Und vor allem mit der Maximilian-Speck-von-Sternburg-Stiftung, die dem Museum der bildenden Künste Leipzig eine ihrer wertvollsten Sammlungen als Dauerleihgabe anvertraut.

Bildergalerie - Speck von Sternburg, Wolf-Dietrich

Handelsherr begründet eigene Schafszucht


Und diese Geschichte beginnt eigentlich mit
Napoleon. Der Franzosenkaiser verfügt im November 1806 eine Kontinentalsperre über die britischen Inseln. Das hat auch Auswirkungen auf den Leipziger Handelsherrn Maximilian Speck (1776-1856), der daraufhin keine Wolle mehr kaufen kann. Der umtriebige Geschäftsmann, der aus einfachen Verhältnissen stammt, beschließt, auf dem Rittergut Lützschena selbst Edelschafe in großem Stil zu züchten. Die Merinoschafe haben wegen ihrer begehrten Feinwolle eine große wirtschaftliche Bedeutung. Davon hört sogar Zar Alexander I., der Maximilian Speck einlädt, die russische Landwirtschaft zu fördern. Der Zar ernennt ihn 1825 zum Ritter von Speck, der bayerische König Ludwig I. macht ihn um 1829 schließlich zum Freiherrn von Sternburg.

Wie alle wohlhabenden Leipziger Handelsherren sammelt der Tuchhändler Kunst. Da er Handelshäuser auf der ganzen Welt unterhält, reist er viel und hat bei seiner Rückkehr nicht selten ein Gemälde im Gepäck. Verheiratet mit der wohlhabenden Tochter eines Leipziger Bürgermeisters, trägt er mit ihr über viele Jahre eine erlesene Sammlung von Gemälden und grafischen Blättern zusammen. Ehefrau Charlotte ist selbst Kupferstecherin.

Sein Enkel Hermann Speck von Sternburg ist Botschafter des Deutschen Kaiserreiches in den USA und China. Auch von dort gibt es viele Kunstschätze, einige davon sind in der Sammlung des GRASSI Museums für Völkerkunde zu finden. Ur-Ur-Enkel Wolf-Dietrich, dem Haupterben Maximilians, ist der Kunstsinn daher schon in die Wiege gelegt worden.

Hotelkaufmann zieht es hinaus in die Welt


Geboren wird Wolf-Dietrich Speck von Sternburg in Stolp, das damals zu Hinterpommern (heute: Słupsk in Polen) gehört. Dort verlebt er eine glückliche Kindheit und die Volksschulzeit. Die Familie wird nach 1945 vertrieben und kommt zunächst nach Pasewalk in Mecklenburg-Vorpommern. Später siedelt sie sich im hessischen Wiesbaden an. Wolf-Dietrich Freiherr Speck von Sternburg macht schließlich eine Ausbildung zum Hotelkaufmann in Bad Reichenhall. Es zieht ihn hinaus in die Welt, nach Ecuador, Peru und in die USA. Dort arbeitet er als Kellner und Concierge. An der Cornell University in Ithaca im Bundesstaat New York absolviert er ein Studium zum Hotelmanager. Bis zur Pensionierung im Jahr 1996 ist er Prokurist bei einer Münchner Hotelgesellschaft.

Die Familie hat die Sammlungen verwaltet, später nicht mehr durch Neukäufe ergänzt. Der Älteste als Majoratsherr ist jeweils der Erbe, muss aber für die Familie sorgen, die Älteren unterstützen, die Ausbildung für die Jüngeren bezahlen. Dadurch ist auch die Sammlung vereint geblieben. Im Roman „Der Wollhändler“ von Susan Hastings wird die Familiengeschichte verarbeitet.

Zum Kirchentag und zur Messe in Leipzig


Zu DDR-Zeiten wird die Sammlung enteignet. Zu ihr gehören Meisterwerke von
Lucas Cranach dem Älteren, Rubens und Caspar David Friedrich, Johan Christian Dahl, Conegliano und zahlreiche Werke holländischer Meister. Die mehr als 200 Werke werden im Museum der bildenden Künste aufbewahrt und teilweise gezeigt. Als 19-Jähriger kommt der Freiherr im Jahr 1954 erstmals nach Leipzig – damals zum Evangelischen Kirchentag. Er wohnt bei der Tante in einer Dachkammer der Villa Sternburg. Im Schloss darf sie schon lange nicht mehr wohnen. Heimlich besichtigt er den verwilderten Schlosspark und macht Fotos. „Es war ein trauriger Anblick. Der Park, den meine Familie über Jahrhunderte gepflegt hat, Friedhof und Mausoleum waren verwildert“, erinnert er sich. Mit Hilfe der Fotos konnten nach der Wende viele Statuen und Monumente rekonstruiert werden.

Doch zunächst wird die Mauer errichtet. Leipzig und Lützschena rücken für den jungen Mann in weite Ferne. In den 1970er und 1980er Jahren kommt er zur Leipziger Messe. Dort besichtigt er auch das Museum der bildenden Künste, das damals im ehemaligen Reichsgericht untergebracht ist. Und sieht auch das Schild unter einigen Gemälden: „Erworben 1945“. Das stößt zwar bitter auf, doch insgesamt freut er sich, dass die Sternburg-Sammlung überhaupt noch existiert. „Das positive Denken und Handeln habe ich meiner Mutter zu verdanken – trotz aller Tragik in ihrem Leben“, sagt er. Die Eltern habe er nie jammern gehört.

Nach der Friedlichen Revolution fürchten der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig, dass die Familie Speck von Sternburg ihren rechtlich verbrieften Eigentumsanspruch geltend macht und die Bilder zurückfordert. Wolf-Dietrich wird als Vertreter der Familie nach Leipzig geschickt, um sich um das Erbe zu kümmern. Er fühlt sich verpflichtet, die Sammlung in Leipzig zu belassen. Maximilian Speck verfügte einst, dass seine Sammlung an die Stadt Leipzig fallen solle, sobald es keine männlichen Namensträger mehr gäbe. Das ist zwar nicht der Fall. „Ich habe mir gedacht, Maximilian hat diese Sammlung eigentlich der Stadt Leipzig übergeben wollen“, so der Nachfahre. „Und da war die beste Lösung eine Stiftung.“

Stiftung gegründet – Gemälde sollen zugänglich bleiben


Die Stiftung wurde am 12. November 1996 in Leipzig gegründet. Sie überlässt dem Museum die 202 Gemälde, rund 700 Grafiken und eine Kunstbibliothek als Dauerleihgabe. Anstatt einige der Bilder in seinen Wohnungen in München und Leipzig oder in Räumen im Lützschenaer Schloss aufzuhängen, betrachtet er diese lieber im Museum. „Es ist die Erinnerung an Maximilian und seinen letzten Willen, die Gemälde für die Öffentlichkeit zu erhalten“, begründet er mit viel Respekt vor dem berühmten Vorfahren.

Parallel kümmert er sich um das Schloss in Lützschena, das die Familie ebenso wie den enteigneten und in 34 Parzellen geteilten Park zurückkauft. „Ich wollte nie Parkbesitzer sein. Aber es war die einzige Möglichkeit, den Park für Lützschena zu erhalten und handlungsfähig zu bleiben.“ Im Schloss war damals eine Schule für behinderte Kinder untergebracht. Mit wie viel Liebe sie betreut worden sind, habe ihn sehr berührt, sagt er. Und es ist wohl der Ansporn, das Kinderhospiz Bärenherz in Markkleeberg, das erste Kinderhospiz in Mitteldeutschland, zu unterstützen. Dort ist er Mitglied im Kuratorium.

Auf Stiftermosaik im Bildermuseum verewigt


Wolf-Dietrich Speck von Sternburg lebt heute abwechselnd in München und Leipzig. Und hat sich den Ruf eines „Außenministers“ der Messe- und Handelsstadt erworben. Mehrfach ist er ausgezeichnet worden, darunter mit dem Verdienstorden des Freistaates Sachsen und der Ehrenmedaille der Stadt Leipzig. 2010 erhielt er vom damaligen Bundespräsidenten
Christian Wulff das Bundesverdienstkreuz I. Klasse. Porträtieren lassen für ein Gemälde hat er sich nie. Doch Wolf-Dietrich Speck von Sternburg ist auf dem Stiftermosaik verewigt, das der Münchner Künstler Stephan Huber fürs Foyer des Museums der bildenden Künste geschaffen hat.

Am 17. Februar 2025 wird Wolf-Dietrich Freiherr Speck von Sternburg das Ehrenbürgerrecht der Stadt Leipzig verliehen. Am Tag seines 90. Geburtstages erhält er bei einem Festakt die höchste Auszeichnung der Stadt Leipzig. Speck von Sternburg trägt sich außerdem in das Goldene Buch ein.

Stand: 13.5.2025

Hartinger, Anselm

Musikwissenschaftler, Historiker, Museumsleiter | geb. am 6. Juni 1971 in Leipzig

Bei besonderen Anlässen dichtet er sogar: Für die Eröffnung eines barrierefreien Zugangs zum Forum 1813 sowie zu den Servicebereichen Kasse und Shop am Völkerschlachtdenkmal hat Anselm Hartinger Friedrich Schillers Glocke in „Die Rampe“ umgedichtet und vorgetragen. Das passt zu seinem Credo: „Museum darf gern auch Spaß machen.“ Der Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig, zu dem auch das Völkerschlachtdenkmal als eine von sieben Institutionen gehört, steckt voller Ideen und Herzblut, um den Besuchern die reichhaltige Geschichte seiner Heimatstadt nahezubringen. Der gebürtige Leipziger hat einfach Spaß und Lust, seine Gäste zu inspirieren. Und schreibt auch gern Limericks.

Bildergalerie - Hartinger, Anselm

Am 6. Juni 1971 wird er als Sohn der Literaturwissenschaftler Christel und Walfried Hartinger geboren, die an der Karl-Marx-Universität (heute: Universität Leipzig) lehren. Er besucht die Leibnizschule und macht sein Abitur auf der Thomasschule, wo sich die Liebe des späteren Musikwissenschaftlers zu Johann Sebastian Bach festigt. Und wo er versucht, die Thomaner beim Fußballspielen zu besiegen.

Eine große Liebe zu Bach


An der Universität Leipzig studiert er Mittlere und Neue Geschichte sowie Historische Musikwissenschaft und einige Semester Philosophie. In den 1990er Jahren wohnt er in
Connewitz, in der Nähe der Kultkneipe Frau Krause und jobbt auch in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Mit einer Arbeit über die Bach-Aufführungen und den Strukturwandel im Leipziger Kultur- und Musikleben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts promoviert er. Seinen ersten Job bekommt er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bach-Archiv Leipzig und ist auch für die Neukonzeption des Bachmuseums Eisenach verantwortlich. Als Dozent zieht es ihn 2006 nach Basel an die Schola Cantorum Basiliensis. 

Nach wie vor ist der bekennende Weinliebhaber mit der Schweiz sehr verbunden, hat gelegentlich Sehnsucht nach den Bergen. Er begleitet als musikwissenschaftlicher Berater die J.S. Bach-Stiftung, die in St. Gallen beheimatet ist. 2024 will er eine „Ratswahlkantate“ texten, so wie sie einst Bach komponiert haben könnte. Der Thomaskantor hat jedes Jahr zum Bartholomäustag im August eine Festmusik für den Leipziger Rat vertont. Die hypothetische Version, für die Hartinger das Libretto verfasst, wird zu den Bachtagen 2024 in St. Gallen aufgeführt. „Ich bemühe mich, die Bachwelten in Leipzig und der Schweiz zu verknüpfen.“ Er spielt Cembalo und Orgel, singt und leitet eine Zeitlang einen gemischten Chor in Engelsdorf. Viel Freude hat er einst auch beim Thomasius Consort. „Dieses Ensemble entsteht, weil ich damals in der Thomasiusstraße wohnte“, blickt er zurück. Konzerte spielte er damals beispielsweise gemeinsam mit dem heutigen Bachfest-Intendanten Michael Maul.

2012 zieht es ihn als Kurator an das Landesmuseum Württemberg in Stuttgart, wo er bis 2014 die Sammlung historischer Musikinstrumente betreut. „Wir haben ein Haus der Musik daraus gemacht.“ Danach geht er für viereinhalb Jahre in die thüringische Landeshauptstadt, wo er die Geschichtsmuseen Erfurt leitet. Doch dann kehrt er als Nachfolger von Volker Rodekamp nach Leipzig zurück, wird im April 2019 Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig

„Wir haben den Mut, uns auf einen Weg zu begeben, dessen Ende wir noch nicht kennen“, sagte Hartinger damals. Ziel sei es, das Museum bürgernäher, pluraler und attraktiver für die unterschiedlichsten Zielgruppen zu machen. Da ist das Museum inzwischen auf einem guten Weg, es wird viel mehr draußen für die Stadtgesellschaft angeboten. „Museum on tour“ – die Präsenz mit einem Lastenfahrrad und Objekten bei Stadtteilfesten ist ein Beispiel dafür. Es gibt inzwischen mehr Vorträge und Begegnungen. „Bei der Vorbereitung von Ausstellungen arbeiten wir viel mehr mit Experten aus der Bürgerschaft zusammen“, betont Hartinger. 

„… oder kann das weg?“ wird ein Projekt genannt, bei dem Sammelobjekte wie Napoleons Nachttopf, Walter Ulbrichts Küchenstuhl und Tante Martas Taufkleid, die das Tageslicht seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben, gezeigt werden. In vergnüglicher Weise wird in einer Ausstellung die Frage gestellt, warum Museen sammeln und worin die einzigartige Aura und Relevanz auch scheinbar alltäglichster Objekte liegen kann. Gezeigt werden auch Objekte, die dem Museum geschenkt werden – etwa in der Schau „Ehrenplatz“, bei der es um das Sportmuseum Leipzig geht. Einen Besucherbeirat gibt es auch.

Ein kritisches Nachdenken über Leipzig


Das 
Schillerhaus, die Literatur-Gedenkstätte in Gohlis, ist inzwischen neu konzipiert und wird als Nachbarschaftsmuseum in Kooperation mit dem Bürgerverein Gohlis zum Begegnungsort weiterentwickelt. „Mir ist wichtig, immer wieder kritisch darüber nachzudenken, was Leipzig eigentlich ausmacht“, betont der Museumschef. Sein Ziel ist, Leipzig unter aktuellen Gesichtspunkten zu befragen. Ob Klimawandel, die Geschichte der Kohle oder die spannenden Umbrüche in den 1990er Jahren – Themen gibt es dafür zuhauf. Dabei will Hartinger möglichst unterschiedliche Perspektiven zulassen. 

Daneben ist Hartinger auch Bauherr. Etwa im Museum „Zum Arabischen Coffee Baum“, das im Juli 2025 wiedereröffnet. Oder im Sportmuseum, das dringend eine Dauerschau braucht. Dieses Problem wollen Hartinger und sein Team in diesem Jahrzehnt endlich lösen.

Anselm Hartinger ist auch Geschäftsführer der Stiftung Völkerschlachtdenkmal. Nach der grundhaften Sanierung des Völkerschlachtdenkmals bleibt die Herausforderung, die Bausubstanz sowie die technischen Anlagen dauerhaft zu erhalten. Dafür sind weiterhin viele Investitionen und Reparaturen nötig. Ziel ist auch, das Denkmal inhaltlich als Magnet für Touristen weiterzuentwickeln sowie die Erinnerung an die grausame Völkerschlacht bei Leipzig auf eine modernere Art und Weise wachzuhalten. So soll das Forum 1813 weiter entwickelt werden, es viel mehr Vorträge und Veranstaltungen geben.

Wenig Zeit für eigene Forschungen


Hartinger hat viele Fachbeiträge, Bücher und Artikel verfasst. Dazu gehört das 2005 erstmals in der Edition Leipzig erschienene Buch „Bach, Mendelssohn und Schumann“. Die Arbeit als Wissenschaftler ruht derzeit. „Für grundhafte, eigene Forschung habe ich momentan kaum noch Zeit“, sagt Hartinger. Als Direktor müsse er „seine Museen“ repräsentieren und inhaltlich mit seinem Team weiterentwickeln. „Das Spektrum der Themen im Stadtgeschichtlichen Museum ist riesig. Da kann ich nicht überall Experte sein. Aber ich kann mich bemühen, alle Themen zu durchdringen und mein Team bei den Forschungen unterstützen.“ Er konzentriere sich da eher auf konzeptionelle Arbeit, auch im Deutschen Museumsbund.

Stand: 10.01.2024

Girardet, Georg

Jurist, ehemaliger Bürgermeister und Beigeordneter für Kultur der Stadt Leipzig | geb. am 7. September 1942 in Kempten

Er ist ein Gentleman: 17 Jahre steht Georg Girardet an der Spitze der Leipziger Kultur und prägt das Kulturleben in einer durchaus wilden Zeit, in der viele Entscheidungen getroffen und Probleme gelöst werden müssen. Während seiner aktiven Jahre im Leipziger Neuen Rathaus hat Girardet fast eine halbe Milliarde Euro in diversen Kultureinrichtungen verbaut. Der Neubau des Museums der bildenden Künste Leipzig, die Sanierung des Grassimuseums sowie der Ausbau des Zoo Leipzig sind nur wenige Beispiele.

Bildergalerie - Girardet, Georg

Girardet ist keiner, der sich zurücklehnt. „Es macht mir Spaß, nützlich zu sein“, ist eine seiner Devisen, die auch im Ruhestand noch gilt. Er lebt in Leipzig und Berlin. Und ist bei vielen Veranstaltungen an der Pleiße nach wie vor präsent. Bei einer Verabredung trifft er sich gern im Café Bach (bis Ende 2024: Café Gloria), dem Café des Bach-Museums, damit diesem der Erlös zugute kommt. Zum Bach-Liebhaber ist er erst in Leipzig geworden.

Als „DDR-Analphabet“ in Ost-Berlin


Georg Girardet wird am 7. September 1942 in Kempten im Allgäu geboren. Er ist der Sohn einer Essener Verleger-Dynastie und beginnt nach dem Abitur ein Jurastudium, dem die Promotion folgt. Der junge Mann wird Referent für Berufsbildung im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (1973 bis 1977), danach Referent sowie später Kulturreferent in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR in Ost-Berlin. Damit verbunden war für ihn ein intensiver Lernprozess, denn anfangs fühlte er sich als „DDR-Analphabet“. Seine Mutter übernimmt 1953 eine Hilfsorganisation „Der Helferbund“, die bis Mitte der 1980er Jahre Pakete mit Kleidung und Lebensmitteln an Familien in der DDR schickt. Mit zwölf Jahren beginnt er selbst einer Familie zu helfen.

Als erfindungsreicher Diplomat schafft er es in seiner Zeit bei der Ständigen Vertretung, die Mauer für die Kunst und die Künstler ein wenig zu durchlöchern. Das Gartenhaus in Ost-Berlin wird zu einem Treffpunkt für Kulturschaffende und Interessierte. Girardet hilft Künstlern, indem er sie mit Katalogen und Büchern von Kunstverlagen versorgt oder auch mal ihre Werke an Galerien und Museen im Westen vermittelt. Das ist sowohl aus Ost- als auch West-Perspektive illegal. Der Kulturreferent schmuggelt mit seinem Diplomatenausweis und seinem Volvo-Kombi mit Diplomatenkennzeichen Kunst in beide Richtungen über die Grenze am Übergang Invalidenstraße. Nie aus Eigennutz, wie er betont.

Rettung des Dokfilm-Festivals wird erste Mission in Leipzig


1985 wechselt er in den Westberliner Senat. Dort übernimmt er beispielsweise die Referatsleitung für die 750-Jahr-Feier 1987 sowie für die Veranstaltungen innerhalb des Projekts „Berlin – Kulturhauptstadt Europas 1988“. Es folgt ein Job im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft. Am 1. Dezember 1991 wählt die Leipziger Stadtverordnetenversammlung ihn als Bürgermeister und Beigeordneten für Kultur der Stadt Leipzig. Dass er diesen Posten bekommt, hat ihn selbst überrascht, sagt er. Auf Empfehlung des Galeristen und Kunsthistorikers
Klaus Werner hatte er sich überhaupt erst beworben. Eigentlich wird nach der Abwahl des Vorgängers Bernd Weinkauf im Rathaus die Devise ausgegeben, für diese Funktion „niemanden aus dem Westen“ zu nehmen. Doch seine beruflichen Erfahrungen zum einen mit der DDR-Kulturpolitik und – Kulturszene und zum anderen in der westdeutschen Kulturverwaltung auf Bundes- und Landesebene wiegen offensichtlich schwerer.

Der neue Kulturbürgermeister erweist sich als ein Glücksfall. Seine erste Mission wird die Rettung des Internationales Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, das abgewickelt werden soll und in eine neue Rechtsform überführt wird. Girardet, der viele Baustellen gleichzeitig bewältigen muss, erwirbt sich den Ruf als Kultur-Ermöglicher. Um den Neubau des Museums der bildenden Künste in der Katharinenstraße oder die Sanierung des Grassimuseums am Johannisplatz erwirbt er sich Verdienste.

Girardet wird in Leipzig zum Bach-Liebhaber


Beharrlich kümmert er sich darum, für das
Bachfest Leipzig samt Thomanerchor und Bach-Archiv eine Zukunft zu entwickeln. Die Skepsis des damaligen Oberbürgermeisters Hinrich Lehmann-Grube ist groß. Es wird viel diskutiert, ob Leipzig tatsächlich mit Bach genug Publikum für ein internationales Musikfestival mobilisieren kann. Girardet lässt Gutachten anfertigen, der Skeptiker Lehmann-Grube sich überzeugen. Und der Erfolg gibt Girardet recht. „Die Besucher kommen von weit her, um am authentischen Ort die Musik von Bach zu genießen“, sagte er 2000. Und macht kein Geheimnis daraus, dass er sich erst in Leipzig zum Bach-Fan entwickelt hat. „Das war kein leichter Weg. Als Achtjähriger konnte ich mit dem Weihnachtsoratorium noch nichts anfangen.“

Stolz ist er darauf, dass es gelungen ist, nach Kurt Masur für das Gewandhausorchester die Dirigenten Herbert Blomstedt und Riccardo Chailly nach Leipzig zu holen. „Das war ein Volltreffer“. Es ist die Stärke des Kulturbürgermeisters Girardet: Er gewinnt Menschen für Leipzig. Menschen, die Geld für Leipzigs Kultur ermöglichen. Das sind sowohl Politiker des Freistaates Sachsen als auch des Bundes. Es sind aber auch Privatpersonen, die Girardet bereits vor der Wende kennen und schätzen gelernt haben. Er setzt sich dafür ein, dass das Theater der Jungen Welt eine würdige Bleibe findet. Gemeinsam mit Zoochef Jörg Junhold bastelt er am Konzept des Zoos der Zukunft, bei dem spätestens mit der weltweit einzigartigen Menschenaffenanlage Pongoland sowie der Tropenerlebniswelt Gondwanaland ein großer Wurf gelingt.

Diplomatisches Geschick für Leipzigs Kultur


Oft wird ihm im damaligen Stadtrat vorgeworfen, nicht kämpferisch genug zu sein. Doch Girardet hat es immer verstanden, mit behutsamer Hand und vor allem mit diplomatischem Geschick und Beharrlichkeit die Leipziger Kultur voranzubringen.  Natürlich gibt es auch Niederlagen: So konnte er den Abbau des
Leipziger Tanztheaters am Schauspiel 1998 ebenso wenig verhindern wie die Schließung der Ballettschule der Oper Leipzig. „Das sind Einrichtungen, die nach der Wende neu entstanden sind. Doch das Geld reichte nicht“, erinnert er sich. Auch die Zukunft des Naturkundemuseums konnte er nicht klären. Das wohl wichtigste Vermächtnis der knapp 18 Jahre Georg Girardets in Leipzig ist es wohl, das Kulturbudget auf sehr hohem Niveau zu halten. Natürlich: Die Freie Szene fühlte sich nur unzureichend von ihm vertreten. „Die Kritik ist nicht ganz unbegründet. Ich habe die Entscheidungen dem Kulturamt überlassen, das viel näher an der Freien Szene dran war.“

2009 endete die Amtszeit unter den drei Oberbürgermeistern Hinrich Lehmann-GrubeWolfgang Tiefensee und Burkhard Jung. Girardet kann durchaus zufrieden auf sein Leipziger Lebenswerk zurückblicken. Danach bleibt er aktiv in Vorständen und bei Stiftungen. Besonders wichtig ist ihm nach wie vor die Arbeit in der Ephraim-Carlebach-Stiftung sowie seine Tätigkeit als Schatzmeister im Vorstand der Gesellschaft Harmonie Leipzig, die soziale und kulturelle Projekte sowie Kultur, Kunst und Wissenschaft in Leipzig fördert. Auch im Rotary-Club, bei der Internationalen Mendelssohn-Stiftung, im Kuratorium Bach-Archiv sowie in anderen Vereinen arbeitet er mit. Girardet hat viele Auszeichnungen bekommen, darunter das Bundesverdienstkreuz erster Klasse.

Stand: 10.01.2024

Weichert, Michael

Gastronom, Politiker, Kommunikator | geb. am 22. Dezember 1953 in Neuenbürg

Er ist wohl ein Hans Dampf in vielen Gassen. Bei Michael Weichert ist dies positiv gemeint. Er bringt Leute zusammen, ist in unzähligen Initiativen und Vereinen engagiert und bei vielen Premieren in der Leipziger Kulturszene anzutreffen. Durch sein jahrelanges Engagement als bündnisgrüner Abgeordneter ist er gut vernetzt.

Bildergalerie - Weichert, Michael

Diese Kontakte setzt Weichert, der eine Schwäche für schicke Brillen hat, gern ein, um Leipzig voranzubringen. Der Marienbrunner, der die Beraterfirma Weichert Consult betreibt, ist zugleich Honorarkonsul von Bosnien-Herzegowina und steht dem Förderverein des Zoo Leipzig vor. Als Mitbegründer des Stammtisches Politik-Wirtschaft-Medien knüpft er ebenfalls viele Kontakte.

Nach Ausbürgerung Biermanns aktiv gegen den DDR-Staat


Geboren ist der Pfarrerssohn am 22. Dezember 1953 in Neuenbürg, was im Schwarzwald, etwa zwölf Kilometer südwestlich von Pforzheim, liegt. Mit seinen Eltern kommt er im Alter von vier Monaten vom Westen in den Osten. Dort gilt er als Außenseiter, muss als Kind viel einstecken. Frühzeitig merkt er, wie wichtig es ist, dass sich jemand engagiert. Und schwänzt schon mal die Schule, um eine spannende Rede von
Herbert Wehner im Deutschen Bundestag verfolgen zu können. Weichert verweigert sich den Jungen Pionieren und der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Mit seiner Meinung hält er nicht hinterm Berg und eckt oft an. Das führt zur Konsequenz, dass er kein Abitur machen darf. Seit 1961 lebt Weichert in Leipzig. 

Der junge Mann lernt Gasmonteur, verweigert den Dienst bei der Nationalen Volksarmee. Das Gefängnis bleibt ihm damals erspart. Es folgt ein Crash-Kurs am Theologischen Seminar, an der er die Hochschulreife erlangt sowie ein Theologiestudium, bei dem er jedoch exmatrikuliert wird. Er stellt einen Ausreiseantrag, wird bespitzelt durch die Staatssicherheit und mehrfach verhaftet. Er schlägt sich als Tankwart und Garagenmeister durchs Leben.

Aktiv gegen den DDR-Sozialismus wird er, als die SED-Führung im November 1976 den Liedermacher Wolf Biermann ausbürgert. Er schreibt sogar ein Gedicht, das er persönlich an SED-Generalsekretär Erich Honecker telegrafiert. Doch „in seinem Kopf kommt die Wende“, er will den Staat verändern, ohne die eigene Familie zu gefährden. Den Facharbeiter als Kellner sowie den Gaststättenleiternachweis in der Tasche, steht er ab 1983 schließlich in der Gartenkneipe „Hans Beimler“ hinterm Tresen, der späteren und heutigen Sternhöhe in Möckern.

Über das Neue Forum in die Politik


Weichert engagiert sich in Umweltgruppen. Die politische Karriere beginnt als Gründungsmitglied des „Neuen Forums“, das sich mit weiteren Bürgerrechtsbewegungen für die ersten freien Wahlen in der DDR 1990 zum Bündnis 90 zusammenschloss. Drei Jahre später vereint das Bündnis sich mit den Grünen, um die Fünf-Prozent-Hürde auf Bundesebene zu nehmen. Weichert gehört ebenfalls zu den Gründern des Bürgervereins Möckern-Wahren. 15 Jahre lang sitzt er von 1994 bis 2009 schließlich für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Stadtrat, um Leipzig in einer sehr spannenden Zeit zu gestalten. 2004 holt er schließlich ein Mandat und geht als Landtagsabgeordneter in die Politik. 

Zwischendurch wird er ab Januar 2003 Geschäftsführer bei der Bio City Leipzig auf der Alten Messe. „In meiner Kneipe steckte zwar viel Herzblut, als Kneiper wollte ich aber nicht in Rente gehen“, erinnert er sich. In der Bio City Leipzig organisiert er die Eröffnung mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schroeder sowie Tage der offenen Tür. Dann wird er nahezu überrascht, dass Bündnis 90/Die Grünen den Sprung in den sächsischen Landtag geschafft haben. 2004 holt er ein Mandat und geht als Landtagsabgeordneter nach Dresden. Nebenbei führt er anderthalb Jahre lang die Arbeit für ein europäisches Projekt bei der Bio City Leipzig zu Ende. Weichert wird Berufspolitiker, bis 2014 der Wiedereinzug in den Landtag misslingt. Für die Grünen will Weichert 2006 sogar Oberbürgermeister in Leipzig werden, unterliegt aber dem SPD-Mann Burkhard Jung.

Ein „Türöffner“ für viele Firmen


Die Arbeit in der eigenen Beraterfirma Weichert Consult, die Firmen und Institutionen unterstützt, Kontakte zur Politik und Kultur zu knüpfen, geht weiter. So organisiert er für das Jubiläum eines traditionsreichen Leipziger Handwerkbetriebes die Veranstaltung samt Catering und Festredner aus der Politik. Für die Hotellerie und Gastronomie castet er schon einmal Azubis in Spanien, als 2012/13 die Jugendarbeitslosigkeit besonders hoch ist und in Leipzig dringend Nachwuchs gebraucht wird. Und auch in Bosnien-Herzegowina fungiert er als „Türöffner“ für hiesige Firmen und die 
Universität Leipzig, um für gemeinsame Projekte wie in der Abfallwirtschaft Fördermittel sowie die Finanzierung hinzuzubekommen.

Viel Herzblut für den Leipziger Zoo


Viel Zeit widmet der begeisterte Rennrad- und Motorradfahrer Weichert dem Ehrenamt, wobei ihm vor allem die Präsidentschaft im Zoo-Förderverein sehr am Herzen liegt. Seit 2014 hat er dieses Amt inne und ist mittlerweile mit 1.300 Mitstreitern dabei, zusätzliche Spenden und Tierpatenschaften für den Leipziger Zoo zu akquirieren. Regelmäßig wird beispielsweise Glühwein auf dem 
Leipziger Weihnachtsmarkt verkauft. Inzwischen kann der Förderverein dem Zoochef Jörg Junhold und seinem Team Jahr für Jahr mehr als eine Million Euro zur Verfügung stellen. „Artenschutz und der weltweite Verlust an Biodiversität treiben uns an. Arten- und Klimaschutz gehören zusammen. Das passt für mich zur Ehrfurcht vor dem Leben, also meiner christlichen Erziehung“, bekennt Weichert.  Der Mitbegründer des Städtepartnerschaftsvereins Leipzig-Travnik ist auch regelmäßig bei Bürgerreisen in die Partnerstadt dabei. Privat ist der kulturinteressierte Weichert, der als Jugendlicher auch Komparse ist, häufig bei Premieren im Opernhaus, den Leipziger Kabaretts oder im Krystallpalast-Varieté anzutreffen. Schon in der „Sternhöhe“ hat er regelmäßig Kabarett-Auftritte mit dem Kabarett academixer oder der Leipziger Pfeffermühle organisiert. 

Stand: 17.12.2023

Lehmann-Grube, Hinrich

Jurist, Politiker, ehemaliger Oberbürgermeister Leipzigs | geb. am 21. Dezember 1932 in Königsberg; gest. am 6. August 2017 in Leipzig

Er pflegt einen Politikstil, der Leipzig voranbringt. Mit preußischer Disziplin und sächsischem Pragmatismus prägt Hinrich Lehmann-Grube die Stadtverwaltung von Leipzig, der er von 1990 bis 1998 vorsteht. Leipzig ist für Lehmann-Grube, der in Königsberg/Ostpreußen geboren wird, zwar nicht die Heimat. Er nennt es aber stets „sein Zuhause“. Der seit 1958 aktive Sozialdemokrat wird nach der Friedlichen Revolution `89 von seiner Partei gebeten, sich bei den ersten demokratischen Kommunalwahlen in der DDR im Mai 1990 um einen Sitz in der Stadtverordnetenversammlung und auch um das Amt des Oberbürgermeisters von Leipzig zu bemühen. Noch vor der Wahl, im April 1990, wird Lehmann-Grube Bürger der DDR – um das Signal auszusenden, dass Leipzig für ihn keine Zwischenstation ist. Und der promovierte Jurist wird zum „Glücksfall für Leipzig“. Darüber sind sich selbst seine politischen Gegner einig. Er regiert über Parteigrenzen hinweg mit dem „Leipziger Modell“ und bringt damit das Gemeinwesen voran.

Bildergalerie - Lehmann-Grube, Hinrich

Hinrich Lehmann-Grube wird 1932 in Königsberg als Sohn eines Kinderarztes geboren. Seine Mutter entstammt einer Hamburger Familie, die sich sehr aktiv in der Sozialdemokratischen Partei engagiert. Als Flüchtling kommt Lehmann-Grube nach Ende des Zweiten Weltkrieges nach Hamburg und besucht dort die Schule. 1951 macht er in der Hansestadt Abitur und studiert anschließend Jura. Seit 1956 ist Lehmann-Grube aktives Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Seine Frau Ursula heiratet er im Jahre 1957.

Oberstadtdirektor will von Hannover weg


Beruflich zieht es den Volljuristen in die Verwaltung und Politik. Zehn Jahre lang arbeitet er für den Deutschen Städtetag in Köln, anschließend 12 Jahre als Beigeordneter der Stadt Köln. Im Jahr 1979 wird „LG“, wie er in Leipzig oft genannt wird, Oberstadtdirektor der Stadt Hannover. Mit der dortigen Kommunalverfassung ist er allerdings unzufrieden. Denn diese weist ihm „die Rolle des buckelnden Verwaltungschefs“ zu, wie er einmal in einem Interview mit der
Leipziger Volkszeitung sagt. Deshalb kommt ihm der Ruf der Leipziger SPD, die sich zunächst als SDP in der DDR gründet, gerade recht. Am 19. März 1990 treffen sich die Mitglieder des Leipziger SPD-Stadtvorstandes, um die Wahlschlappe bei den DDR-Volkskammerwahlen vom 18. März auszuwerten. Für Anfang Mai sind die Kommunalwahlen in Leipzig anberaumt, der SPD fehlt noch ein Spitzenkandidat. An diesem Abend kommt die Rede auf einen gewissen Lehmann-Grube, der von Hannover wegwill. Wie der Zufall es will, ist beim Lindenauer SPD-Ortsverein gerade ein Heimvolkshochschulkurs aus Springe bei Hannover zu Gast. Dabei ist auch Ursula Lehmann-Grube, die gefragt wird, ob sie sich denn eine Kandidatur ihres Mannes vorstellen kann? Der Ausgang ist bekannt: Das Ehepaar packt Hab und Gut zusammen, kommt in Leipzig zunächst in einem ehemaligen Stasi-Gästehaus in Stötteritz unter.

Mit einem weit über dem DDR-Durchschnitt liegenden Ergebnis wird die SPD in Leipzig die stärkste Partei bei der Kommunalwahl. Sie holt 45 Mandate. Am 6. Juni 1990 wird Hinrich Lehmann-Grube mit 76 Prozent der abgegebenen Stimmen zum neuen Oberbürgermeister gewählt. Damit beginnt der Aufbau einer effizienten Verwaltung. In seiner Antrittsrede verweist der neue erste Mann auf die schlimme Ausgangslage in Leipzig, die sich beispielsweise im Zustand der Infrastruktur und Gebäude, der Umwelt, der Verkehrswege sowie der hohen Arbeitslosigkeit nach verschiedenen Betriebsschließungen zeigt. Für viele ist das damals ein Grund, Leipzig zu verlassen und in den Westen abzuwandern. Er kommt hierher.

„Leipziger Modell“ bringt die Stadt voran


Lehmann-Grube muss nach seinem Amtsantritt die Verwaltung völlig neu aufbauen. Sein Politikstil, nicht zuerst parteipolitisch zu denken, sondern über die Parteigrenzen hinweg an der Lösung von Problemen gemeinsam zu arbeiten, wird zunächst in anderen westdeutschen Städten belächelt. Doch eben dieses „Leipziger Modell“ bringt die Stadt in den Anfangsjahren nach der Friedlichen Revolution voran. Es gilt, Entscheidungen wie am Fließband zu treffen, auch unpopuläre. Aber es gibt halt keine sozialdemokratischen oder christdemokratischen Wasserrohre, die repariert werden müssen. Dabei ist der leidenschaftliche Bratsche-Spieler Argumenten recht aufgeschlossen. Er kann sich auch revidieren, wie langjährige Weggefährten berichten.

Ist Lehmann-Grube von einer Sache überzeugt, bleibt er standhaft. Es ist eine Eigenschaft, die nur wenigen Politikern eigen ist. Ein Beispiel dafür ist die damals umstrittene Verlagerung der Leipziger Messe in den Norden Leipzigs. Er argumentiert, dass diese am alten Standort nicht konkurrenzfähig sei. Der Rat stimmt letztlich mit nur wenigen Gegenstimmen zu. Die Eröffnung des Neuen Messegeländes und des Congress Centers Leipzig bezeichnete er im Nachhinein als „schönsten Moment“ seiner Arbeit. Es gibt natürlich auch Rückschläge und Niederlagen. Kalt erwischt wird er Mitte der 1990er-Jahre von der Nachricht über den finanziellen Zusammenbruch der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB).

„LEIPZIG KOMMT!“ wird mehr als ein Slogan


Das Bad in der Menge liegt ihm nicht. Bei Dingen, die das Leipziger Selbstverständnis betreffen, hält er sich zurück. Aber er trägt wesentlich dazu bei, dass die Menschen Gestaltungskraft und Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit zurückgewinnen. „LEIPZIG KOMMT!“ wird in jener Zeit mehr als ein Slogan. Lehmann-Grube sieht es als besonderen Vertrauensbeweis an, dass die Leipziger ihn – trotz einer damals verbreiteten Anti-Wessi-Stimmung – am 26. Juni 1994 in direkter Wahl im Amt bestätigen.

Am 30. Juni 1998 wechselt Lehmann-Grube in den Ruhestand und lebt mit Ehefrau Ursula in einem Mehrfamilienhaus am Johannapark. Seine Nachfolge als Oberbürgermeister tritt am 1. Juli 1998 Wolfgang Tiefensee an, der zuvor als Lehmann-Grubes Stellvertreter sowie als Beigeordneter für Jugend, Schule und Sport tätig war. Am 14. Juli 1999 wird Hinrich Lehmann-Grube in Anerkennung seiner Verdienste zum Ehrenbürger ernannt. Quasi ein Ehren-Leipziger nicht durch Geburt, sondern weil er die Stadt prägt(e).

Der verdiente Politiker erliegt am 6. August 2017 auf der Palliativstation des St. Elisabeth-Krankenhauses in Connewitz einem Krebsleiden. 

Die Stadt organisiert jährlich ein Hinrich-Lehmann-Grube-Symposium, das dem Austausch zwischen Stadtverwaltung, Stadtrat und den kommunalen Unternehmen dient. Seit 28. Juli 2024 trägt eine Teilfläche des Roßplatzes den Namen des früheren Oberbürgermeisters.

Stand: 29.07.2024

Leder, Ronny Maik

Geologe, Paläobiologe, Museumsdirektor | geb. am 30. März 1977 in Ilmenau

Der moderne Mann trägt Hut. Das zelebriert Ronny Maik Leder regelrecht. Etwa, wenn der Direktor des Naturkundemuseums Leipzig Gäste zur Museumsnacht begrüßt oder den ehemaligen Bowlingtreff auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz als neues Domizil der Sammlungen präsentiert. Bis der einstige Freizeittreff als modernes Museum eröffnet, braucht es allerdings einen langen Atem. Den hat Leder wohl nicht immer. Oft ist er ungeduldig und möchte alle bürokratischen und finanziellen Hürden, die dem Mammut-Projekt in den Weg gelegt werden, schnell beiseite rücken. Doch der Wissenschaftler muss Zwänge hinnehmen. Nach jetzigem Zeitplan wird das Naturkundemuseum wohl frühestens 2029 am Wilhelm-Leuschner-Platz öffnen.

Bildergalerie - Leder, Ronny Maik

Ein Platz in der Champions League


Leder ist voller Leidenschaft und hartnäckig, wenn es um sein Ziel geht, dem Naturkundemuseum ein neues Zuhause zu geben. Das liegt wohl auch daran, dass er als Skilangläufer („Ich liebe Schnee!“) und begeisterter Rennradfahrer viel Ausdauer hat. Dem Naturkundemuseum will er einen Platz in der Champions League verschaffen und hat dafür auf Grundlage eines existierenden Masterplanes die Konzeption ausgearbeitet. „Seit ich das erste Mal im Naturkundemuseum war, sage ich, dass es mein großer Traum ist, dort zu arbeiten“, bekennt er.

Das macht er als Direktor seit dem1. Dezember 2016 – im alten Domizil in der Lortzingstraße am Goerdelerring. Geboren ist Leder 1977 im thüringischen Ilmenau. Aufgewachsen im Thüringer Wald zieht es ihn oft in die Natur. Mit den Eltern geht er Beeren und Pilze sammeln, stöbert in den Naturlexika seines Großvaters. Schon als Kind wird ihm klar, dass seine Zukunft etwas mit Naturkunde zu tun haben soll. An der Polytechnischen Oberschule setzt er sich energisch dafür ein, dass ein Molchteich renaturiert wird. Daraus entwickeln sich Projektwochen. Nach dem Abi am Professor-Carl-Fiedler-Gymnasium in Suhl studiert er an der Universität Leipzig in den Jahren 2000 bis 2005 Geologie und Paläontologie. Dort wird er auch als Studentenvertreter aktiv, organisiert Proteste, weil der Studiengang Geowissenschaften gekürzt werden soll.

Haie sind sein Spezialgebiet


Leder wird Mitarbeiter der Geologisch-Paläontologischen Sammlung der Universität Leipzig, die beispielsweise Fossilien aus Meeresablagerungen der Tertiärzeit im südlichen Leipziger Raum aufbewahrt. Bis 2014 arbeitet er dort und promoviert parallel als Paläobiologe, der ausgestorbene Organismen erforscht. Für seine Doktorarbeit zieht es ihn nach Washington in die USA – ans weltgrößte Naturkundemuseum, das Smithsonian. Leders Spezialgebiet sind Haie und die fossile Fischfauna. Der Wissenschaftler entwickelt neue Techniken für die Klassifizierung fossiler Haifischzähne. Auslöser für den Amerika-Aufenthalt ist eigentlich seine Frau Sabrina, die dort die US-Filiale einer deutschen Firma aufbaut.

Vor seiner Rückkehr nach Leipzig arbeitet Leder am „Florida Museum of Natural History in Gainesville“ (USA) als Post Doc und kurze Zeit auch als Assistenzprofessor. In den USA bleiben wollten Leder und seine Familie nie, obwohl er die dortige großartige Forschungsinfrastruktur sehr schätzt. Dort arbeitet er beispielsweise mit am Projekt idigbio, das die digitale Aufarbeitung der Sammlungsbestände vorantreibt. Doch er will zurück, seinen Traum für ein modernes Museum leben. Erfahrungen mit Museumsarbeit hat Leder da schon. Für das Museum der Westlausitz in Kamenz konzipiert Leder 2011/12 gemeinsam mit Jens Czoßek die Sonderausstellung „Tropenparadies Lausitz – Klimawandel im Tertiär“.

Neue Ausstellung soll ein Besuchermagnet werden


Für Leipzig hat Leder, der verheiratet ist und drei Kinder hat, buchstäblich einen „Rucksack voller Ideen“. Die Pläne für das neue Museum sind sehr ambitioniert. Der Museumschef will mit den wertvollen Sammlungen seines Hauses weit über die Stadtgrenzen hinaus ausstrahlen. „Es entsteht ein attraktives Haus, etwas völlig Neues. Ich glaube fest daran, es wird ein Besuchermagnet“, sagt er im Interview mit der
Leipziger Volkszeitung nicht unbescheiden. 

Wer sich die Konzeption anschaut, wird daran wohl wenig Zweifel haben. Leder hat für das Ausstellungskonzept mit seinem Team mehr als 400 Themenkomplexe entwickelt. So will er beispielsweise prähistorische Lebenswelten, die Kunst der Präparation sowie das beeindruckende Spektrum Leipziger Wissenschaftshistorie in verschiedenen Inszenierungen beleuchten. Ins Blickfeld gerückt wird die Tiefseeexpedition, die der Leipziger Zoologie-Professor Carl Chun 1898 mit dem Forschungsschiff Valdivia startet. Da gibt es spannende Exponate im Leipziger Museum. „Das Thema ist von hoher Attraktivität für die Besucher. Ich war überrascht, dass dies in Leipzig bisher wenig präsent ist.“ 

Moderne Tierpräparation rückt in Blickpunkt


Das neue Haus will ebenso an
Herman Ter Meer als Wegbereiter der modernen Tierpräparation erinnern. Selbstverständlich wird es dort Dioramen geben. „Es gibt optische Möglichkeiten, Dioramen sehr unterhaltsam zu gestalten, ohne den Bezug zur Historie zu verlieren“, blickt er voraus. Die Präparate Ter Meers gehören zu den Highlights der Leipziger Sammlung. Das Museum besitzt ebenfalls wertvolle Präparate, die Eduard Poeppig während seiner großen Amerikareise gesammelt hat. Eine Rolle spielt auch einer der Gründer des Museums, Emil Adolf Roßmäßler, der als Vater der Aquaristik gilt.

Erzählen will Leder außerdem die Geschichte des „Mammuts von Borna“. Das wird 1908 in einer Lehmgrube am Wyhra-Ufer entdeckt. Das nahezu vollständig erhaltene Mammutskelett wird schließlich von Ende 1909 an in der Prähistorischen Abteilung des Leipziger Museums für Völkerkunde zu Leipzig aufgebaut und ist dort bis zur Zerstörung in der Bombennacht vom 4. Dezember 1943 die Attraktion. Theoretisch könnte es dank moderner Technik rekonstruiert werden, der Leipziger Paläontologe Johannes Felix hat es einst millimetergenau vermessen. „Ich möchte das Skelett aber keineswegs rekonstruieren, sondern die Geschichte erzählen, wie die Reste im Bauschutt geborgen worden und letztlich in ganz Deutschland verstreut sind“, nennt Leder ein weiteres Beispiel. Für die Strategie der neuen Ausstellung wird das Naturkundemuseum bereits 2021 mit dem Sächsischen Museumspreis ausgezeichnet.

Neues Naturkundemuseum soll 2029 fertig sein


Das Museum sollte zunächst in die Halle 7 der ehemaligen 
Baumwollspinnerei ziehen. Doch der Stadtrat zieht die Notbremse, weil sich das Haus nach genaueren Untersuchungen nicht eignet und die Kosten für den Ausbau zu hoch sind. Im Oktober 2020 wird dann beschlossen, den ehemaligen Bowlingtreff als Museum auszubauen. Dabei handelt es sich um ein ehemaliges unterirdisches Umspannwerk, das 1986/87 zur Freizeitsportstätte umgeplant und um das Oktagon, ein achteckiges Eingangsbauwerk, erweitert wurde. Das Museum soll etappenweise bis 2029 öffnen, das Oktagon mit Räumen für die Verwaltung wahrscheinlich schon etwa früher. 

Leder lässt sich viel einfallen, um für die Sammlung zu werben. Er hatte auch die Idee für den Videopodcast „School’s out!?“, den das Naturkundemuseum Leipzig seit März 2020 produziert. Entstanden in der Corona-Schließzeit, richtet er sich hauptsächlich an wissbegierige Kinder und Jugendliche. Der Podcast ist aber auch geeignet, damit neugierige Erwachsene Inhalte vertiefen oder neue Forschungsgebiete kennenlernen können. Ronny Leder wird außerdem zum Honorarprofessor berufen. Vom Sommersemester 2025 an bildet er künftige Museologen an der Fakultät Informatik und Medien an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur aus

Stand: 13.05.2025

Gormsen, Niels

Architekt, Städteplaner, Baubürgermeister | geb. am 9. August 1927 in Rottweil; gest. am 10. Juli 2018 in Borna

In Leipzig bricht er wahrhaftig zu „neuen Ufern“ auf: Für Niels Gormsen ist nicht nur die von der Bürgerschaft initiierte Freilegung von Pleißemühlgraben und Elstermühlgraben eine Herzensangelegenheit. Schon im reifen Alter von 63 Jahren kommt der Stadtplaner von Mannheim an die Pleiße. Er folgt 1990 einer Bitte des neuen Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube, weil in Leipzig ein Dezernent für Stadtentwicklung gesucht wird. Nach seinen Ausscheiden aus der Stadtverwaltung bleibt Gormsen hier und vor allem aktiv. Bis ins hohe Alter hinein und allen körperlichen Einschränkungen zum Trotz nimmt er als wacher Zeitgenosse am städtischen Leben teil. Selbst im Krankenbett greift er noch zum Telefonhörer, um seine Meinung kundzutun. Viele Leipziger haben ihn in Erinnerung, wie er mit über 90 Jahren im „Rolli“ zu Veranstaltungen kommt. Und dort ab und an ein „Nickerchen“ macht.

Bildergalerie - Gormsen, Niels

Aus Niederlage wird eine Chance


Geboren wird der deutsche Architekt und Städteplaner in Rottweil. In Königsfeld im Schwarzwald besucht er das Gymnasium. Von 1951 bis 1958 studiert Gormsen Architektur an der Technischen Hochschule Stuttgart sowie an der Königlich-Technischen Hochschule Stockholm. In Stuttgart arbeitet er als Assistent am Lehrstuhl für Städtebau. Von 1962 bis 1972 leitet er das Stadtplanungsamt von Bietigheim/Württemberg. 1973 wechselt er zur Stadt Mannheim und übernimmt dort das Amt eines Baubürgermeisters. Er gilt als anerkannter Fachmann, die Kompetenz des Parteilosen ist über alle Parteigrenzen hinweg unbestritten. Oft wird er als „Baubürgermeister mit dem grünen Herzen“ bezeichnet. Dennoch wird er 1988 nicht wiedergewählt. Die SPD erhebt Anspruch auf den Posten, um ein Parteimitglied unterzubringen.

Doch aus dieser Niederlage wird eine Chance. Der neue Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube erfährt, dass in Mannheim ein fähiger Stadtplaner nach einer neuen Tätigkeit sucht und holt Gormsen 1990 an die Pleiße. Das wird zwar keine leichte Aufgabe. Gerade lief der legendäre Dokumentarfilm „Ist Leipzig noch zu retten?“ im DDR-Fernsehen, der ein eher düsteres Bild von der Messestadt mit vielen zum Teil unbewohnbaren Gründerzeithäusern und vielen maroden Bauten zeichnet. An der Rettung Leipzigs mitzuwirken, wird für Gormsen sowohl Herausforderung als auch ein großes Lebensglück. Mit seiner Erfahrung und viel Geschick versucht er Förderprogramme anzuzapfen, die in den Folgejahren die Sanierung eines Großteils des Denkmalbestands ermöglichen. Investoren geben sich in diesen Jahren im Neuen Rathaus buchstäblich die Klinke in die Hand, um beim Aufbau Ost mitzuwirken und freilich daran zu verdienen. Zu ihnen gehört auch ein gewisser Jürgen Schneider. Der Baulöwe, der später wegen seiner kriminellen Energie verurteilt wird, hat dennoch die Sanierung vieler Gebäude in Leipzig auf den Weg gebracht.

Gormsen ist stolz auf Projekte, die mit seiner Hilfe angeschoben und realisiert werden können. Etwa auf die neue Leipziger Messe, den Umbau des Hauptbahnhofs, das Paunsdorf-Center sowie die Initiative „Pleiße ans Licht“ mit seiner ehrenamtlichen Tätigkeit für den Neue-Ufer-Verein. Natürlich macht er sich in Leipzig nicht nur Freunde: Für „Keksrollen“-Eckhäuser und den Umbau des Hauptbahnhofs wird er damals von einigen beschimpft.

Der Höhepunkt eines Berufslebens


In seiner Amtszeit schafft er mit seinen Mitarbeitern wesentliche Grundlagen für eine geordnete städtebauliche Entwicklung der alten Messestadt nach der
Friedlichen Revolution. Leipzig beschert ihm, wie er einmal in einem Interview sagt, „den Höhepunkt des Berufslebens“. Die Stadt nennt er ein bisschen euphorisch „eine späte Liebe“. 

Nach der Pensionierung 1995 engagiert er sich für das Leipziger Neuseenland, eine Seenlandschaft, die anstelle früherer Tagebaue entsteht. Oft genug erhebt er seine Stimme, wenn wieder einmal in seinen Augen falsche Weichenstellungen im Städtebau gemacht werden. Und engagiert sich in durchaus spektakulären Aktionen, etwa um die Sprengung der Abraumförderbrücke im Tagebau Zwenkau zu verhindern und diese als Denkmal zu retten. Das klappt zwar ebenso wenig, wie der Erhalt der Kleinen Funkenburg. Interne Aufforderungen, sich als Ex-Stadtbaurat nicht öffentlich in Belange der Stadtentwicklung einzumischen, weist er zurück. „Ich bin ein freier Bürger“, sagt er. 2017 kritisiert er das Verfahren zur künftigen Gestaltung des Wilhelm-Leuschner-Platzes. In einem offenen Brief an Oberbürgermeister Burkhard Jung wirft er der Stadtverwaltung eine Missachtung des bürgerschaftlichen Engagements vor.

Bücher über den Wandel Leipzigs


Gemeinsam mit dem Fotografen 
Armin Kühne publiziert er Bücher über den Wandel Leipzigs. Gormsen hat die Idee, die sanierte Stadt, mit dem Zustand der Stadt zu seiner Amtsübernahme 1990 zu vergleichen. Kühne, der Leipzig seit Jahrzehnten fotografisch detailreich dokumentiert, hat dafür genau die geeigneten Bilder. Weil sich für den Erstling kein Verlag interessiert, finanziert Gormsen die erste Auflage des Buches privat. Später werden seine Bücher zum Verkaufsschlager des Verlages Edition Leipzig.

Gormsen selbst veröffentlicht ebenfalls Skizzenbücher. Seine künstlerische Ader als Architekt verwirklicht er in unzähligen Zeichnungen. Eine von der Kongresshalle am Zoo wird sogar das Logo des gleichnamigen Fördervereins. Und er organisiert „mit Schlips und Kragen“ Radtouren, die nahezu legendär werden. Nach dem Tod seiner Frau Traute, die in Mannheim lebte, heiratet er im Januar 2017 seine langjährige Leipziger Weggefährtin Hella Müller. Er ist Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender und Ehrenvorsitzender des Fördervereins Neue Ufer. Außerdem engagiert er sich als Ehrenvorsitzender der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung. Geehrt wird er sowohl mit dem Bundesverdienstkreuz als auch dem Verdienstkreuz des Freistaates Sachsen.

Vier Wochen vor seinem 91. Geburtstag stirbt er bei einem Krankenhausaufenthalt in Borna. Sein Nachlass befindet sich heute im Stadtarchiv Leipzig. Dabei handelt es sich um Skizzenbücher, Aufsätze, Vorträge, Briefe und Fotos, die von seiner Kreativität und seinem Engagement für die Stadt zeugen. Mit der Schenkungsurkunde wurde geregelt, dass der Nachlass erst nach dem 1. Januar 2029 öffentlich zugänglich und nutzbar sein wird, um private Belange der Familie und anderer Weggefährten zu schützen.

Stand: 17.12.2023

Fontana, Eszter

Musikwissenschaftlerin, Autorin | geb. am 21. April 1948 in Budapest

Für die Leipziger Notenspur hat sie gerade den Telemann-Soundwalk mitentwickelt, der im November 2023 präsentiert wurde: Eszter Fontana, die in Ungarn gebürtige Musikwissenschaftlerin, ist unermüdlich im Ehrenamt, um Leipzig voranzubringen. „Ich habe ein großes Herz, da passen viele rein“, sagt sie ein wenig schelmisch. Die Gesellschaft brauche das Ehrenamt, gerade jetzt. Jener Telemann-Soundwalk ist Bestandteil der Notenspuren-App, bei der der Schumann-Verein Leipzig und der Notenspur Leipzig e.V. mit dem Kulturamt der Stadt Leipzig kooperieren. Ziel ist es, interessierte Musikliebhaber auf die Spuren berühmter Komponisten und mit ihnen verbundener authentischer Orte zu schicken.

Bildergalerie - Fontana, Eszter

Das wiederum ist Professorin Fontana, die viele Jahre lang das GRASSI  Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig geleitet hat, sehr wichtig. Voller Leidenschaft kann sie erzählen, um Menschen die reichhaltigen Musiktraditionen Leipzigs nahezubringen. Sie spielt Cello, tritt mit dem Leipziger Lehrerorchester auf. Wichtig ist ihr ebenfalls das Projekt „Europäische Notenspuren“. Dafür hat sie die Ausstellung „Reisende Musiker“ sowie didaktisches Material für die Arbeit in Schulen entwickelt. Hintergrund: Künstler reisen viel von Auftritt zu Auftritt. Das war schon früher so, als es noch keine Flugzeuge und keinen Intercity gab. Clara Schumann beispielsweise hat pro Jahr – so hat sie ermittelt – bis zu 9.000 Kilometer zurückgelegt. „Mit der Kutsche! Das ist eine unglaubliche Leistung mit den Reisemöglichkeiten von damals“, gerät die Professorin ins Schwärmen. Ein wichtiger Antrieb, ob nun als Wissenschaftlerin oder Ehrenamtlerin, ist stets ihre Neugier.

Internationale Preise fürs Lebenswerk


Für ihr Lebenswerk wird sie 2021 von der renommierten Amerikanischen Musikinstrumenten-Gesellschaft mit dem Curt Sachs Award ausgezeichnet. Damit würdigt die Gesellschaft die herausragenden Leistungen der Professorin um die wissenschaftliche Erforschung von Musikinstrumenten. Geehrt wird sie 2013 von der Galpin Society in Oxford mit dem Anthony Baines Memorial-Preis. Seit 2004 ist sie zudem Vorstandsmitglied der Ständigen Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik, mittlerweile die Vizechefin. Zum Ehrenamt gehört auch die langjährige Präsidentschaft des Internationalen Verbandes der Musikinstrumentenmuseen.

Die in einer Musikerfamilie geborene Ungarin interessiert sich schon als Kind für alte Instrumente.1966 kommt sie nach Leipzig. Hier beginnt sie eine vierjährige Ausbildung als Restauratorin für Musikinstrumente am Musikinstrumentenmuseum in Leipzig. Nach dem Studium kehrt sie zurück nach Budapest, um am Ungarischen Nationalmuseum zu arbeiten. Dort leitet sie die Sammlung für Musikinstrumente und Uhren. Sie gibt auch Seminare für Restauratoren, Instrumentenbauer und Musikstudenten in Budapest. Fontana promoviert 1993 an der Franz-Liszt-Musikakademie ihrer Heimatstadt.

25 Jahre später kehrt sie zurück nach Leipzig, um ab 1995 als Direktorin das Musikinstrumentenmuseum zu leiten. Das wird eine spannende Zeit.

Die Aufgabe, die legendäre Sammlung konzeptionell ins neue Jahrtausend zu führen, neu zu erschließen und Personalprobleme zu lösen, bringt viel Arbeit. Wichtig ist ihr, die Sammlung einer breiten Bevölkerung zugänglich machen. „Ein Museum ohne Besucher ist kein Museum“ wird zu ihrem Credo. Das gelingt ihr zusehends, auch durch das von ihr entwickelte Klanglabor. Gemeinsam mit ihren Kollegen Eva-Maria Hoyer (Museum für Angewandte Kunst) und Claus Deimel (Museum für Völkerkunde) wird sie gar als Bauherrin aktiv, um die komplexe Sanierung des Grassimuseums am Johannisplatz voranzubringen. Dabei hilft ihr das technische Wissen, das sie schon als Restauratorin erworben hat.

Bei den „Wunderfindern“ für Kinder engagiert


Bis zu ihrer Emeritierung 2013 unterrichtet sie Organologie, Akustik und Paläographie an der 
Universität Leipzig. Nahezu zehn Seiten lang ist die Liste ihrer Bücher und Beiträge in Sammelwerken als Autorin, Co-Autorin oder Herausgeberin. Besonders stolz ist sie, dass das als Co-Autorin verfasste Fachbuch „Historische Lacke und Beizen auf Musikinstrumenten in deutschsprachigen Quellen bis 1900“ bereits in fünfter Auflage erscheint. Der Leipziger Musikgeschichte ist die Publikation „600 Jahre Musik an der Universität Leipzig“ gewidmet. Der Begräbniskapelle des Freiberger Domes heißt ein weiteres, ihr sehr wichtiges Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse bereits in zweiter Auflage publiziert sind.

Sie ist Gründungsmitglied des Notenspur Leipzig e.V., dort die Stellvertreterin von Werner Schneider. Eszter Fontana engagiert sich außerdem bei der Stiftung Bürger für Leipzig, vor allem beim Projekt „Wunderfinder“. Das kümmert sich mit einer individuellen Bildungspatenschaft darum, dass Kinder aus schwierigen Verhältnissen ihre Startchancen verbessern können. „Schon im Museum habe ich mich bemüht, Kindern altersgerecht Musik nahezubringen. Doch viele haben zu Hause kein Instrument oder keinerlei Berührung dazu“, erzählt sie. Auch in ihrer Heimat bleibt sie aktiv: Dort will sie mit einem Verein den ehemaligen Gasthof zum „Schwarzen Adler“ in Székesfehérvár (Stuhlweißenburg) vor den Verfall bewahren, damit dieser künftig wieder für vielfältige kulturelle Veranstaltungen genutzt werden kann.

Als Wissenschaftlerin sehr gefragt


Eszter Fontana genießt ihren Ruhestand, der alles andere als ruhig ist. Sie war bis 2002 mit einem Ingenieur verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter. „Langeweile kenne ich nicht“, sagt sie. Und als Wissenschaftlerin ist sie nach wie vor international gefragt. So leitet Fontana eine Forschergruppe mit 25 Menschen in ganz Europa, die den Lebensweg von
Paul de Wit (1852-1925) erforscht. Der Musikverleger und Sammler hat maßgeblich dazu beigetragen, den Grundstock für das Leipziger Musikinstrumentenmuseum zu legen. Das Team hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kenntnisse über Leben und Werk de Wits neu zu bewerten. Das Fachbuch soll im Dezember 2025 erscheinen.

Stand: 17.12.2023

Asisi, Yadegar

Panoramakünstler, Architekt, Hochschullehrer | geb. am 8. April 1955 in Wien

Ein Ehren-Leipziger ist er allemal: Yadegar Asisi, der in Berlin lebt und sein Atelier in Berlin-Kreuzberg hat, ist zumindest in Leipzig und Halle aufgewachsen. Und mit der Eröffnung seines 360-Grad Panoramas „Mount Everest“ am 24. Mai 2003 in einem ehemaligen Gasometer der Stadtwerke Leipzig begann für ihn eine ungeahnte Erfolgsgeschichte, die auf ewig mit der Messestadt verbunden bleiben wird. Im heutigen Panometer in der Leipziger Richard-Lehmann-Straße 114 läutet er die Renaissance eines Mediums aus dem 19. Jahrhundert – gepaart mit moderner Technik der Gegenwart – ein.

Bildergalerie - Asisi, Yadegar

Leipzigs Panometer bezeichnet Asisi stets als seine „Experimentierstube“. Von hier aus beginnt der Siegeszug für weitere Panoramen in Berlin, Lutherstadt Wittenberg, Dresden und Pforzheim. Auch im französischen Rouen zeigt er ein inzwischen geschlossenes Rundbild. Neue Standorte werden 2023 in Wien und 2024 in Konstanz eröffnen. Weitere Ideen will er in den nächsten Jahren umsetzen, solange es die Gesundheit zulässt, sagt er, und ist dabei immer für eine Überraschung gut.

Familie emigriert aus dem Iran


Seine Wurzeln hat die Familie Asisi im Iran. Yadegar wird während der Flucht der Mutter mit seinen vier älteren Geschwistern aus dem Iran nach Europa in der österreichischen Hauptstadt geboren. Sein Vater, ein kommunistischer Offizier, gehört zu jenen, die der Schah von Persien hinrichten ließ. Die Familie landet in der ehemaligen DDR, wo Asisi an der TU Dresden von 1973 bis 1978 zunächst ein Architekturstudium absolviert. Als Emigrant kann er die DDR verlassen und begibt sich für ein knappes Jahr in den Iran der Revolutionszeit. Ein Jahr später kehrt er nach Deutschland zurück, um bis 1984 an der Westberliner Hochschule der Künste (inzwischen Universität Berlin) ein Studium der Malerei zu beginnen. Und wird schließlich einer der ersten, die Zeichnen mit Architekturpräsentation kombinieren. Dabei kreiert er illusionistische Räume und wendet sich Rauminstallationen zu.

Seine künstlerische Berufung findet er im Panorama. Hier kann er seine Erfahrungen als Zeichner, Maler, Architekt und Erschaffer von Illusionsräumen bündeln. So entstehen 1995 vier Panoramen für Berlin, die im Zuge der Umgestaltung zentraler Orte wie Potsdamer und Pariser Platz, Alexanderplatz und Schlossplatz gezeigt werden. Die Idee: In Rotunden wird der Masterplan anschaulich, die Berliner können über die künftige Gestaltung ihrer Stadt mitreden. Es wird ein Erfolg und die Vision geboren, in seiner alten Heimatstadt Leipzig sein erstes 360-Grad-Bild mit etwa 3.500 Quadratmetern Bildfläche umzusetzen. Das Großpanorama „Everest“ zeigt den Berg, der auf Nepali Sagarmatha („Stirn des Himmels“) genannt wird, inmitten der majestätischen Hochgebirgslandschaft des Himalayas. Das Panorama war von 2003 bis 2005 und dann wieder in einer Neuauflage 2012/2013 im Panometer zu sehen.

Klare Position voller Demut und Menschlichkeit


Asisi verblüfft mit seinen überdimensionalen Panoramabildern nicht nur Millionen Besucher, sondern bezieht darin auch klare Positionen zu Menschlichkeit, Demut sowie politischem Fehlverhalten. Sein Antikriegs-Bild „New York – 9/11“ trifft auf viel Interesse – vor allem bei jungen Leuten, was ihn in seiner Arbeit bestärkt, wie er in Interviews betont. Das Bild gestattet als Momentaufnahme einen Blick auf die Stadt New York am Morgen des 11. September 2001. Es ist 08.41 Uhr, kurz vor den Attentaten – die Betrachter sind ebenerdig als Fußgänger auf den Straßen Manhattans unterwegs. „Wenn man auf diese Stadt schaut und weiß, dass sich die Welt in den nächsten fünf Minuten verändern wird – das ist überall und jederzeit gültig“, sagt er und nennt es: „Dieses absolute Gefühl, von jetzt auf gleich kann alles vorbei sein.“

Asisi will keine Antworten anbieten. Bevor die Besucher das Rundbild erreichen, passieren sie verschiedene Installationen, die sich mit den in den Folgejahren entstandenen Kriegen weltweit auseinandersetzen. So laufen sie über gezeichnete Striche auf dem Boden, die für die namenlosen Toten stehen. Denn es sind nicht nur jene bekannten 2.996 Menschen (inklusive der 19 Attentäter), die am 11. September 2001 sterben mussten und an deren Namen im New Yorker National 11 Memorial erinnert wird. Dem Künstler ist es wichtig, die oft vergessenen Seiten des Leids zu zeigen, zu dem der „Krieg gegen den Terror“ führt.

Asisi hat bis 2023 acht 360-Grad-Panoramen im Leipziger Süden präsentiert, etwa vier Millionen Ausstellungsbesucher mit seiner Kunst erreicht. Dabei erweisen sich Naturpanoramen als besondere Renner. Wie etwa „Carolas Garten“. Die Besucher nehmen dabei auf der 15 Meter hohen Plattform die Perspektive eines Insekts ein. Sie sehen eine gigantische Biene, die eine Kamillenblüte bestäubt und Nektar sammelt. So nutzt der Künstler neben Zeichnungen auch Bildmaterial aus Elektronenmikroskopie, Makrofotografie und Stacking-Technik.

Blick vom Kirchturm auf die Völkerschlacht


Dem Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig widmet Asisi das erste Leipziger Panorama: „Leipzig 1813“. Vor den Toren der wohlhabenden Handelsstadt kämpft 1813 mehr als eine halbe Million Soldaten um die Vorherrschaft in Europa, rund 100.000 Menschen sterben. Es ist aber nicht das heroisierende Schlachtengetümmel, das er zeigt. Diese Art von Darstellungen interessieren ihn nicht. Vom Turm der 
Thomaskirche aus eröffnet er dem Betrachter vielmehr einen Blick auf die Straßen der Innenstadt, auf Chaos und Gedränge im Moment einer der größten Niederlagen Napoleons (2013 bis 2015). Es wird ein Erfolg – der Leipziger Stadtrat diskutiert Jahre später, ob jene Szene künftig als Ausstellung in einer etwa 30 Meter hohe Rotunde auf der Alten Messe gezeigt werden kann. Das könnte das Völkerschlachtdenkmal als „martialisches Nationaldenkmal“ kritisch reflektieren. Asisi wäre dazu bereit – ein positives Signal von der Stadt steht aber aus. 

Was in den nächsten Jahren für Panoramen folgen, ist offen. Angekündigt ist die „Kathedrale von Monet“ – ein Panorama, dass die Franzosen in Rouen nahezu „ausflippen“ ließ: Dort thematisiert er die Errungenschaften der Malerei in der Epoche des Impressionismus. Ausgangspunkt ist dabei die Gemäldeserie von Claude Monet zur Kathedrale von Rouen aus den Jahren 1892 bis 1894. 

In den nächsten Jahren folgen weitere Panoramen, kündigt der 70-Jährige an. Bis Ende 2025 ist noch die „Kathedrale von Monet“ zu sehen. Asisi thematisiert dabei die Errungenschaften der Malerei in der Epoche des Impressionismus. Ausgangspunkt ist die Gemäldeserie von Claude Monet zur Kathedrale von Rouen aus den Jahren 1892 bis 1894. Ab Ende Januar 2026 will der Künstler ein 360-Grad-Panorama von der Antarktis zeigen.

Asisi gibt Zeichenkurse


Inzwischen hat er eine neue Leidenschaft entdeckt: Yadegar Asisi gibt Zeichenkurse und produziert Filme für die Reihe „Sehen & Gestalten“, die auf Youtube abrufbar sind. Dort redet er einmal pro Woche über das Zeichnen, seine Panoramakunst, die Gesellschaft, das Menschsein und die Herausforderungen unserer Zeit. Er macht Mut und ist positiv überrascht von den vielen Reaktionen und den Menschen, die ihm ihr Leben, ihre Ängste, ihre Wünsche, ihre Gedanken erzählen. „Zukunft denken“ ist ein Lebensmotto des Künstlers.

Stand: 14.05.2025

Historisches Bildmaterial - Asisi, Yadegar

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