Magirius, Friedrich

Theologe, Kommunalpolitiker | geb. am 2. Juni 1930 in Dresden

Friedrich Magirius ist einer der prominentesten evangelisch-lutherischen Theologen, die im Zuge des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs im Herbst 1989 in ein direktes politisches Engagement geradezu hineingezogen wurden und als besonnene Moderatoren der aufgeheizten, meinungsstarken Diskussion breiter bürgerschaftlicher Kreise besonders gefragt waren. Bis heute müsste sich jeder Veranstalter eines einigermaßen gewichtigen Dialogs in Leipzig die Frage gefallen lassen, wo denn Friedrich Magirius sei, falls er im Teilnehmerkreis nicht gleich entdeckt würde.

Karriere in der evangelischen Kirche


Friedrich Magirius kommt aus der Generation, die im jugendlichen Alter das Ende der NS-Diktatur und der Schrecken des Zweiten Weltkriegs miterlebt hat. Aufgewachsen in Radebeul in der bürgerlichen Familie eines Amtsgerichtsrats, erlebte Magirius im Februar 1945 den Untergang seiner Geburtsstadt Dresden im Bombenkrieg mit. 

Auf das Abitur folgte das Theologiestudium von 1948 bis 1950 an der Kirchlichen Hochschule Berlin-Zehlendorf in der Vier-Mächte-Stadt Berlin und von 1950 bis 1953 an der Universität Greifswald. Es folgten erste berufliche Positionen in Einrichtungen der evangelischen Kirche in Sachsen. In der weiteren Karriere des Theologen stehen seine Pfarrstellen zunächst ab 1958 in Einsiedel und anschließend an der Kreuzkirche in Dresden. Einfluss und Anerkennung erwarb sich Magirius in besonderer Weise als Leiter der Aktion Sühnezeichen in der DDR. Dieses Engagement wird bei den polnischen Nachbarn bis heute registriert und geschätzt.

1982 folgte der Wechsel nach Leipzig. Bis zum Erreichen des Pensionsalters 1995 wirkte Magirius als Superintendent des Kirchenbezirks Leipzig Ost. Von seiner Wohnung im Haus der Kirche am Nikolaikirchhof aus fiel sein Blick nicht nur ständig auf dieses Gotteshaus – Magirius nahm als Pfarrer der Nikolaikirche zusammen mit Christian Führer vor allem Einfluss auf die montäglichen Friedensgebete, die seit den frühen 1980er Jahren einen ständig steigenden Zustrom von Leipzigern erfuhren. Die aus heutiger Sicht völlig unspektakuläre Aufforderung „Nikolaikirche – offen für alle“, die als Blechschild an den Fahrradständer der Kirche montiert war, entfaltete damals eine außerordentlich mobilisierende Wirkung.

Die frühen 1980er Jahre waren eine aufgewühlte Zeit. Der Warschauer Vertrag im Osten und die NATO im Westen überboten sich als Speerspitzen der Systemkonfrontation beim Aufstellen von Mittelstreckenraketen, die atomar bestückt werden konnten und im Falle einer militärischen Auseinandersetzung von beiden deutschen Staaten nichts übriggelassen hätten. Vernunft war gefragt – ebenso wie das Herunterkühlen der politischen Temperatur.

Diplomatischer Theologe in der Nikolaikirche


Aus der konkreten Situation heraus, nahmen die Diskussionen in der Nikolaikirche im Verlauf der 1980er Jahre einen immer politischeren Charakter an. Oppositionelle, die gegen die verknöcherten Zustände in der DDR aufbegehrten, fanden hier den Diskussionsort, den sie sich wünschten und der sie in ihren Ansichten weiter bestärkte. Magirius, der zu den publizistisch immer wieder so titulierten „Kirchenoberen“ gehörte, war angesichts der aufgeheizten Situation ein gesuchter Ansprechpartner für diejenigen, die damals in Leipzig die Staatsmacht verkörperten und die aufflammenden Proteste immer weniger bändigen konnten. Ganz Theologe setzte Magirius auf Friedfertigkeit und Ausgleich, auf Diplomatie statt Konfrontation. Damit erzeugte er zugleich Widerspruch bei denjenigen Oppositionellen, die sich einen fordernderen Auftritt gegenüber den offiziellen Stellen wünschten. Denn, dass es weniger das Interesse am Gebet und theologischen Argument als vielmehr der hochkochende Hang zum Protest oder zur beabsichtigten Ausreise aus der DDR war, der montags die Nikolaikirche immer mehr füllte, sahen alle Beteiligten und Beobachter sehr schnell und eindringlich.

Aus dem Abstand von inzwischen über 30 Jahren und nach einem Sturzbach politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen ist die Unerbittlichkeit der Diskussion, die weiterhin anhält, erstaunlich. Immerhin war es Magirius‘ Diplomatie, die der Kirche Spielräume verschaffte und bewahrte, während die Frage spekulativ bleiben muss, ob eine härtere Konfrontation zwischen Oppositionellen und Staatsmacht den widerständigen Anliegen dienlicher gewesen wäre und zeitiger zu einem Umbruch wie dem Herbst 1989 geführt hätte. Es ist wohl eher so, dass Magirius viele derjenigen schützte, die ihn bis heute mehr oder weniger hart kritisieren. Magirius selbst äußerte öffentlich: „Als Christ sitzt man immer zwischen den Stühlen“.

Die Nikolaikirche als Institution und die beiden Pfarrer Magirius und Führer als Personen gerieten 1989 immer mehr in den Strudel des Umbruchs. Aus der Forderung „Wir wollen raus“ wurde das trotzige „Wir bleiben hier“, als sich kommende Veränderungen allmählich andeuteten. Zur Herbstmesse Anfang September 1989 bekamen die in Leipzig versammelten West-Korrespondenten diejenigen Aktionen und Motive vor die Linse, die einem staunenden Publikum in West und Ost verblüffende Eindrücke vermittelten: „Da braut sich was zusammen“.

Stadtpräsident in den Jahren des Umbruchs


Als der Umbruch bereits volle Fahrt aufgenommen hatte, stieg Friedrich Magirius zum Moderator des Leipziger Runden Tisches und damit zum Steuerer des Dialogs und des Verwaltungshandelns zwischen zurückweichenden alten und den drängenden neuen Kräften auf. Die Kommunalwahl im Mai 1990 brachte ein weiteres neues Amt für ihn. Er wurde Stadtpräsident, wie das die demokratische Kommunalverfassung damals vorsah, und damit für weitere vier Jahre der diplomatisch ausgleichende Steuerer der Stadtverordnetenversammlung mit ihren aufwallenden politischen Emotionen, während der neue Oberbürgermeister
Hinrich Lehmann-Grube von Amts wegen die Stadtverwaltung führte. Beide – der Theologe aus dem Osten und der versierte Verwaltungsjurist aus dem Westen – bildeten ein nahezu ideales Gespann, um die Geschicke der gesamten Stadt in dieser aufwühlenden Zeit ausgleichend zu lenken. 

Nach dem Ausscheiden von Friedrich Magirius entfiel das Amt des Stadtpräsidenten. Geblieben ist das Engagement des Hochbetagten. Der Ausgleich mit Polen in einem nimmermüden Dialog der gegenseitigen Verständigung ist ihm eine Herzensangelegenheit. In Leipzigs Partnerstadt Krakow genießt Magirius höchstes Ansehen. Daneben kümmert er sich engagiert um das Andenken ehemaliger jüdischer Bürger der Stadt Leipzig, die in den NS-Vernichtungslagern ermordet wurden. Wenn anlässlich des jährlichen Gedenktages an die Reichspogromnacht Stolpersteine vor ehemaligen Wohnstätten Leipziger Juden geputzt werden, ist Friedrich Magirius dabei.

Die Stadt Leipzig verleiht im Mai 2022 ihrem hochverdienten Bürger Friedrich Magirius die Ehrenbürgerwürde. Sie gilt einer Jahrhundertleistung.

Stand: 15.02.2022

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Kaufmann, Küf

Regisseur, Kabarettist, Schriftsteller | geb. am 6. Mai 1947 in Marx (Russische Föderation)

Küf Kaufmann ist ein Multitalent. Leitmotiv seines Wirkens ist die starke kulturelle Neigung. Richtschnur seines Handelns ist die Verankerung des jüdischen Lebens in der deutschen Gesellschaft. Ausrufezeichen seiner öffentlichen Äußerungen sind die Positionen in verschiedenen jüdischen Organisationen. Wenn es darauf ankam, hat er sich notgedrungen auch mit profanen Geschäften durchgeschlagen und seinen Lebensunterhalt verdient, um anschließend mit frischer Kraft durchzustarten und seinen wahren Ambitionen nachzugehen. Als Jude aus dem untergegangenen deutschen Siedlungsgebiet an der Wolga, der seit 1990 in der vereinigten Bundesrepublik lebt und wirkt, vereint Küf Kaufmann in seiner Persönlichkeit verschiedene jüdisch-russisch-deutsch-europäische Züge. Sie wirken integrierend, nie verwirrend.

Unterhaltsamer Realsozialismus


Als jungen Mann zog es Küf Kaufmann 1966 aus dem südukrainischen Melitopol, wo seine Familie inzwischen lebte, zum Regiestudium nach Leningrad an eine Fachhochschule für Kultur. Nach dem erfolgreichen Abschluss hieß seine erste berufliche Station Petrosawodsk, eine der unzähligen, mittelgroßen russischen Industriestädte, die aus der Perspektive der Metropolen immer nur als „Provinz“ durchgehen.

Doch dann folgte die Einberufung zum Wehrdienst. Weil der nicht-militärische Auftritt durch die Truppe stets einen wichtigen Teil ihres beflissen gepflegten Wahrnehmungs-Spektrums nach außen bildete, gab und gibt es dort manche kulturelle Aktivitäten. Für den nicht besonders groß gewachsenen Küf eine willkommene Gelegenheit, seine Neigungen auch als Uniformträger zu pflegen. 1971 avancierte er dank seines beruflichen Hintergrunds zum Regisseur des Gesangs- und Tanzensembles der Sowjetarmee in Leningrad. Viele, die zum Wehrdienst verpflichtet waren, können gut nachvollziehen, welchen Vorzug es bedeutete, eine kleine interne Flucht anzutreten und dem Dienst mit der Knarre durch einen Dienst mit der Gitarre auszuweichen.

Nach seinem Wehrdienst blieb Küf Kaufmann in Leningrad, wo er seinen Lebensunterhalt als freiberuflicher Mitarbeiter verschiedener Medien im Bereich Kultur verdiente. 1980 stieg er zum Regisseur der Leningrad Music Hall auf, der er zehn Jahre lang treu blieb. Da fanden sich zwei, die gut zusammenpassten. Küf Kaufmann ist ein Unikum, die Leningrad Music Hall nicht minder. Das Revuetheater in der liberaler wirkenden, „eigentlichen“ russischen Hauptstadt bot ständig jene Portion lässiger Unterhaltung, die Moskau oft schmerzlich vermissen ließ. Kein Wunder, dass sich Talente davon angezogen fühlten. Doch in jenen Jahren begann die Sowjetunion zu beben. Nicht genug damit, dass „Piter“, wie seine Einwohner stets liebevoll schwärmten, beim Namen in die Rolle rückwärts zu St. Petersburg einschwang, brachten die unruhigen Zeiten neben zarten fortschrittlichen Pflänzchen auch allerlei Reaktionäres und Chauvinistisches hervor. Menschen wie Küf Kaufmann drohte Gefahr.

Ausweg und Hoffnungspfad Bundesrepublik


Der Antisemitismus erlebte in der russischen Geschichte mehrere Konjunkturen – wiederkehrende beschämende Aufschwünge ebenso wie einigermaßen beschwichtigende Abschwünge. Als sich die Situation in der chaotischen Niedergangsphase der Perestroika am Übergang zu den 1990er Jahren wieder einmal gefährlich zuspitzte, kam Küf Kaufmann eine Verpflichtung nach Berlin, wo im Friedrichstadtpalast einen gemeinsame Revue einstudiert werden sollte, gerade recht. Nur ging ausgerechnet in dieser Zeit auch die Berechenbarkeit mancher Entwicklung im umbrechenden deutschen und Berliner Ostteil verloren. Während sich also Küf Kaufmann gerade hoffnungsvoll auf dem Weg an seinen neuen Wirkungsort befand, wurde der Intendant des Friedrichstadtpalastes, der ihn engagiert hatte, entlassen. Damit war zugleich die Neu-Anstellung des Regisseurs, der soeben seine Leningrader Verankerung gekappt hatte, hinfällig. 

Es soll ein wohlgemeinter Ratschlag während eines Ost-Berliner Barbesuchs in gedrückter Stimmung gewesen sein, der Kaufmann einen Ausweg und ein leidliches Auskommen als Handelsvertreter wies: Der just im deutschen Einheitsjahr 1990 aus Russland Eingetroffene schickte sich an, bald darauf unspektakuläre Lebensmittel an die eigenen Landsleute zu verkaufen, die sich per Vertrag in der Gegenrichtung, also nach Hause, aufmachen mussten. Ohne Käse, Wurst und Bier lief auch bei den illusionslos heimkehrenden Kriegern nichts.

Im Jahr darauf zog Küf Kaufmann nach Leipzig. Er versuchte sein Glück in der Gastronomie, verlor aber nie die Kultur aus dem Blick. 1997 – da war Küf Kaufmann längst ein überzeugter Leipziger – kam die Zeit für neue Regieaktivitäten. Sie prägten seine Arbeit sechs Jahre lang und sorgten für reichlich Publizität. Die profunde Kenntnis kultureller Themen, das apart rollende „R“ in jedem mündlichen Vortrag und selbstironisch eingestreuter jüdischer Humor formten eine Marke und eine feste Größe im reichlich gefüllten Leipziger Kulturkalender. Zusammen mit Bernd-Lutz Lange spielte Küf Kaufmann ab dem Jahr 2000 Kabarett. Das Programm „Fröhlich und meschugge“ schlug einen unterhaltsamen deutsch-jüdischen Bogen, nahm Eigenheiten und Befindlichkeiten auf’s Korn und schaffte den Spagat, einem historisch schwierigen Thema den wohl dosierten Witz abzugewinnen, ohne den gebotenen Ernst einer belastenden Vergangenheit zu übertünchen.

Aktiv für die Präsenz des jüdischen Lebens


Bei all dem gezeigten Talent zum ausgewogenen öffentlichen Auftritt lag es nahe, Küf Kaufmann im Jahre 2005 den Vorsitz der
Israelitischen Religionsgemeinde zu übertragen. Immer öfter war er im Ariowitsch-Haus, dem Leipziger Zentrum der jüdischen Kultur, anzutreffen. Lesungen und Diskussionen galt es, zu einem wirkungsvollen Programm zusammenzufügen. Für unersetzliche, teils stimmungsvolle, teils bedrückende Archivbestände mussten Wege in eine gesicherte Zukunft gefunden werden. Küf Kaufmann, der Rastlose, brachte sich überall im Geiste bestandskräftiger Lösungen ein.

Damit strahlt er seit Langem weit über Leipzig hinaus aus. Die Wahl zum Mitglied des Präsidiums des Zentralrats der Juden in Deutschland im Jahr 2010 war folgerichtig. Und über Küf Kaufmann als 209. Mitglied konnte sich der Richard-Wagner-Verband Leipzig freuen. Mitglied in diesem Verband trotz Wagners Schmähschrift „Das Judentum in der Musik“? Kaufmann ist ganz Diplomat; das Elaborat nennt er „blöd“, aber Wagners Musik findet er klasse.

Jüdisches Leben ist für Küf Kaufmann kein Museum, sondern „ein lebendiger und wachsender Teil der Gesellschaft“. Hinein ins jüdische Leben und hinaus in die Gesellschaft beschreibt eine erfolgreiche Doppelstrategie.

Nicht ignorieren lässt sich das fortgeschrittene Lebensalter vieler Gemeindemitglieder. Für das Fundament einer guten Zukunft gewann deshalb der Umgang mit dem Archivbestand der Israelitischen Religionsgemeinde besondere Bedeutung. Um den Verbleib im Keller des Ariowitsch-Hauses wurde fünf Jahre lang leidenschaftlich gerungen. Anfang 2022 setzte sich Küf Kaufmann mit seiner Lösung durch: Die Akten, Urkunden, Fotos und Pläne gelangten als Depositum in das Stadtarchiv Leipzig. Die Israelitische Religionsgemeinde behält die Verfügung darüber. Worüber er sich nach der gelungenen Übergabe der kostbaren Unterlagen an das Leipziger Stadtarchiv am meisten freuen würde, beantwortet Küf Kaufmann auf seine unnachahmliche Weise: „Wenn es gelänge, endlich den Krieg ins Archiv zu verbannen“.

Stand: 10.03.2022

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Mai, Karl Detlef

Tourismus-Innovator, Kultur-Manager, Ausstellungsgestalter,
geb. 3. Juni 1949 in Leipzig

Karl Detlef Mai hat der touristischen Erschließung des Leipziger Neuseenlandes einen starken Impuls gegeben. Als studierter Werbefachmann wandte er die Grundsätze der strategischen Kommunikation und der „heimlichen Verführung“ erfolgreich auf ein Gebiet an, von dem andere annahmen, dass es nur mühsam und zäh zu bewerben sei. Außerdem hütet er einen ererbten und zielstrebig vergrößerten Fotoschatz, dessen Wert mit dem Umbau der Stadt Leipzig, dem Landschaftswandel im Süden der Großstadt und der Tilgung von Spuren des jahrhundertelangen Bergbaus ununterbrochen steigt und sicher weiter steigen wird.

Vom Landschaftswandel angezogen


Der Einstieg von Karl Detlef Mai in die touristische Vermarktung der Braunkohleregion im südlichen Vorfeld von Leipzig besitzt zwei glasklare Koordinaten – AFB 17 und das Jahr 1997. Das Kürzel steht für die anfangs nur Bergleuten geläufige Abraumförderbrücke 17 und die Jahreszahl für den angestrebten und endlich erreichten Umschwung von aktiver Kohleförderung zum Umweltschutz und zur Gestaltung der Bergbaufolgelandschaften. Die AFB 17 im Tagebau Espenhain wurde 1997 gesprengt. Viele Aktivisten wollten wenige Jahre später den stählernen Koloss AFB 18 im Tagebau Zwenkau als technischen Zeugen für die Nachwelt retten – Bergbauspezialisten, Regionalpolitiker, Verfechter gelebter Industriekultur, Visionäre außergewöhnlicher Kunstprojekte. Die Entscheidung: Sprengung, aber mit Auflagen. Der Erinnerungsort Kap Zwenkau sollte entstehen. Mit Tränen in den Augen verfolgten auch 2001 nicht nur hunderte Bergleute aus sicherem Abstand das explosive Zusammensinken ihres einst verehrten, verfluchten, vertrauten, verklärten Arbeitsortes.

Bereits nach der Sprengung 1997 wusste Karl Detlef Mai – seit seinem Fernstudium an der Fachschule für Werbung und Gestaltung in Berlin von 1973 bis 1978 mit dem Instrumentarium der Branche bestens vertraut -, dass nicht nur die Bauwerke und Strukturen einer prägenden Industrieepoche verschwinden werden, sondern dass auch die intensive Umgestaltungsphase ein Verfallsdatum besitzt. Würde erst einmal buchstäblich Gras über den Abraumkippen wachsen und Wasser die Restlöcher der ausgekohlten Tagebaue füllen, wären auch die unmittelbaren Spuren des gigantischen menschlichen Eingriffs in die einstigen Naturräume einer neuen Ausformung gewichen. Wie die vielschichtigen Prozesse ablaufen – das sollten nicht nur viele Touristen als Zeitzeugen sehen und erleben, sondern auch Einwohner der Region, Schüler, Vereine, Fachleute und Journalisten. 

Der Mission Neuseenland verbunden


Tourismus – das sind doch attraktive Städte, wunderbare Landschaften und rauschende Festivals. Wer wollte daran zweifeln? Tourismus – das sind doch geschundene Landschaften, wüst staubende Feldwege und vor sich hin rottende Industrieareale – dachte Karl Detlef Mai und begann, in den fiebrigen, frühen 1990er Jahren die Braunkohleregion südlich von Leipzig für Besucher zu erschließen. Dieses Verdienst strahlt Wirkmacht bis heute aus. 

1992, da dominierte der aktive Bergbau weithin, unternahm Mai mit seinen Gästen unter den Fittichen eines erfahrenen Bergmanns eine erste Befahrung dieser verflochtenen Großstrukturen aus Schaufelrädern, Abraum- und Kohlezügen, hämmernden Brikettpressen und rauchenden Kraftwerken. Das klappte nur mit Sondergenehmigungen, die später mit MIBRAG, LMBV und weiteren Partnern vertraglich geregelt waren.

1998 startete Rundum Leipzig – Mai-Regio Tour. Inhaber Karl Detlef Mai hatte sich endgültig als Reiseveranstalter und Gästeführer etabliert. Bewusst richtete er in dem als ökologischen Katastrophenort gescholtenen Dreiskau-Muckern sein Besucherzentrum mit Ausstellung, Cafe und Shop ein. War es Katastrophentourismus mit Gruseleffekt? Eine solche Zuschreibung weist Karl Detlef Mai von sich. Denn um eine unkritische Zurschaustellung komplizierter bergbaulicher und technischer Abläufe ging es nie. Genetisch verwoben mit den Touren war immer der ökologische Aspekt, die aktive, tätige Rückgewinnung einer entstellten Landschaft und ihr engagierter Schutz für die heutige und für kommende Generationen. 

Wer da nicht alles kam und den Fortschritt auf Europas größter Landschaftsbaustelle konkret erleben wollte – Minister im Hubschrauber-Rundflug, Journalisten mit Themen-Instinkt und Expeditions-Attitüde, Touristen in Reisebussen oder in Geländewagen, Studenten entsprechender Fachrichtungen mit ihren Professoren auf Fußmärschen, Besucher auf den ersten Ausflugsschiffen, sobald die steigenden Wasserspiegel in den neuen Seen informative Kreuzfahrten ermöglichten. Immer vornweg: Karl Detlef Mai.

Apropos: Was früher Kohleregion hieß und in der Frühphase des Umbruchs flugs als Südraum Leipzig verortet wurde, brauchte eine touristische Marke mit Wiedererkennungswert. Leipziger Neuseenland – das war es, und das ist es. Mehrere Politiker drängten mit dem griffigen Wortspiel als die eigentlichen Schöpfer ins Rampenlicht. Karl Detlef Mai lächelte dann immer weise. Er kennt die wahre Geschichte des Begriffs Leipziger Neuseenland, besteht aber keineswegs auf fruchtlosen Urheber-Disputen, woher der Name kam und wer ihm zu Markenwert verhalf… 

Phönix-Touren mit Bergbau-Picknick fanden bis 2014 über 2.500 Mal statt und erreichten rund 140.000 Teilnehmer. Im Jahr 2002 zog sich ein legendärer Korso mit sieben Reisebussen entlang der neuen Uferlinien. Weil letztlich alle Teilnehmer den Inspirator und Organisator Karl Detlef Mai einmal aus der Nähe kennenlernen wollten, half nur, den umtriebigen Gästeführer an Aussichtspunkten zu erleben oder auch in einen weiteren Bus umsteigen zu lassen. Die Erläuterungen gab es auch schon zwischen zwei Bussen in Live-Übertragung. 

Dem Erbe verpflichtet


Mit dem Erreichen des Rentenalters gab Karl Detlef Mai 2014 sein Unternehmen an eine Nachfolgerin ab. Damit gewann er Zeit, seine seit 1980 betriebene Fotothek Mai Leipzig weiter zu systematisieren und zu erschließen. Der Grundstock dieses Foto-Universums geht auf den Vater Karl Heinz Mai zurück, der mit einer schweren Behinderung aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt war und mit nimmermüder Energie zum Foto-Chronisten des Alltags seiner Heimatstadt Leipzig vor allem in der schweren Nachkriegszeit aufstieg. Sein Handicap, stets nur aus der eingeengten Perspektive des Rollstuhlfahrers fotografieren zu können, wandelte sich zu einer kreativen Herausforderung, und Bildband-Gestalter, Ausstellungs-Kuratoren und Kalender-Layouter sind bis heute erstaunt und begeistert, welche außergewöhnlichen Motive Karl Heinz Mai dabei fand und erschloss. 

Dem Sohn Karl Detlef Mai ist es zu verdanken, dass sich die historische Authentizität Leipziger Geschichtsabhandlungen und die Suche nach dem besonderen Bild für geplante Ausstellungen mit Fotos, die sein Vater angefertigt hat, und mit aktuellen Bildern, die weiterhin in die Fotothek aufgenommen werden, trefflich untermalen lässt. Wer irgendwann einmal in die Verlegenheit kam, ein verbal beschriebenes Ereignis mit einem wertvollen zeitgenössischen Foto illustrieren zu müssen, wird den Ideenreichtum und die rastlose, zügige Hilfsbereitschaft von Karl Detlef Mai noch jahrelang wertschätzen und loben. Und Bücher, die noch nicht auf dem Markt sind, deren Zeit aber gekommen ist, macht Karl Detlef Mai am liebsten selbst.

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Hoyer, Eva Maria

geb. 1950 in Chemnitz

Im Jahre 1992 war der Posten an der Spitze des im Grassimuseum beheimateten GRASSI Museum für Angewandte Kunst neu zu besetzen. Der Wechsel besaß zwei bemerkenswerte Dimensionen: Ausgewählt wurde niemand „von drüben“, wie das zu jener Zeit auf fast jeder erdenklichen Position geschah, und ausgewählt wurde eine Frau, was damals ebenfalls noch kein Normalfall war. Eva Maria Hoyer gestaltete und lenkte die Geschicke des Museums anschließend bis zu ihrem planmäßigen Ruhestand im Jahre 2015.

Die Kunst der riesigen Bauaufgabe


Das Grassi ist kein Museum wie jedes andere. Geschenkt, dass wohl jeder Museumsdirektor diesen Satz für „sein“ Haus allein schon marketingtechnisch unterschreiben würde. Doch das Grassi lebt von einer Ballung an Exzellenz, die ihresgleichen sucht. Eröffnet 1874 in der blutjungen Großstadt Leipzig als zweites Kunstgewerbemuseum Deutschlands, umgezogen 1929 in den herausragenden Neubau am Johannisplatz, schwer getroffen 1943 im beginnenden Bombenkrieg, provisorisch 1954 in Teilen wieder eröffnet, hart erwischt 1981 von einer Havarie der Heizungsanlage, auf Interimslösungen angewiesen bis in das frühe 21. Jahrhundert, war das Museum eine einzige Baustelle, als Eva Maria Hoyer die Leitung übernahm. Sie wusste genau, worauf sie sich einließ und was sie wollte: Die wertvollsten Teile des Museumsbaus erneut herstellen. Die Grassimesse als eine der ersten deutschen Museumsmessen wiederbeleben und zielstrebig für den Ankauf neuer, wertvoller Stücke mit kunstgeschichtlichem Potential nutzen. Den Rang des Museums weit über Leipzig hinaus wieder zum Strahlen bringen. 

Eva Maria Hoyer kannte das Haus, als dessen Chefin sie fortan wirkte. In ihrer Vita waren die Jahre zwischen 1975 und 1977 mit dem Einstieg als wissenschaftliche Mitarbeiterin im damaligen Museum für Kunsthandwerk angefüllt. Dann legte sie noch einmal einen planmäßigen Rückschwung in die akademische Sphäre ein. Wissenschaftliche Aspirantur – das hieß terminlich streng umrissene drei Jahre intensiver, konzentrierter intellektueller Arbeit mit der Promotion als krönendem Abschluss. 

Der Elan der energischen Direktorin


1990, das Jahr, das die deutsche Einheit bringen sollte, war gerade einmal zwei Tage alt, als Eva Maria Hoyer als stellvertretende Direktorin in das Museum zurückkehrte. Zwei Jahre später war sie Chefin des Hauses. 

Eine Menge Phantasie und ungeheurer Wille gehörten dazu, den Bau und seine gesammelten Schätze rundum aufzuwerten und wieder strahlen zu lassen. Dabei – um diesen etwas plakativen Vergleich zu bemühen – war die Herausforderung des beharrlichen Aufstiegs keine geringere als der Vormarsch in höhere Ligen im Fußball, der auf seinem Gebiet allerdings das grellere öffentlichere Scheinwerferlicht genießt. Aber so hart erkämpft wie im Leistungssport war der Aufstieg des Museums allemal. Und die Triebkraft dahinter musste ebenso ehrgeizig agieren. Eva Maria Hoyer schrieb Bauanträge über Bauanträge, sie verbrachte viel Zeit in Gremiensitzungen, wo über Fördergelder befunden wurde, während sie sich doch viel lieber den wertvollen Ausstellungsstücken gewidmet hätte, die tief in den Museumsdepots und fern der Öffentlichkeit vor sich hin schlummerten. Doch ohne den Verwaltungskram und ohne eine perfekte Vernetzung mit allen Facetten des Leipziger Kulturbetriebs hätten die Museumsschätze wohl eine Dauer-Verbannung in dunkle Aufbewahrungs-Verliese erdulden müssen. Eva Maria Hoyer kämpfte dort, wo beharrlich gekämpft werden musste. 

Zwei Kleinode, die Besucherscharen heutzutage in das Grassimuseum ziehen und begeistern, gab es im Jahre 1992 noch nicht wieder – die Pfeilerhalle im spektakulären Art deco und die Josef-Albers-Fenster im Treppenhaus, das größte flächige Glasobjekt mit Bauhaus-Bezug, ein in außergewöhnlichen Farbtönen changierendes, streng geometrisches Kunstwerk.

2005 fand nach langen interimistischen Jahren die Wiedereröffnung des renovierten Hauses statt. 2007 schließlich erhielt die Öffentlichkeit das Museum für Angewandte Kunst zurück. Eva Maria Hoyer verbreitete einen ansteckenden Stolz, der auf die gesamte Festversammlung übersprang, und Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker soll der Direktorin bei dieser Gelegenheit zugeraunt haben: „Das habt ihr gut gemacht.“ Gleichwohl dachte die Chefin weiter und schrieb in den neuen Museumsführer: „Das begrenzte Baubudget ließ … bisher noch nicht die Wiederherstellung aller einst das Gebäude auszeichnenden Details zu.“ Wäre das Budget nicht halbiert worden, hätte die Sanierung die Handschrift von David Chipperfield getragen und dem Haus die ersehnte Prise Globalität verschafft. In der Europaliga der Museen spielte es bereits. Die Ostdeutsche Sparkassenstiftung und die Sparkasse Leipzig erhörten den fein dosierten Ruf nach einem gelingenden Finale, und seit 2012 zieren nun auch die wiederhergestellten Josef-Albers-Fenster das Museum. Drei Jahre später rundeten die Art-deco-Treppenhausleuchten das wertvolle Ensemble stimmig ab.

Die Auferstehung des Museums für Angewandte Kunst, seine Aufnahme in die höchst ehrenwerte Liste national bedeutsamer Kultureinrichtungen in Ostdeutschland und das unermüdliche Wirken von Eva Maria Hoyer – das sind drei Handlungsstränge, die eng miteinander verwoben sind. Die Zeiten waren günstig für den Aufbruch, und das Museum profitierte nachhaltig davon, dass diese Direktorin zur rechten Zeit an seiner Spitze stand und die sich bietenden Chancen nutzte.

Die Klasse, Klasse zu zeigen


Eva Maria Hoyer strahlte ständig eine charmante Strenge aus, was bedeutete, dass jeder, der zu ihr mit einer Frage oder einem Interviewwunsch kam, sein Ansinnen gut begründen musste. Gelang das nicht, machte die Angesprochene auf unnachahmliche Art deutlich, dass da wohl eine gewisse Distanz in den persönlichen Ansprüchen des Fragenden und der Gefragten bestehe. Wem Selbiges absichtsvoll widerfuhr, dem brannte sich solch ein Erlebnis für immer ein. Natürlich funktionierte das Muster der Dialogführung auch auf die entgegengesetzte Weise. Sobald es auf einer Wellenlänge funkte, folgten inspirierende, im Idealfall lange Gespräche mit bleibendem Gewinn für beide Seiten. Bereitete der Austausch begründeter Argumente ihr Freude, ließ Eva Maria Hoyer auch das jeden Gast deutlich – und höchst charmant – spüren. 

Im Ruhestand ist Eva Maria Hoyer weit davon entfernt, ihre Privatwohnung in eine Museumskopie zu verwandeln. Das eine oder andere Designobjekt darf es durchaus sein – mehr aber nicht. Die Spuren, die sie professionell hinterließ, sind im Museum für Angewandte Kunst zu besichtigen, und darauf kommt es an.

Bildergalerie - Hoyer, Eva Maria

Historisches Bildmaterial - Hoyer, Eva Maria

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