Wolf, Thorsten

Kabarettist, Schauspieler, Regisseur | geb. am 2. Februar 1965 in Leipzig

Deutschlandweit bekannt wird er als Tierpfleger Conny Weidner. Das ist die gute Seele des Zoo Leipzig in der ARD-Fernsehserie „Tierärztin Dr. Mertens“. Kabarettist und Schauspieler Thorsten Wolf bietet sogar Filmführungen an seine Drehorte an, etwa in den Wildpark Leipzig oder ins historische Stadtbad. Vor der Kamera steht er auch für andere Projekte, darunter mehrmals für den „Polizeiruf 110“ oder in die MDR-Serie „In aller Freundschaft“. In der Musikalischen Komödie ist er als Frosch in der „Fledermaus“ zu sehen. Für ihn ein Ritterschlag, wie er sagt. Das eigene Kabarett, die Leipziger Funzel in der Strohsack-Passage in der Nikolaistraße, hat er im Oktober 2023 allerdings geschlossen.

Geboren wird Thorsten Wolf am 2. Februar 1965 in Leipzig. Er wächst in Connewitz auf, geht dort in die Karl-Jungbluth-Oberschule in der Bornaischen Straße. Geprägt hat ihn, wie er sagt, das Kiez-Kino UT Connewitz in der Wolfgang-Heinze-Straße, wo er unzählige Filme gesehen hat sowie der Eckladen „Die süße Anna“ am Spielplatz Herderplatz, wo er viel Lutscher und Lakritze kaufte. Viele Jahre habe er in der Hildebrandstraße, später in der Prinz-Eugen-Straße gewohnt. Ein „Südstaatler“, wie er betont.

Ein komisches Talent fürs Kabarett


Nach der Schulzeit erlernt er den Beruf eines Klempners und Sanitärinstallateurs im damaligen Bau- und Montagekombinat Süd. Doch es drängt ihn zur Bühne. Deshalb macht er ab 1984 zunächst beim Amateurkabarett „Baufunzel“ des Betriebes mit, welches aus den „Büroklammern“ hervorgegangen ist. Von 1987 an tritt die „Baufunzel“ öffentlich in Klubs und Klubhäusern auf, darunter in der „Nelke“ in
Grünau, im BMK Süd (heute Amtsgericht) sowie im „Klubhaus der Freundschaft“. Wolf selbst wird rasch zum führenden Kopf des Betriebskabaretts, das als Volkskunstkollektiv, wie es damals heißt, zahlreiche Preise gewinnt. Er ist ein geselliger Typ und liebt es, sein komisches Talent auszuleben.

Nach der Friedlichen Revolution wird das Ensemble freiberuflich tätig. Es gibt sich den neuen Namen Kabarett „Leipziger Funzel“. Das Logo, darunter die Banane, entwickelt Reiner Schade. Und Thorsten Wolf – damals 26 – wird jüngster Theaterdirektor Ostdeutschlands. Das erste Gastspiel in den Westen führt 1990 in Leipzigs Partnerstadt Hannover.

Die eigene Bühne in der Strohsackpassage


Ab 1992 hat das Ensemble seine Spielstätte in der Nikolaistraße 12-14 im Haus
„Zum Rosenkranz“. 1997 bezieht die „Leipziger Funzel“ ihr eigenes Domizil in der Strohsack-Passage. Es beginnen aufregende Zeiten, mit vielen Höhen und Tiefen. Die Vorstellungen sind erfolgreich. Viele bekannte Gaststars aus der Kabarett- und Comedyszene kommen gern zu Gastspielen. Für viele, wie Götz Alsmann, Dieter Nuhr, Karl Dall oder Hella von Sinnen wird es ein Test, wie sie beim Publikum im Osten ankommen. Ein Tiefschlag ist der Tod des Bruders Tobias, mit dem er einst das Kabarett-Theater als Familienunternehmen aufgebaut hat.

Am 31. Oktober 2023 ist Schluss – das Kabarett wird geschlossen. Das ist das Ergebnis langer Überlegungen aus Altersgründen und „aus unternehmerischer Verantwortung“, wie er sagt. Wolf favorisiert einen geplanten Abgang mit Applaus, will nicht mit einem überalterten Ensemble nebst Publikum zugrunde gehen. „Ensemble-Kabarett funktioniert nicht mehr so gut wie früher“, sagt er. „Das Publikum möchte derzeit lieber Gastro-Events, Dinnerbuffets und Brunchshows.“ Das wiederum ist nicht unbedingt Wolfs Ding. Zudem sei der Mietvertrag ohnehin ausgelaufen.

Der Keller in der Strohsack Passage ist längst geräumt. Viele der über Jahrzehnte angesammelten Devotionalien haben über den Flohmarkt neue Besitzer gefunden. Selbst die Bürste seines Klomanns Willi hat der Funzel-Chef versteigert.

Mit der Kneipe „Dr. Faustus“, dem Nachfolger der „First Whisk(e)y Bar“, ist noch ein Stückchen der alten „Funzel“ erhalten geblieben. Ebenso der Kabarett-Stammtisch mit etwa 26 Mitarbeitern. Neben den vielen Terminen in der Leipziger Kulturszene gibt es für Thorsten Wolf immer noch genug zu tun. Nicht nur im Fernsehen. 2025 übernimmt er Regie für das neue Programm „Harakiri to go“ der Leipziger Pfeffermühle. Angebote, eigene Solo-Programme aufzulegen, lehnt er bislang ab. Er will nicht mehr, wie in den vorangegangenen 35 Jahren, viele Abende über einen längeren Zeitraum auf der Bühne stehen. „Wenn Not am Mann ist, springe ich aber zeitlich begrenzt ein.“ Vor allem als Regisseur.

Seine Leidenschaft ist das Reisen


Der gebürtige Leipziger, der Tiere und die Natur liebt, lebt seit 2012 in Taucha. Deshalb ist die Rolle des Cheftierpflegers in der ARD-Fernsehserie ihm auch wie auf den Leib geschrieben. Auf die Tierszenen bereitet er sich akribisch vor. Auf zahlreichen Reisen hat er viele Tierarten auch schon in ihrem natürlichen Umfeld erlebt, etwa die Gorillas in Uganda. Thorsten Wolf ist gern unterwegs, um andere Länder und Menschen kennenzulernen.

Bislang hat er 134 Länder bereist, wie er nicht ohne Stolz sagt. Und auch Vorträge darüber gemacht. Die nächsten Ziele, etwa Südgeorgien und die Falkland-Inseln mit den Kaiserpinguinen, stehen fest. 2026 ist ein Projekt „Wolfsgeheul“ über sein Leben als Schauspieler mit vielen Anekdoten im Central Kabarett Leipzig geplant. Ein Team hat ihn zudem über ein Jahr lang begleitet, um einen Dokumentarfilm zu drehen. In seiner Freizeit ist Wolf leidenschaftlicher Skatspieler, darunter auch Ehrenvorsitzender bei den Muldenperlen in Grimma. Nach wie vor ist er beratend tätig, wenn es um Kulturförderung in Leipzig geht.

Stand: 21.02.2025

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Wagler, Silke

Modedesignerin, Schneiderin | geb. am 4. Dezember 1968 in Leipzig

„Mode ist vergänglich. Stil bleibt“ – dies können vorbeifahrende Bootsfahrer auf dem Elstermühlgraben am ehemaligen Kutscherhaus lesen, in dem eine der bekanntesten Modedesignerinnen Leipzigs ihr Atelier betreibt. Silke Wagler verbindet in der Käthe-Kollwitz-Straße 61 die Handwerkstradition des Maßschneiderns mit zeitgemäßem Design. Seit 1990 ist Wagler, die ihr Handwerk in den Theaterwerkstätten des Leipziger Schauspielhauses erlernt, mit ihrem Label Silke Wagler Couture erfolgreich. Das Atelier entwirft individuelle und maßgeschneiderte Mode. Dazu gehören Abendkleider und Festgarderobe für Damen und Herren ebenso wie der klassische Herrenanzug sowie Brautmode und Bühnengarderobe.

Geboren wird Silke Wagler am 4. Dezember 1968 in Leipzig und wächst zunächst in Lindenau, später dann in Wahren in Nähe des Auwaldes auf, besucht die Schule in Stahmeln. Ihre Eltern stammen beide aus dem Erzgebirge. Schon die Mutter näht viel und gern, der Vater ist Textilingenieur in einer Forschungsabteilung des Volkseigenen Betriebes Baumwollspinnerei. So gesehen wird Silke Wagler die Liebe zur Schneiderei in die Wiege gelegt. Nach der Schule will sie eigentlich Kostümbildnerin werden. Die junge Frau macht das, was sie am besten kann: Schneidern, Nähen, Sticken. Das Hobby wird zum Beruf. Sie beginnt eine Ausbildung zur Herrenmaßschneiderin bei den Leipziger Theaterwerkstätten.

Eine Karriere im eigenen Unternehmen hat sie damals nicht im Blick. Gleich nach der Wende rät ihr ein Freund, der Galerist Gerd Harry „Judy“ Lübke: „Mach dich doch selbständig, mehr als schiefgehen kann es nicht.“ Ausgerüstet mit einigen alten Nähmaschinen ihrer Mutter eröffnet sie an ihrem 22. Geburtstag schließlich einen Laden im Leipziger Osten. Es ist das „East End“ in der Schulze-Delitzsch-Straße. Dort wohnt sie damals in einem besetzten Haus. Der Laden ist ein Lager, in dem sie auch Mainelken und „sozialistische Winkelemente“ vorfindet. Die verwendet sie später für ihre Kollektion zur ersten Modemesse „Demoschick“ im Ring-Messehaus.

Ein Gegenentwurf zur Massenkollektion


In Leipzig hat sie während der
Friedlichen Revolution gegen die Wut und für die Freiheit demonstriert. Später dann auch für ein vereinigtes Deutschland. „Viele Menschen haben Leipzig nach der Wiedervereinigung den Rücken gekehrt. Das hat bei mir eine Trotzreaktion ausgelöst“, sagt sie in einem Interview. Konkurrenz gibt es kaum. Viele Westler haben den Ostdeutschen damals keinen Geschmack zugetraut. Die großen Ketten übernehmen den Handel und bringen oft den Ramsch mit, den sie im Westen nicht loswerden. Silke Wagler will aber nichts von der Stange, vielmehr ihre eigenen Kreationen entwerfen. Und bietet einen Gegenentwurf zur Massenkonfektion an.

Von „East End“ – sicherlich damals nicht die beste Adresse für Mode – geht es weiter in die Jahnallee, später zusätzlich in Specks Hof. Beide Geschäfte vereint sie schließlich und zieht im Jahr 1999 an den Thomaskirchhof. Dort eröffnet sie das „Modeatelier Silke Wagler Couture“, das schnell stilbewusste Menschen anzieht. Die Kunden kommen aus Leipzig, Wien, Zürich und New York. Schauspieler, Politiker und Geschäftsleute sind dabei. Eine der bekanntesten Kundinnen ist die Verlegerin Friede Springer.

Zum 30. Firmenjubiläum im Jahr 2020 scheint alles vorbei zu sein. Corona und der Lockdown haben die Gesellschaft fest im Griff. Plötzlich gibt es keine Hochzeiten, keine Bälle, keine Feste und Empfänge mehr, bei denen stilvolle Abendgarderobe gefragt ist. Auch der Opernball, für das Geschäft der Höhepunkt im Jahr, wird abgesagt. Im Geschäft stehen plötzlich heulende Bräute und Abiturientinnen, erzählt sie, die plötzlich nicht mehr zum Ball dürfen. Auch Silke Wagler ist zum Heulen zumute. Plötzlich will niemand mehr Abendroben oder Fracks für diverse festliche Anlässe. Aber sie gibt nicht auf.

Corona bringt Aus für Atelier am Thomaskirchhof


Sie stellt ihr Geschäft rigoros um. Im Atelier werden nur noch Schutzmasken gefertigt – aus Stoff. Modelle aus dunkelblauem Brokat werden bis nach Mallorca und Österreich geliefert. Für die Stadt Leipzig näht sie jetzt 1.000 Schutzkittel. Das größte Risiko bleibt jedoch die Miete für den 220 Quadratmeter großen Laden in bester Citylage. Die Modemacherin muss im Dezember 2020 ihr edles Atelier am Thomaskirchhof räumen. Sie zieht zunächst in ein Interim in der Berliner Straße, nimmt Corona-Hilfen in Anspruch und schafft es, dass ihr Lehrling die Ausbildung bei ihr beenden kann.

Mit der Rückkehr gesellschaftlicher Ereignisse nach Corona geht es wieder aufwärts. In der Käthe-Kollwitz-Straße 60, einem ehemaligen Kutscherhaus, werden Räume frei. Die sind zwar kleiner als im früheren Atelier, aber mit inspirierendem Blick ins Grüne und auf vorbeifahrende Boote auf dem Elstermühlgraben. Statt acht Mitarbeitern sind jetzt nur noch drei an Bord. Steve Rosenstock, den Silke Wagler im August 2024 heiratet, unterstützt sie dabei. Der Betriebswirtschaftler, der zuvor Start-ups fit macht, und die Künstlerin stellen das Unternehmen nun gemeinsam komplett neu auf.

Unikate sind auf Kunden zugeschnitten


Mittlerweile gibt es drei klare Produktlinien: Im Bereich Couture bietet sie Meisterwerke, von denen es jeweils nur ein Exemplar gibt. Im Bereich Prêt-à-porter entsteht Kleidung in kleinen Stückzahlen. Sie arbeitet beispielsweise auch für die App des Online-Händlers Otto und fotografiert dafür mit großem Aufwand die Kollektion. Und unter dem Stichwort „Privilege Club“ entsteht schließlich Maßkonfektion, die in Leipzig entworfen, aber in Portugal und Frankreich gefertigt wird. Sie näht ebenfalls außergewöhnliche Kleidung, etwa die Weste von
Friedrich Schiller fürs Museum oder eine Kopie von Kleidern aus beliebten Serien wie „Bridgerton“. Kostüme für das Mendelssohn-Haus hat sie ebenfalls bereits genäht. Sie versuche, gute Aufträge für ihr Team zu bekommen. Denn das sind alles Kunsthandwerker.

„Letztlich möchte ich meinen Kunden Unikate verkaufen, die in Farbe, Material und natürlich der Passform komplett auf sie zugeschnitten sind“, beschreibt sie ihre Philosophie. Mittlerweile gibt es zwar Dutzende Mode- und Design-Schulen in ganz Deutschland. Doch nichts gehe über ein ordentliches Handwerk. Das gelte es zu wahren, betont sie. Bei ihr wird alles von Hand und auf Maß gemacht. Das Team bietet handwerkliche Expertise – von der Beratung über die Skizzierung und Stoffauswahl bis zur Herstellung des Wunsch-Kleidungsstücks. „Wir machen Produkte, die wirklich lange halten. Das ist unser Anspruch“, sagt sie und verweist auf einen Hausmantel, der vor 25 Jahren gefertigt wurde. Verändert hat sich seitdem nur der Besitzer.

Dabei ist der Modedesignerin und Schneiderin eins klar: Mode ist und bleibt ein hartes Geschäft. Härter, als sie einst dachte. „Es ist für mich ein großes Experiment, das immer noch läuft“, betont Silke Wagler.

Stand: 06.09.2024

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Tiefensee, Wolfgang

Politiker, Oberbürgermeister | geb. am 4. Januar 1955 in Gera

Die Fotos bleiben wohl ewig in Erinnerung: Leipzig setzt sich am 12. April 2003 mit seiner Bewerbung für Olympia 2012 im deutschen Vorentscheid sensationell gegen Hamburg durch. Neben dem emotionalen Bewerbungsvideo überrascht an jenem Tag der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee mit seinem Cello-Spiel. „Dona Nobis Pacem“ (Gib uns Frieden) spielt er auf dem Cello. Viele glauben an ein „zweites Leipziger Wunder“ – in Anspielung auf die Friedliche Revolution. International platzt der Olympiatraum. London erhält schließlich für Olympia 2012 den Zuschlag. Im November 2005 wechselt der SPD-Politiker nach Berlin und wird Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.

Geboren wird Wolfgang Tiefensee am 4. Januar 1955 im thüringischen Gera. Er wächst in einer sehr musikalischen Familie auf. Die ist katholisch geprägt. Der Vater ist der Komponist und Kapellmeister Siegfried Tiefensee, die Mutter eine sozial engagierte Hausfrau. Mit seinen drei Geschwistern wächst er in Leipzig auf, die Familie zieht 1958 in die Messestadt um. Der Vater übernimmt die Stelle eines Kapellmeisters am Theater der Jungen Welt.

Ein Katholik wird Bausoldat


Wolfgang Tiefensee erhält frühzeitig Instrumentalunterricht. Er ist weder Mitglied der Jungen Pioniere noch der Freien Deutschen Jugend, nimmt auch nicht an der Jugendweihe teil. Im Jahr 1973 macht er an der Erweiterten Oberschule „Georg Dimitroff“ das Abitur. Zum Studium darf er zunächst nicht. Als junger Mann gewinnt er mit dem Cello den Bachwettbewerb, lernt Gitarre und spielt in einer Band.

Tiefensee macht eine Ausbildung zum Facharbeiter für Nachrichtentechnik, verweigert 1975 aus Gewissengründen den Dienst an der Waffe in der Nationalen Volksarmee. Dort wird er schließlich Bausoldat, was durch seine religiöse Verbundenheit möglich ist. Seine Frau Gabriele heiratet er 1976, aus dieser Ehe gehen zwei Söhne und zwei Töchter hervor.

Für Freie Pädagogik am Runden Tisch


1979 kann Tiefensee dann ein Studium als Ingenieur für industrielle Elektronik an der Ingenieurschule in Görlitz abschließen und arbeitet danach im Fernmeldeamt Leipzig auf dem Gebiet Forschung und Entwicklung. Ab1986 bis 1990 wechselt er als Entwicklungsingenieur in die Sektion Elektroenergieanlagen der
Technischen Hochschule Leipzig. Er beginnt ein weiteres berufsbegleitendes Studium, erwirbt den Abschluss eines Diplom-Ingenieurs für Elektrotechnik.

Die Unzufriedenheit mit dem politischen System in der DDR nimmt zu. Tiefensee schließt sich der Opposition an. 1989 engagiert er sich erstmals politisch in der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, die er in der Arbeitsgruppe Freie Pädagogik schließlich am Runden Tisch in Leipzig vertritt. Bildungsfragen werden schließlich sein Spezialgebiet und es ist folgerichtig, dass er 1990 zum Amtsleiter des Schulverwaltungsamtes der Stadt Leipzig gewählt wird. Leipzig braucht unbelastete Menschen, die die Kommunalpolitik steuern können. Das hat der aus Hannover kommende Hinrich Lehmann-Grube, der seit Juni 1990 Leipziger Oberbürgermeister ist, rasch erkannt.

Vom Schulamtsleiter zum Oberbürgermeister


Eine Zeitlang sitzt der Parteilose Wolfgang Tiefensee für
Bündnis 90 – damals eine Vereinigung der Bürgerrechtsgruppen – in der Stadtverordnetenversammlung. Das Mandat gibt er zurück, als er in die Verwaltung wechselt. Dort gibt es gigantische Aufgaben zu lösen – die Modernisierung maroder Schulen wird die Stadt über Jahrzehnte beschäftigen. Es gilt aber auch, ideologischen Ballast abzuwerfen, neue demokratische Schulformen zu entwickeln. 1992 folgt der nächste Karriereschritt: Das agile Rednertalent wird Stadtrat für Jugend, Schule und Bildung. 1994 wird er dann Bürgermeister und erster Stellvertreter von Hinrich Lehmann-Grube sowie Beigeordneter für Jugend, Schule und Sport. 1995 tritt Wolfgang Tiefensee in die SPD ein. Der charismatische Redner empfiehlt sich rasch für höhere Aufgaben. Seine Partei baut ihn als Nachfolger von Lehmann-Grube auf. „Wir Leipziger schaffen das!“ wird sein Wahlkampf-Slogan. Das gelingt: Am 26. April 1998 wird Tiefensee im zweiten Wahlgang für sieben Jahre zum Oberbürgermeister von Leipzig gewählt.

Tiefensee engagiert sich für die Ansiedlung von Großunternehmen in Leipzig. 1999 wird Porsche Leipzig gegründet. Im neuen Montagewerk entstehen zunächst 300 Arbeitsplätze – das ist angesichts der hohen Arbeitslosigkeit zwar nicht unbedingt viel. Doch die exklusive Marke wird zu einer Art Initialzündung. Am 7. Mai 2002 erfolgte der erste Spatenstich für das BMW-Werk Leipzig. Dabei erweisen sich die Eingemeindungen nach Leipzig als Glücksfall, da die notwendigen Flächen bereitstehen. 2004 beschließt DHL, ihr Europa-Luftfracht-Drehkreuz an den Flughafen Leipzig/Halle zu verlegen. Das bleibt zwar aufgrund des nächtlichen Fluglärms umstritten. Doch für den Wirtschaftsstandort Leipzig sind es beachtliche Erfolge, wobei die Arbeitslosigkeit nach wie vor hoch bleibt. Es sind nicht allein seine Erfolge – doch er weiß sich gut zu verkaufen.

Eine Politkarriere in Berlin und Erfurt


Nach der gewonnenen Wahl 2002 will ihn Bundeskanzler
Gerhard Schröder als Minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen nach Berlin holen. Doch der Leipziger Oberbürgermeister lehnt ab und begründet dies mit seiner starken Verbundenheit mit Leipzig sowie der Einbindung in die Olympiabewerbung. Damals entsteht in Leipzig und im Umland ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl. Viele Leute sind von der Kampagne unter dem Motto „One Family“ begeistert. „Jenseits vom Tagesgeschäft braucht es solche Visionen, sonst entsteht kein Aufbruch“, erinnert sich Tiefensee in Interviews an die enorme Begeisterung. In Berlin arbeitet Tiefensee in der Kommission mit, in der die Hartz-Reformen entstehen.

Bei der Oberbürgermeisterwahl am 10. April 2005 wird Tiefensee im ersten Wahlgang mit 67,1 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Ein halbes Jahr später wechselt er in die Bundesregierung, als Verkehrsminister unter Kanzlerin Angela Merkel. In der Regierung wird ihm auch die Funktion des Ost-Beauftragten übertragen. Seine Ehe mit Gabriele Tiefensee wird 2011 geschieden.

Die Aura des Besonderen, die Tiefensee in Leipzig umgeben hat, verflüchtigt sich in der Hauptstadt allerdings rasch. Der Verkehrsminister muss viel Kritik einstecken. Diverse Großprojekte, wie die Bahnreform, scheitern. Dem Aufbau Ost vermag der sozialdemokratische Hoffnungsträger aus dem Osten keine wirklichen Impulse zu geben. 2009 ist es mit der Großen Koalition vorbei. Er wird „einfacher Bundestagsabgeordneter“. Seit Juni 2012 ist er dann wirtschafts-, später auch energiepolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. 2013 regiert die SPD wieder mit der CDU – auch da erhält er keinen Posten mehr. Tiefensee gehört dem Deutschen Bundestag bis Dezember 2014 an.

Es folgt eine Politkarriere im Freistaat Thüringen, die mit der Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten Thüringens beginnt. Er holt Wolfgang Tiefensee als Wirtschafts- und Wissenschaftsminister in sein Kabinett. Seit dem 11. März 2018 ist Tiefensee zudem Vorsitzender der SPD Thüringen.  Am 1. September 2024 wählte Thüringen seinen neuen Landtag. Die rot-rot-grüne Koalition verfehlt deutlich die Mehrheit. Minister in Erfurt bleibt er in der Übergangsregierung. In der neuen Regierung ist er nicht mehr dabei.

Stand: 14.12.2024

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Stülpnagel, Karl Heinrich von

Restaurator, Möbelhistoriker, Heraldiker | geb. am 13. November 1960 in Hannover

Die Bedeutung des Namens von Stülpnagel bleibt wohl ein wenig im Dunkel des Mittelalters verborgen. Obwohl die Familie umfangreiche Forschungen betrieben hat, ist die genaue Herkunft des Namens nicht eindeutig geklärt. Fakt ist aber, dass es sich um ein uckermärkisches Adelsgeschlecht handelt, welches 1321 erstmals schriftlich erwähnt wird. Heute sind die Familienmitglieder weit in ganz Deutschland verstreut. In Leipzig lebt Karl Heinrich von Stülpnagel. Er ist Leitender Restaurator des Ägyptischen Museums der Universität Leipzig und zuständig für 7.000 Objekte. Außerdem ist er Vorsitzender seines Familienverbandes, dessen prominentester Vertreter Carl-Heinrich Rudolf von Stülpnagel war. Der General der Infanterie und Militärbefehlshaber in Frankreich ist am Umsturzversuch und Attentat auf Hitler von 20. Juli 1944 beteiligt und wird nach dessen Scheitern in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Das hat seinen Enkel, den jungen Karl Heinrich, sowie die ganze Familie geprägt.

Experte für gotische Truhen in Lüneburger Heide


Geboren wird Karl Heinrich von Stülpnagel am 13. November 1960 in Hannover. Dort wächst er auch auf und besucht die Freie Waldorfschule in der niedersächsischen Landeshauptstadt. Vater Walter ist leitender Baudirektor und Kammerdirektor der Klosterkammer Hannover, die ehemaliges klösterliches Vermögen verwaltet. Mutter Annemarie ist im zweiten Job Kunsthändlerin. Daher wird der junge Karl Heinrich „mit Antiquitäten groß“, wie er selbst sagt, und entschließt sich 1977 nach der Schule zu einer Tischlerlehre. Er möchte Möbelrestaurator werden. Also macht er eine Ausbildung als Restaurator für Möbel und Holzobjekte.

„Möbelrestaurator bin ich allerdings nicht, da ich nicht polieren kann“, sagt er heute. Anders als in der DDR konnte man zu der Zeit im Westen Deutschlands das Restaurieren nicht studieren, nach einer Lehre folgen sechs praktische Jahre an unterschiedlichen Institutionen. Danach geht es an das niedersächsische Heidekloster Wienhausen, wo er ein Forschungsprojekt über die gotischen Truhen der Lüneburger Heide-Klöster beginnt. Das mündet in einer Monografie über die Entwicklung von Möbelkonstruktionen im Mittelalter, das zum Standardwerk wird. Danach wird er ins Museumsdorf Hösseringen, ein Freilichtmuseum bei Uelzen, abgeworben, um sich mit neuzeitlichen Truhen zu beschäftigen.

Die Werkstatt des Ägyptischen Museums


Nach Leipzig verschlägt ihn ein Zufall.
Barbara Fölber, Chefrestauratorin im GRASSI Museum für Völkerkunde, besucht nach der Friedlichen Revolution eine Tagung. Sie erwähnt beim abendlichen Plausch, dass das Ägyptische Museum in Leipzig händeringend einen Restaurator sucht, und beide tauschen ihre Visitenkarten aus. Sie erzählt Professorin Elke Blumenthal, der damaligen Leiterin des Ägyptischen Museums, davon. Diese schreibt schließlich einen Brief an von Stülpnagel und fragt an, ob er nicht die Werkstatt ihres Hauses übernehmen will. An einem dunklen, grauen und regnerischen Tag im November 1991 kommt er nach Leipzig und bleibt. Das Museum präsentiert sich zwar in keinem guten Zustand, ist jedoch gut organisiert. Schlechte Lagerzustände von Sammlungen kennt er aus den Freilichtmuseen im Westen und nimmt die Herausforderung an, Magazin und Werkstatt des Ägyptischen Museums völlig neu aufzubauen sowie eine Generalinventur des Bestandes vorzunehmen. Universitäts-Kanzler Peter Gutjahr-Löser reist persönlich nach Dresden, um den neuen Restaurator einstellen zu können. Nach Umstrukturierung von Fakultäten der Universität Leipzig muss das Ägyptische Museum im Jahr 2000 aus der Schillerstraße 6 ausziehen – zunächst ins Interim in der Burgstraße 8. Das erfordert viel Aufwand und eine gute Logistik. Dabei müssen auch jene Objekte bewegt werden, die eigentlich gar nicht transportfähig sind. Sein endgültiges Domizil findet das Museum im Krochhochhaus am Augustusplatz.

Mit den Ausstellungsobjekten auf Reisen


Das Museum verfügt schon seit 1994 über ein Schaudepot, in dem alle Objekte zugänglich sind. Deshalb müssen alle aufstellbar sein, was dem Restaurator viel Arbeit beschert. Ägyptologie hat ihn eigentlich nie interessiert. Damit kokettiert Karl Heinrich von Stülpnagel stets: „Ein Zahnarzt interessiert sich für die Zähne eines Menschen, nicht für die Psyche. Das ist ein anderer Job“, sagt er. Er wiederum kümmere sich um restauratorische, konservatorische und museologische Aufgaben eines Objektes. Wer es aus welchem Grund in welcher Epoche benutzt hat, sei jedoch Sache der studierten Ägyptologen. Er wiederum sei für die richtige Lagerung, die Konservierung und gelegentlich das Zusammensetzen eines zerstörten Objekts zuständig. Und für den Leihverkehr.

Das Ägyptische Museum nutzt seine Sammlung, um Objekte bei Sonderschauen auch außerhalb Leipzigs zu zeigen. So hat sich eine gute Kooperation mit dem Náprstek Museum der asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Kultur entwickelt, das zum Nationalmuseum Prag gehört. Von Stülpnagel entscheidet, ob ein Transport überhaupt zu verantworten ist. Bei einem Großteil der Objekte ist dies ohnehin ausgeschlossen und bereits in den Sammlungsunterlagen vermerkt. Außerdem handelt der Restaurator und Möbelhistoriker gemeinsam mit der Rechtsabteilung der Universität Leipzig den Leihvertrag aus, legt fest, wie die klimatischen Bedingungen und das Licht bei der Präsentation sein müssen. Zu allen Leihstationen reist er zum Schutz der Leihgaben mit. Bei der Übergabe wird der Zustand des Objektes dokumentiert und fotografiert. Das kann auch mal länger dauern, wenn die Ausstellung noch nicht genügend vorbereitet, die Vitrinen nicht geeignet sind.

Aktiv in Forschung und Lehre der Universität


Zunächst wollte von Stülpnagel höchstens fünf bis sieben Jahre in Leipzig bleiben. Doch die Universität Leipzig gibt ihm die Möglichkeit, in Lehre und Forschung mitzuarbeiten und selbst zu unterrichten. Etwa bei Möbel-Seminaren am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig, aber auch bei den Museologen an der
Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK). Heraldik – auch ein Steckenpferd – unterrichtet er ebenfalls. „Wappen haben mich immer interessiert“, bekennt er. Der Experte für Heraldik hat auch ein Buch über die Epitaphe der Martin-Luther-Kirche in Markkleeberg-West geschrieben.

In die altägyptische Möbelkunde arbeitet er sich ebenso ein und bezieht auch bei wissenschaftlichen Diskussionen klare Positionen. Etwa bei der Frage, ob mumifizierte menschliche Körper überhaupt ausgestellt werden dürfen. Von Stülpnagel findet, dass Museen nicht das Recht haben, sich über religiöse, ethische und moralische Vorstellungen Verstorbener hinwegzusetzen und menschliche Überreste auszustellen. Das gelte auch für die alten Ägypter. Darüber hat er viele Vorträge gehalten. Und sich intensiv mit Gunther von Hagens gestritten, als der seine „Körperwelten“ präsentierte.

Ein Allgemeinmediziner greift auf Experten zurück


In den letzten Jahren restaurierte Karl Heinrich von Stülpnagel kaum noch selbst. Die Sammlung ist ohnehin in einem guten Zustand. Zudem hat er in den letzten drei Jahrzehnten ein Netzwerk mit restauratorischen Fachhochschulen und Akademien aufgebaut, die bei Bedarf kostengünstig Aufgaben an den Lehrobjekten übernehmen. „Ich vergleiche mich mit einem Allgemeinmediziner, der seinen Patientenstamm kennt und maximal Mandeln entfernt oder einen Blinddarm operiert. Den Rest übernehmen die Experten auf dem jeweiligen Gebiet“, erklärt er.

Momentan wird die Sammlung des Ägyptischen Museums durch ein modernes Computerprogramm datenmäßig neu erfasst – das ist eine zweite Generalinventur nach der Wende. Und von Stülpnagel, der so wie kaum ein anderer die Sammlung gut kennt, ist mittendrin. 2025 verabschiedet er sich in den Ruhestand, wird sich allerdings nicht wirklich zur Ruhe setzen. Weitere Projekte folgen – auch mit Wappen. Von Stülpnagel lebt mit Ehefrau Angelika, eine gebürtige von Arnim, in Markkleeberg. Das Paar ist seit 1995 verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

Stand: 05.08.2024

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Schulze, Christian

Heimleiter, Kommunalpolitiker | geb. am 20. Mai 1963 in Berlin

Er hält einen Rekord: 34 Jahre vertritt Christian Schulze die Sozialdemokraten im Leipziger Stadtrat. Und hat dabei als Finanzexperte und Urgestein der SPD einige Sternstunden, aber auch Skandale erlebt. Seit der Neukonstituierung des Rates im September 2024 ist er allerdings nicht mehr dabei. Die Ergebnisse der SPD haben für seine Wiederwahl nicht gereicht. Das politische Geschehen in Leipzig wird er weiter interessiert verfolgen und aufpassen, dass sich „seine Stadt“ gut entwickelt. „Sonst mache ich von der Seitenlinie Krach“, sagt Schulze in seiner letzten Rede im Stadtrat im August 2024. Politisch engagieren wird er sich weiter im Ehrenamt. Vor allem in seinen Vierteln, in Lindenau und Leutzsch.

Geboren wird Christian Schulze am 20. Mai 1963 als Sohn eines Pfarrers am Prenzlauer Berg in Berlin. Dort wird er eingeschult, die Familie zieht aber bald nach Berlin-Johannisthal. Nach der Oberschule absolviert er eine Lehre in der Landwirtschaft, wird Agrotechniker/Mechanisator und schreibt seine Abschlussarbeit über die Kartoffelsorte „Adretta“. Mit 18 Jahren kommt Schulze nach Leipzig, um am Theologischen Seminar zu studieren. Nach zweieinhalb Jahren scheidet er allerdings aus, repariert Lkw-Anhänger in einer Schmiede, macht verschiedene Jobs. 1984 beginnt er als Handwerker und Grabmacher beim Kirchlichen Friedhofsamt und schafft nach einem halben Jahr als 21-Jähriger den Sprung zum Friedhofsleiter in Lindenau. Er beginnt, sich in kirchlichen Gruppen zu engagieren – gemeinsam mit Menschen, die alle der eine Gedanke eint: „In diesem Land muss was passieren!“.

Die Gründung der SDP in Leipzig


Von 1988 an arbeitet Schulze als Verwaltungsleiter in der
Nathanaelkirche in Lindenau. Dort gründet sich im Spätsommer 1989 ein politischer Gesprächskreis, der zunächst das Neue Forum unterstützt. Geliebäugelt wird allerdings mit einem Leipziger „Ableger“ der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP), die im Oktober 1989 in Schwante bei Berlin entsteht. Schulze ist aktiv dabei, gemeinsam mit Andreas Schurig die SDP auch in Leipzig ins Leben zu rufen.

Als Verwaltungsleiter besitzt er damals einen Computer mit Nadeldrucker. Auf der Montagsdemonstration am 6. November 1989 können daher Handzettel verteilt werden, mit denen zur Gründung der Partei am 7. November 1989 in die Reformierte Kirche am Tröndlinring eingeladen wird. „Auf dem Weg dorthin kamen Ängste in mir hoch. Hat die Stasi vielleicht doch noch die Kraft, alles abzusperren und zu verhindern?“, erinnert Schulze sich. Doch die Kirche ist gut gefüllt. Ungefähr 150 bis 200 Bürger versammeln sich im Gotteshaus, darunter auch junge Männer von der Stasi. Die Gründung gelingt, die Umbenennung in SPD erfolgt dann im Januar 1990. Schulze vertritt seine Partei in Lindenau, Leutzsch und Böhlitz-Ehrenberg.

Für die Kommunalwahl am 6. Mai 1990 holen die neuen Genossen dann den Hannoveraner Oberstadtdirektor Hinrich Lehmann-Grube nach Leipzig. Das war eigentlich ein großer Zufall: Den Namen Lehmann-Grube hört Christian Schulze das erste Mal am 19. März 1990. Die Leipziger Sozialdemokraten lecken zu dieser Zeit im Haus der Demokratie ihre Wunden. Sie haben die erste freie Volkskammerwahl in der DDR haushoch verloren. Für die sieben Wochen später stattfindende Kommunalwahl in Leipzig wollen sie dennoch einen SPD-Spitzenkandidaten aufstellen. Ursula Lehmann-Grube ist damals Gast beim Lindenauer SPD-Ortsverein. Sie wird gefragt, ob sich ihr Mann eine Kandidatur vorstellen kann. Da dieser in Hannover als Verwaltungschef unzufrieden ist, kommt ihm der Ruf aus Leipzig gerade recht. Schulze bezeichnet „LG“, wie er im Rathaus oft genannt wird, später als seinen politischen Ziehvater.

LG wird der politische Ziehvater


Lehmann-Grube wird Oberbürgermeister, die SPD mit 35 Prozent die stärkste politische Kraft – und Schulze einer von 45 Sozialdemokraten in der Stadtverordnetenversammlung, die damals 128 Sitze hat. „Eigentlich wollte ich als anständiger Sozialdemokrat in den Sozialausschuss. Da ich in der Kirchgemeinde Lohn gerechnet und die Kasse geführt habe, schickte mich die Fraktion in den Finanzausschuss“, erinnert er sich. Diesen leitet er ab September 1990, nachdem die Vorgängerin wegen Stasi-Verstrickungen abgelöst wurde. Insgesamt bleibt er 30 Jahre Finanzausschusschef.

Am Tisch von Lehmann-Grube wird überlegt, wie Leipzig bis Ende 1990 überhaupt über Wasser gehalten werden kann. „Das hat mich als damals 26-Jährigen sehr beeindruckt“, gibt er zu. Ein Jahr zuvor – bei der Schwindelkommunalwahl am 7. Mai 1989 in der DDR, wie er sagt – wird er nur mit großer Not zur konstituierenden Sitzung der Stadtbezirksversammlung West als Besucher zugelassen. „Ein Jahr später saß ich dann an den Hebeln der Macht und durfte mitentscheiden, wofür das Geld ausgegeben wird“. Wichtig ist zunächst, die Finanzierung für Kitas, Schulen, Heime abzusichern sowie eine Verwaltung aufzubauen. In den Aufbruchsjahren der 1990er seien alle beseelt davon gewesen, das Überleben der Stadt zu sichern, erzählt Schulze.

Die Arbeit im Stadtrat ist über die Jahre schwieriger geworden – die zunächst konstruktive Zusammenarbeit der Aufbruchsjahre über Parteigrenzen hinweg ist politischen Zwängen und Spielchen gewichen. „Wir haben uns bemüht, eine Vermittlerrolle einzunehmen und Mehrheiten für den Oberbürgermeister und die Verwaltung zu organisieren“, konstatiert Schulze.

Weder schwarze Straßen noch rote Kitas


Eins betont er immer wieder: „Für mich gab es nie schwarze Straßen, rote Kitas oder grüne Radwege. Mein Credo war immer: Ich bin für das Beste der Stadt unterwegs.“ Wer gewählt ist, müsse Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen. Dabei gehe es in erster Linie um Vernunft. Von Lehmann-Grube habe er gelernt, wie er betont, „dass man zu einer Sache stehen, zu einer getroffenen Entscheidung Haltung zeigen muss, sich nicht gleich vom ersten Wind umpusten lässt“.

Eine der Sternstunden ist für Schulze die Gründung einer Tunnel GmbH, in die 5 Millionen DM eingezahlt werden. „Wir nahmen an, dass die damals geplante Transrapid-Strecke zwischen Berlin und Hamburg scheitert. Und Geld im Bund übrig ist, das wir für unser Tunnelprojekt nutzen können.“ Wer heute mit der S-Bahn durch den City-Tunnel fährt, weiß, dass die Rechnung aufgegangen ist. Um viele Projekte wie die Umgestaltung des Hauptbahnhofes oder die Verlagerung der Leipziger Messe sind erbitterte Auseinandersetzungen geführt worden. Heute sind es Entscheidungen, die kaum jemand noch ernsthaft infrage stellt. „Ich habe mich immer als Ansprechpartner der Menschen vor Ort gesehen und für die Themen, die diese beschäftigen.“ Sei es ein klappernder Gullydeckel oder ein fehlender Radstreifen. Für seine Verdienste, darunter die fast 30-jährige Leitung des Ortsvereins Alt-West der SPD, wird er 2019 von seiner Partei mit der Willy-Brandt-Medaille geehrt. 2024 erhält er ebenfalls die Goldene Ehrennadel der Stadt Leipzig.

Seit 1998 leitet Christian Schulze ein Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt mit 100 Bewohnern sowie 75 Beschäftigten in Beerendorf bei Delitzsch. Nach dem Ausscheiden aus dem Stadtrat verbringt er wieder mehr Zeit mit der Familie, die von Stockholm bis Zürich verstreut ist. Mit seiner Frau hat er fünf Kinder großgezogen, das fünfte Enkelkind ist unterwegs. Er lernt inzwischen intensiv Englisch, damit er sich besser mit seinem Schwiegersohn in Schweden verständigen kann. Nach wie vor singt er in zwei Chören, darunter in der Taborkantorei, und ist ein leidenschaftlicher Motorradfahrer.

Stand: 09.10.2024

Bildergalerie - Schulze, Christian

Nabert, Thomas

Historiker, Geschäftsführer | geb. am 9. September 1962 in Thale/Harz

Er sieht sich nicht als Verleger, vielmehr als Büchermacher. Dabei hat Thomas Nabert, der Geschäftsführer des Vereins Pro Leipzig, seit vielen Jahren etliche Bücher geschrieben oder als Herausgeber an ihnen mitgewirkt. Die Liste der bei Pro Leipzig erschienenen Titel ist mit rund 370 sehr groß. Sein Hauptaugenmerk richtet der Verein jedoch darauf, Bürger zu aktivieren, sich kritisch mit ihrer Stadt und den entsprechenden Planungen auseinanderzusetzen und selbst behutsame Ansätze zur Stadtentwicklung beizutragen. Aus dieser Idee heraus ist Pro Leipzig entstanden. Thomas Nabert ist seit Sommer 1991 dabei.

Geboren wird er am 9. September 1962 in Thale. Im Harz wächst Thomas Nabert zunächst in ländlicher Idylle auf und geht in Allrode zur Polytechnischen Oberschule. Die Mutter, eine Gemeindeschwester, zieht nach der Trennung vom Vater nach Meuselwitz. Meuselwitz wird für Thomas ein wenig zum „Kulturschock“. Dort gibt es plötzlich mehrstöckige Häuser mit einer gewissen Braunkohle-Patina, wie er es später nennt. Er erlebt den neuen Ort gerade am 1. Mai, als die Kampfgruppen aufmarschieren. Das kennt er von seinem Dorf, das ein wenig „hinterm Berg“ liegt, nicht. Jenes Tamtam habe ihn erschreckt, erinnert er sich. Das Abitur legt er 1981 auf der Erweiterten Oberschule in Meuselwitz ab.

Als Heizer in der Braunkohle


Im Braunkohlekombinat Regis beginnt er im August 1981 eine Tätigkeit als Heizer. Er will die Zeit bis zum Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee und zum späteren Studium überbrücken. Die Zeit in der Kohle hat ihn geprägt, da die Arbeiter das Herz am richtigen Fleck haben und freimütig reden. Ihnen kann schließlich niemand drohen, sie „in die Kohle“ zu schicken, wie es in der DDR oft heißt. Denn dort arbeiten sie bereits.

Im September 1983 nimmt Thomas Nabert ein Studium an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auf. Ursprünglich will er Forstingenieur werden. Doch das Interesse für Geschichte ist größer. Also lässt er sich zum Diplomlehrer für Geschichte ausbilden. In den Schuldienst geht er nicht, stattdessen schließt sich ein Forschungsstudium in Neuer Geschichte an. Schwerpunkt an der Universität ist dabei Adel und Großgrundbesitz. Nebenberuflich unterrichtet Nabert Geschichte an der Volkshochschule, an der Schüler damals ihren Schulabschluss nachholen können. Heute gibt es dafür spezielle Abendschulen. Seit 1984 lebt er in Leipzig, lernt hier seine spätere Frau Andrea kennen, die ebenfalls viel publiziert.

Die Sorge um die historische Identität


Im Sommer 1990 trifft Nabert auf
Bernd Sikora, einen seiner späteren Mitstreiter. Sikora gehört zu jenen engagierten Bürgern, die sich schon 1988 bei einem Ideenwettbewerb fürs Stadtzentrum einbringen wollen. Sie eint die Sorge, dass Leipzigs gründerzeitliche Bausubstanz immer mehr verfällt, die Stadt von Tagebauen umklammert wird, ihre Identität verlieren könnte. Nabert erlebt das Drama, wie sich die Braunkohlebagger sowohl im Süden als auch im Norden an Leipzig heranfressen, bei seinen Fahrten von Meuselwitz nach Halle oder Leipzig, hautnah. „Der Verfall tat mir im Herzen weh“, sagt er. Und er wird großer Fan des Buches „Leipziger Landschaften“, in dem Bernd Sikora, Nobert Vogel und Peter Guth 1987 schonungslos den Verfall dieser Kulturlandschaften aufarbeiten. Er hat zunehmend weniger Lust, auf eine Assistenz an der historischen Fakultät der Uni Halle. Deshalb nutzt er die Chance, bei Pro Leipzig mitzutun.

Dabei gilt der 21. Februar 1991 als Geburtsstunde der Initiative. An jenem Tag treffen sich im Gasthaus „Goldene Krone“ in Connewitz Persönlichkeiten wie beispielsweise Bernd-Lutz Lange, Gunter Böhnke, Wolf-Dietrich Rost, Heinz-Jürgen Böhme, Detlef Lieffertz und Gudrun Neumann. Sie wenden sich mit einem Appell „Pro Leipzig“ an die Öffentlichkeit. Eine Ausstellung „Pro Leipzig. Ansätze zur behutsamen Stadterneuerung“ im Messehaus am Markt legte schon im November 1990 den Finger in die Wunde. Die gibt dem späteren Verein, der sich am 25. Februar 1993 gründet, seinen Namen.

Ein unermüdlicher Büchermacher


Zunächst geht es darum, Strukturen aufzubauen, wobei der Verein Wissenschaftszentrum Leipzig hilft. Dort ist Nabert zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt. Ab 1993 wird Thomas Nabert, der kurz zuvor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg über Neuere Geschichte promoviert, Geschäftsführer von Pro Leipzig. Zwei Jahre wird Pro Leipzig institutionell gefördert und etabliert sich bis Mitte der 1990er. Nabert ist für die Publikationen im Eigenverlag des Vereins zuständig. „Damit finanzieren wir unsere Arbeit“, sagt er.

Große Sprünge lassen sich da allerdings nicht machen, wobei der Anspruch des Vereins groß ist. Los geht es zunächst mit 18 Heften übers Waldstraßenviertel, in dem der Verein bis 2020 sein Domizil hat. Erschienen sind ebenfalls 70 Stadtteilhefte, die mit ihrer blassgelben Optik ein Markenzeichen von Pro Leipzig sind. Das zusammengetragene Wissen wird in Datenbanken festgehalten. Zudem entstehen Studien fürs Grünflächenamt – etwa über Parks und die Naherholung. Vieles davon wird publiziert.

„Der stärkste Antrieb sind meine persönlichen Interessen“, betont Nabert. „Das ist ein großer Vorteil anderen gegenüber, die ihre Arbeitszeit absolvieren und auf die Freizeit warten.“ Bücher zu machen, sei seine Leidenschaft. Und er bohrt gern tief, um möglichst noch eine zusätzliche Quelle oder ein historisches Foto zu finden. Bislang hat Nabert an 54 Einzelpublikationen, 85 Buch- und Zeitschriftenbeiträgen, 80 Studien mitgewirkt und 95 Bücher gestaltet.  Besonders stolz ist er, die Geschichte seines Heimatortes Meuselwitz geschrieben und mehrere Bücher rund um Möbel verfasst zu haben. Ein Highlight sind ebenfalls die Stadtteillexika, die historischen Postkarten-Bücher sowie das Buch „Zeitspiegel“ über das gerettete Fotoarchiv von Hans Lindner, das er gemeinsam mit Heinz-Jürgen Böhme publiziert.

Einen großen Anteil hat Nabert an der Herausgabe des Stadtlexikons A-Z von Horst Riedel. Es erscheint 2012 in überarbeiteter Auflage. „Das tausendjährige Leipzig“ heißt eine dreibändige Publikation von Peter Schwarz – ebenfalls ein Highlight aus dem Programm.

Studie zeigt Vision von Radweg auf


Der Verein erfährt bis zur Jahrtausendwende viel Wertschätzung und hat richtig Einfluss.
Das schlägt sich nieder in Erfolgen wie dem Elster-Saale-Radweg auf der in den 1990ern stillgelegten Bahnstrecke Leipzig-Lützen, der auf der Idee und einer Studie von Pro Leipzig beruht. Inzwischen ist der Einfluss der Bürgervereine längst geringer geworden. Nabert und seine Mitstreiter müssen erfahren, dass Beteiligung in der Leipziger Wirklichkeit oft „ein eher unerwünschtes Ärgernis“ ist. Viele Beteiligungsverfahren sind kaum noch ergebnisoffen, werden pro forma durchgeführt, die Ergebnisse geglättet. Beispiele dafür sind die Öffnung des Pleißemühlgrabens an der Hauptfeuerwache oder Debatten um den Wilhelm-Leuschner-Platz. Nabert wird dennoch unermüdlich weitermachen – arbeitet bereits an neuen Publikationen. Und ist in der Freizeit oft beim Volleyball spielen, Laufen, Wandern und Rad fahren anzutreffen.

Stand: 16.02.2025

Bildergalerie - Nabert, Thomas

Kotte, Henner

Schriftsteller, Stadtführer, Moderator, Theaterkritiker | geb. am 17. August 1963 in Wolgast, gest. am 6. Dezember 2024 in Leipzig

Sein Leben findet sich in seinen Büchern. Henner Kotte schreibt Leipzig-Krimis, die bis ins Detail viel Lokalkolorit seiner Stadt versprühen. Krimi- und Stadtgeschichte(n) hält er in seinen Büchern fest. Oft führt er Menschen durchs Zentrum, um ihnen als Stadtführer berühmte Kriminalfälle zu erzählen. Er schreibt aber auch Sachbücher, wie zur Geschichte des Hotels Astoria, und geht populären sächsischen Legenden nach. Die Gose hat es ihm ebenfalls angetan. Zum 200. Geburtstag der Ritterguts Gose ist er Herausgeber einer reich bebilderten Festschrift, die diesem erstmals 1824 gebrauten Getränk gewidmet ist. Oft ist er im Stadtarchiv Leipzig anzutreffen. Denn seine Werke sind gut recherchiert. Doch auch aus dem prallen Leben schöpft er seine Inspiration.

Ein ehemaliger Leichtathlet wird zum Germanisten


Geboren wird Henner Kotte am 17. August 1963 in Wolgast. Das ist eher Zufall, denn seine Eltern, ein Dresdner Ärztepaar, sind gerade zum Praktikum in der Stadt an der Ostsee. Wenig später geht es zurück an die Elbe, wo er aufwächst und zur Schule geht. Von der 8. Klasse an besucht er eine Kinder- und Jugend-Sportschule und trainiert als Leichtathlet. 1978 kann er mit seinem Team sogar den Vize-DDR-Meistertitel in der 4×100-Meter-Staffel erreichen. Abitur macht er auf der Dresdener Kreuzschule. Dort ist er zwar nicht in der Sängerklasse des berühmten Knabenchores, aber sehr kreativ. Etwa bei Theateraufführungen.

Nach der Schule folgt der Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee an der Grenze in Berlin. 1984 kommt Henner Kotte nach Leipzig, um an der Karl-Marx-Universität (heute Universität Leipzig) Germanistik zu studieren. 1987/88 verschlägt es ihn für ein Semester an die Moskauer Lomonossow-Universität. Das Land ist gerade im Umbruch, in der Perestroika. Seine Diplomarbeit schreibt er über die assoziative Einschätzung von Vornamen. Es folgt ein Forschungsstudium Anfang der 1990-er Jahre in Mannheim. Dort lebt er ein wenig abseits, entdeckt seine Leidenschaft fürs Schreiben.

Gut recherchierte Kriminalfälle sind sein Elixier


Seit 1994 lebt Kotte dann wieder in Leipzig. Nach der Rückkehr ist er zunächst arbeitslos. Später unterrichtet er Deutsch als Fremdsprache. Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme verschlägt ihn zum Literaturrat Sachsen sowie dem Förderkreis Freie Literatur. Für seine Kurzgeschichte „Taxi“ erringt Kotte 1997 den MDR-Literaturpreis.

Sein erstes Buch veröffentlicht er im Jahr 2000. Es heißt „Natürlich tot!“. Eine eigene kriminalliterarische Talkshow die „Schwarze Serie“ startet Kotte in der Moritzbastei. 2002 arbeitet Henner Kotte für den MDR. Es entsteht die Fernsehserie „Vergessene Akten“. Dort ist er in seinem Element, kann Kriminalfälle recherchieren.

Wie kaum ein anderer erforscht er die abgründigen Geschichten seiner Stadt Leipzig. Die erzählt er in seinen Büchern ebenso wie bei Stadtführungen. Dabei redet er von unbekannten und berühmten Menschen ebenso wie von jenen, die wie Woyzeck erst durch ihre Taten Berühmtheit erlangen und in die Literatur eingehen. Mit zahlreichen Krimis und Bänden mit authentischen Fällen wie „Leipzig mit blutiger Hand“ oder „Bonny und Clyde vom Sachsenplatz“ findet er sein Publikum. Dem Verbrechen auf der Spur ist er mit Kindern bei der KinderKrimiTour. „Auch die „Tatort“-Kommissare Ehrlicher und Kain erweckt er nach deren Aus in der Fernsehserie zu neuem literarischen Leben.

Eine Festschrift zur Gose


2021 folgt ein kultureller Reiseführer zur Geschichte jüdischen Lebens in Sachsen. Im selben Jahr erscheint sein Roman. Unter dem Titel „Die dreizehn Leben des Richard Rohde“ geht es um ein Dorf in der Oberlausitz, das der Kohle weichen muss. Sein letztes Werk heißt: „Die Gose schmeckt frühmorgens gut, ist abends keine Plage“. Da ist er der Herausgeber einer Festschrift, die zum 200-jährigen Brau-Jubiläum der Gose erscheint. Gemeinsam mit anderen Autoren, etwa dem Kabarettisten
Gunter Böhnke, Gose-Historiker Frank Heinrich sowie Gosebrauer Tilo Jänichen, hat er dafür Amüsantes und Abseitiges über das Getränk recherchiert. Und selbst Kriminelles kommt dabei nicht zu kurz.

Seine geliebte Leipziger Innenstadt und das Leben rund um den Bayerischen Bahnhof sind sein Lebenselixier. Doch das ist nun vorbei. In der Innenstadt bricht er zusammen, kommt ins Krankenhaus. Unerwartet ist Henner Kotte am 6. Dezember 2024 in Leipzig gestorben. Er wird nur 61 Jahre alt. Und viele Pläne, etwa ein Standardwerk zur kompletten Kriminalliteratur der DDR zu schreiben, bleiben unerledigt. Seine Führungen fehlen, doch die Bücher bleiben.

Stand: 14.12.2024

Bildergalerie - Kotte, Henner

Hauptmann, Silvia

Fotografin, Chronistin | geb. am 9. Oktober 1957 in Leipzig

Sie ist die Fotochronistin, die jüdisches Leben in Leipzig und Sachsen in vielen Facetten festhält. Ihr Markenzeichen sind Porträts von Menschen, denen sie sich mit gebührendem Respekt nähert, sowie verschiedene Milieustudien. Dabei hat sie ein Faible für Langzeitprojekte.

Geboren wird Silvia Hauptmann am 9. Oktober 1957 in Leipzig. Sie wächst in Böhlen auf. Als sie zwölf Jahre alt wird, ziehen die Eltern in ein Haus in Großdeuben „am Grubenrandstreifen“ der Braunkohle. „Hinterm Haus quietschte der Bagger lang, die Grube wurde zugeschüttet“, sagt sie und erinnert sich an nicht ungefährliche Abenteuer beim Baden in den Restlöchern. Zur Polytechnischen Oberschule fährt sie nach Gaschwitz. Danach beginnt die Berufsausbildung mit Abitur zur Laborantin. Sie arbeitet im Betriebsteil Böhlen des Volkseigenen Betriebes Petrolchemisches Kombinat Schwedt.

Aufträge für Architekturbüro und Zeitschriften


Doch das Auswerten von Proben befriedigt sie nicht. Eigentlich will sie Sprachen studieren, doch nach der Geburt ihres Sohnes Paul im Jahre 1981 entscheidet sie sich anders. Sie beschäftigt sich mit Fotografie, wird später an der
Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig immatrikuliert. Als freiberufliche Fotografin übernimmt sie Aufträge für ein Architekturbüro und arbeitet auch fürs Zentralhaus für Kulturarbeit. Jene Leipziger Einrichtung widmet sich der Förderung der Laienkunst und Brauchtumspflege in der DDR und gibt auch eine eigene Zeitschrift „Kultur und Freizeit“ heraus. Sie fotografiert sorbische Frauen, die Ostereier bemalen, sowie viele Menschen mit ihren Hobbys. Doch die Unzufriedenheit wächst. Im August 1989 verlässt sie mit ihrem damaligen Ehemann über Ungarn die DDR.

Im Westen angekommen, studiert sie an der Fachhochschule in Bielefeld Fotografie. Ihr Schwerpunkt wird dabei Sozial-kritisches Porträt/Fotoessay. Zusätzlich belegt sie Psychologie, um sich für die Fotoarbeiten besser in Menschen hineinversetzen zu können. Für ihre Abschlussarbeit fotografiert Silvia Hauptmann Roma in Rumänien. Nebenbei arbeitet sie für die von Bodelschwinghsche Stiftung in Bielefeld. Die hat Kontakte bis nach Japan – Silvia Hauptmann kann bei einem Empfang sogar den Kaiser des Landes der aufgehenden Sonne fotografieren.

Eine zufällige Begegnung in der Synagoge


Nach dem Studium kehrt sie nach Leipzig zurück. 1994 reist sie für eine Zeitung nach Moskau. Ihr Auftrag: Sie soll Bilder im Milieu von Prostituierten aufnehmen. Doch irgendwie merkt sie, dass ihr dieses Thema, mit „jungen Mädels, die im mafiösen Milieu ihre Haut zu Markte tragen“, nicht liegt.

Sie bummelt im strömenden Regen durch die Straßen der russischen Hauptstadt und landet zufällig in einem riesigen Gebäude. Das ist die Choral-Synagoge Moskaus. Dort wird gerade Rosch Haschana, einer der Hohen Feiertage des Judentums, gefeiert. Sie zückt die Kamera und kehrt mit einer Reportage über den Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt und die Moskauer Synagoge zurück. Und schnell wird klar: Das ist ihr Thema. Sie besucht die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig, die gerade ein Jubiläum vorbereitet, und deren damaligen Vorsitzenden Aron Adlerstein. Für die Gemeinde lichtet sie „Channuka im Astoria“ ab. Das wird der Beginn einer langen Zusammenarbeit.

Die Fotografin der Religionsgemeinde


Durch eine Ausstellung in der
Alten Nikolaischule, bei der zur Leipziger Buchmesse jüdisches Leben in Leipzig vorgestellt wird, entstehen Mitte der 1990er-Jahre Kontakte zur Ephraim Carlebach Stiftung und ihrer Vorstandsvorsitzenden Renate Drucker. Gemeinsam wird das Langzeitprojekt „Jüdisches Leben in Sachsen“ aufgelegt. „Ich war auch in Dresden und Chemnitz, auf allen jüdischen Friedhöfen in Sachsen. Mein Schwerpunkt blieb aber immer In Leipzig“, erzählt Hauptmann. Seit 1997 lebt sie mit dem Grafiker, Musiker und Autor Jürgen B. Wolff zusammen.

Sie hält 1998 fest, wie der erste sächsische Landesrabbiner Salomon Almekias-Siegl ordiniert wird. Silvia Hauptmann ist mittlerweile die Fotografin, die das Leben der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig am längsten dokumentiert. „Ich durfte erleben, wie die Gemeinde wächst und sich verändert“, sagt sie. Etwa durch den Zuzug von jüdischen Menschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Ihre Bilder bieten Einblicke in die erste jüdische liberale Hochzeit in der Brodyer Synagoge nach der Wende. „Das hat mich damals sehr fasziniert.“ Weitere Fotos zeigen Rituale, wie die Beschneidungen der Kinder oder die Beerdigung von Torarollen auf dem Neuen Israelitischen Friedhof. Sie darf die orthodoxe Hochzeit des Rabbiners Zsolt Balla in Berlin begleiten. Und macht ein Fotoessay über ihn. Die Einweihung des Ariowitsch-Hauses dokumentiert sie ebenfalls.

Eine digitale Datenbank vom Friedhof


Eine Herausforderung für die Projektmitarbeiterin der Ephraim Carlebach Stiftung wird eine große Dokumentation. Sie fotografiert und erfasst über vier Jahre gemeinsam mit Jürgen B. Wolff alle der rund 5.500 Gräber auf dem
Alten Israelitischen Friedhof und bereitet sie für eine Datenbank digital auf. Das wird ziemlich anstrengend. Die Ephraim Carlebach Stiftung nutzt die Datenbank, um Anfragen, etwa nach Personen, zu beantworten. Silvia Hauptmann bietet auch Führungen auf den Friedhöfen an. Was sie noch reizt, ist es, jüdische Familien daheim bei Festen wie Sabbat zu fotografieren. Doch das zu realisieren, ist schwierig. Im Ehrenamt unterstützt sie ebenfalls die Aktion Stolpersteine.

Fotoessays über Obdachlose und junge Strafgefangene


Silvia Hauptmann widmet sich auch vielen anderen Themen. Mit ihrer Kamera arbeitet sie im Strafvollzug. „Zwischenzeit“ heißt ihr Fotoessay über eine zu lebenslanger Haft verurteilte Frau. Diese hat sie 15 Jahre lang begleitet. Und sie hat in den Haftanstalten Zeithain, Waldheim sowie Regis-Breitingen fotografiert. Auch junge Strafgefangene. „Das Thema Schuld und Sühne hat mich immer gefesselt.“ Seit 1993 fotografiert sie regelmäßig beim Rudolstadt-Festival. Für die Sächsische Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien übernimmt sie ein Projekt, um ankommende Flüchtlinge zu zeigen. 

„Mich interessieren Randgruppen, daher habe ich auch viel mit Obdachlosen gearbeitet.“ Derzeit widmet sie sich Habseligkeiten von Obdachlosen, die auf der Straße zu sehen sind. Die Menschen zeigt sie diesmal nicht. Wichtig ist ihr ein Projekt im Zoo Leipzig. „Tiere zu fotografieren, ist faszinierend. Nichts ist entspannter.“ Sie erinnert sich an einen Komodowaran im Gondwanaland, wo sie sogar für die richtige Perspektive an einem Seil heruntergelassen und schnell hochgezogen wurde. „Meine große Liebe sind Hunde.“ Stolz ist sie auf ihren Foxterrier, der „noch vom Wolf abstammt.“ Sie reist außerdem gern, darunter oft nach Wien. Ihr Archiv umfasst inzwischen mehr als 25.000 Fotos.

Stand: 26.08.2024

Bildergalerie - Hauptmann, Silvia

Gildoni, Channa

Ehrenbürgerin, Zeitzeugin | geb. am 28. Dezember 1923 in Leipzig, gest. am 9. Mai 2023 in Ramat Gan (Israel)

Sie ist die erste Frau in der langen Liste Leipziger Ehrenbürger: Channa Gildoni, die im Dezember 1923 als Anni Moronowicz in Leipzig geboren wird, erhält diese Ehrung für ihre Verdienste um Versöhnung und Erinnerungskultur. Auf Einladung der Stadt Leipzig besucht sie mit einer kleinen Gruppe im November 1992 erstmals wieder ihre Geburtsstadt. Ihr ist es wichtig, in Gesprächen daran zu erinnern, welche große Rolle die Juden vor der Nazi-Diktatur in Leipzig gespielt haben. 1995 wird sie Vorsitzende des Verbandes ehemaliger Leipziger in Israel. Als Zeitzeugin hat Channa Gildoni viel zur Verständigung beigetragen – bis zu ihrem Tod im Mai 2023.

Geboren wird Anni Moronowicz am 28. Dezember 1923 in der elterlichen Wohnung in der Promenadenstraße (heute Käthe-Kollwitz-Straße). Die Mutter ist Hausfrau, der 1909 aus Polen eingewanderte Vater betreibt ein Geschäft in der Elsterstraße, in dem er von Nähgarn bis zu Möbeln und Brillanten alles verkauft. In Channas Geburtsjahr gibt es in Leipzig eine sehr lebendige Jüdische Gemeinde, der etwa 13.000 Juden angehören. Die Familie ist gut betucht, kann sich ein Haus- und Kindermädchen leisten.

Eine friedliche Kindheit in Leipzig


Der Vater ist aktiv in der Gemeinde, besucht nahezu jeden Tag die
Ez-Chaim-Synagoge in der Otto-Schill-Straße. Als Sechsjährige wird sie in die 41. Volksschule in der Hillerstraße eingeschult. Ab der vierten Klasse wechselt sie auf die Höhere Israelitische Schule, nach ihrem Gründer auch Carlebach-Schule genannt. „Es war ein friedliches Leben, Antisemitismus habe ich nicht gespürt“, erinnert sie sich später. Der Leipziger Verlag Hentrich & Hentrich hat ihr in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ ein Buch gewidmet, in der Sven Trautmann, Gabriele Goldfuss und Andrea Lorz die Lebensgeschichte von Canna Gildoni erzählen.

Flucht über Ungarn nach Palästina


Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird das Leben für die jüdischen Mitbürger in Deutschland zunehmend schwieriger. Die Familie fühlt sich in Leipzig nicht mehr sicher, will nach Palästina auswandern. Doch eine Ausreiseerlaubnis zu bekommen, erweist sich als schwierig. Der Vater wird auch verhaftet, angeklagt wegen Landesverrates, sitzt zwei Jahre unschuldig in Berlin-Moabit und später im Konzentrationslager Oranienburg. Der Grund: Sein Name taucht im Notizbuch eines entlarvten Spions auf, von dem er sich Geld geborgt hat. Jacob Moronowicz kommt aber frei. Sein Geschäft hat er da längst aufgeben müssen.

Das Leben für die jüdische Bevölkerung wird immer unerträglicher. Schließlich kann Jacob Moronowicz im November 1939 aus Leipzig fliehen. Frau und Tochter folgen ihm im April 1940 – zuerst geht es nach Wien, dann nach Ungarn und schließlich nach Tel Aviv. Dort beginnt die Familie ein neues Leben. Vater Jacob handelt mit Textilien.

In Tel Aviv ändert Anni ihren Namen in die hebräische Form Channa. Eigentlich will sie Jura studieren, kann sich diesen Wunsch aber nicht erfüllen. Es fehlen die finanziellen Mittel, aber auch der Schulabschluss. Deshalb arbeitet sie als Krankenschwester. Gleichzeitig tritt sie der Hagna, einer Untergrundorganisation, als Sanitäterin bei. Dort lernt sie ihren Mann Menachem Gildoni kennen, den sie 1945 heiratet. Am 14. Mai 1948 erklärt Israel seine Unabhängigkeit. Das erlebt Channa als Sanitäterin bei der Hagna.

Mit Anfang 30 wird sie schon Witwe, da ihr Mann an einem Herzleiden stirbt, und zieht ihre beiden Kinder allein groß. Zunächst übernimmt sie das Juweliergeschäft ihres Mannes, das sie dann aber verkauft. Sie arbeitet für die Hilfsorganisation Magen David Adom, vergleichbar mit dem Deutschen Roten Kreuz hierzulande. Mehr als 60 Jahre lang ist sie für die Organisation, ebenso wie für die Hagana, im Einsatz.

Ab 1953 organisieren sich ehemalige Leipziger in Israel zu einem Verband, dem sich ebenfalls Menschen in den USA und Großbritannien anschließen. Viele spüren den Wunsch, die alte Heimat noch einmal zu besuchen. Das ist aber erst nach der Friedlichen Revolution möglich. 1992 lädt die Stadt Leipzig erstmals zehn ehemalige jüdische Leipziger samt Begleitperson zu einem Besuch ein. Das Interesse ist groß, die Plätze müssen in Israel sogar verlost werden. Chana Gildoni hat Glück und ist im November 1992 erstmals wieder in ihrer Geburtsstadt. „Leipzig ist unsere Geburtsstadt, aber nicht mehr unsere Heimat“, betont Channa Gildoni damals im Gespräch der LVZ.

Viel Engagement für Erinnern und Aussöhnen


Von da an kommt sie regelmäßig, wird 1995 Vorsitzende des Verbandes ehemaliger Leipziger in Israel. Sie engagiert sich für die deutsch-israelische Aussöhnung. Als Zeitzeugin, die die noch die lebendige jüdische Gemeinde der Zwanzigerjahre in Leipzig erlebt hat, spricht sie in Schulklassen über ihre Erlebnisse. Ihre Erinnerungen fließen in verschiedene Buchprojekte. Wichtig ist ihr, dass das Unrecht nicht in Vergessenheit gerät, wenn die Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind. Im Jahr 1999 erhält sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Für ihre Verdienste um Versöhnung und Erinnerungskultur bekommt sie das Bundesverdienstkreuz und die Ehrennadel der Stadt Leipzig verliehen.

2019 kommt sie das letzte Mal nach Leipzig, die Reise ein Jahr später muss aufgrund von Corona abgesagt werden. Sie bleibt im telefonischen Kontakt mit den Freunden aus Leipzig und fühlt sich hier willkommen. Ende Oktober 2022 reist Oberbürgermeister Burkhard Jung mit einer kleinen Delegation in die Partnerstadt Herzliya und überreicht der betagten Dame im Yitzhak Rabin Centre in Tel Aviv persönlich die Ehrenbürgerschaft – die höchste Auszeichnung der Stadt Leipzig. Am 9. Mai 2023 ist Channa Gildoni in Ramat Gan in der Nähe von Tel Aviv – dort lebte sie im betreuten Wohnen – gestorben.

„Channa Gildoni glaubte an das Gute im Menschen. Trotz aller Schrecken, die sie in den 1930er-Jahren in Leipzig erleben musste, setzte sie sich für die Aussöhnung mit Deutschland ein“, würdigt sie Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung: „Sie war eine große Brückenbauerin, die die Verbindung in ihre alte Heimatstadt nie abreißen ließ.“

Stand: 16.01.2025

Bildergalerie - Gildoni, Channa

Dittrich, Gotthard

Diplomökonom, Schulgründer, Stifter | geb. am 29. März 1954 in Nienburg/Weser

Leipzig ist die Wiege seiner Bildungsvisionen. Hier arbeitet Gotthard Dittrich, der Chef der Rahn Education, unermüdlich daran, die Idee weltoffener Bildungsprojekte zu verwirklichen und in andere Länder zu tragen. Am 16. März 1990 gründet Dittrich mit Partnern eine gemeinnützige Schulgesellschaft. Mittlerweile ist daraus ein mittelständisches Unternehmen geworden, das in der Messestadt Leipzig den Bildungscampus im Graphischen Viertel betreibt.

Geboren wird Gotthard Dittrich am 29. März 1954 in Nienburg an der Weser. Er wächst in einfachen Verhältnissen auf und besucht dort die Volksschule. Anschließend macht er eine Ausbildung zum Kaufmann an der Handelsschule Dr. Paul Rahn in Nienburg. In Hannover legt er schließlich am Wirtschaftsgymnasium das Abitur ab. In den 1970er Jahren studiert er an der Bremer Hochschule für Sozialpädagogik und Sozialökonomie. Er wählt das Fach Sozialökonomie, das sich allerdings als Studium der Ernährungswissenschaften erweist. Daher hängt er noch zwei Semester Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bremen an.

Ein Besuch auf der Leipziger Messe


Schon während des Studiums arbeitet er in einem Handelsunternehmen, das norwegische Produkte in Deutschland vertreibt. Das wird allerdings unrentabel, da Norwegen einen Beitritt zur Europäischen Union ablehnt. 1983 besucht er die
Leipziger Messe und findet einen Ausweg: Er vermittelt für die Firma Kompensationsgeschäfte mit der damaligen DDR. Dafür verlegt er 1984 sogar seinen Wohnsitz nach Altenburg bei Leipzig. Gemeldet ist er auch in Westberlin, da er dadurch unkomplizierter als ein Bundesbürger einreisen kann. Im Februar 1990 wird Dittrich Staatsbürger der DDR, damit er leichter eine Firma gründen und Kapital in DDR-Mark einbringen kann. Mit der Einheit Deutschlands erledigen sich die Kompensationsgeschäfte allerdings von selbst.

Der Aufbau der Wirtschaftsakademie


Dittrich hat immer Handel-Seminare an der Rahn-Schule in Nienburg gehalten. Nun beginnt er für diese mit dem Aufbau von privaten Handelsschulen in den neuen Bundesländern. Ziel ist es, den Bedarf nach kaufmännischem Wissen zu befriedigen. Los geht es 1990 zunächst mit einer Wirtschaftsakademie in Leipzig, die Umschulungen und berufliche Fortbildungen anbietet. Die gibt es heute noch ebenso wie die Schulgesellschaft, die mit einer berufsbildenden Schule in der Kochstraße startet. Daraus entwickelt sich schließlich die gemeinnützige Rahn Education, eine Unternehmensgruppe, mit Hauptsitz in Leipzig. Dazu gehören mehrere Firmen.

1995 entsteht die Idee, Pädagogen der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ zum Gespräch einzuladen, um über Konzepte für eine Schule mit musikalisch-künstlerischer Ausrichtung zu reden. Das Resultat: ein Konzept für die Freie Grundschule „Clara Schumann“ im historischen Schumann-Haus in der Inselstraße 18. Die Schulgründung wird nur möglich, da im Freistaat Sachsen von den staatlichen Schulbehörden nichts Vergleichbares angeboten wird. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet und auch vom damaligen Leipziger Opernintendanten Udo Zimmermann als Schirmherrn gefördert. Die Genehmigung erfolgt 1997.

Ein Bildungscampus im Graphischen Viertel


Mittlerweile ist die Grundschule „Clara ‚Schumann“ längst Teil eines Bildungscampus mit Musikschulen, Kindertagesstätten, Gymnasium sowie Oberschule. „Ich bin selbst manchmal überrascht, wie sich das alles entwickelt hat“, bekennt Diplomökonom Dittrich, der sich als Ideengeber sieht und den Bau neuer Häuser koordiniert. „Für die Bildungsprojekte hole ich mir Partner vom Fach.“ Der Bildungscampus zwischen Salomon- und Inselstraße im Graphischen Viertel mit rund 2.000 Kindern und Jugendlichen ist das Herzstück des Unternehmens geworden.

Ein außergewöhnliches Projekt wird ebenfalls das Gymnasium im brandenburgischen Stift Neuzelle (Landkreis Oder-Spree) an der polnischen Grenze. Das Besondere: An der Ganztagsschule wird bilingual Deutsch und Polnisch unterrichtet. Durch das zum Kloster gehörige Internat können dort auch Kinder lernen, deren Eltern nicht in Deutschland leben. Insgesamt werden Schüler aus 20 Nationen betreut.

Die ersten Auslandsaktivitäten der Rahn Education starten 1993 in Zielona Góra in Polen. Dort werden eine Grundschule mit musikalisch-künstlerischer Ausrichtung sowie ein Gymnasium eingerichtet, an dem die Schüler auch das deutsche Sprachdiplom ablegen können. Zu Neuzelle entsteht eine deutsch-polnische Bildungsbrücke.

Eine eigenständige Schule in Kairo


Ein besonderes Augenmerk legt Dittrich auf die ägyptische Hauptstadt Kairo. Dort gibt es die eigenständige Rahn-Schule Kairo, an der nach brandenburgischem Curriculum unterrichtet wird. Für ihre Absolventen besteht die Möglichkeit, in Neuzelle bei einer zweijährigen zusätzlichen Ausbildung das deutsche Abitur abzulegen. Seit 2003 existiert die Hotelfachschule Paul Rahn in El Gouna am Roten Meer. Dort fahren sogar Vertreter der Leipziger Industrie- und Handelskammer (IHK) hin, um Prüfungen abzunehmen. „Dadurch erwerben die Jugendlichen einen Abschluss, der auch in Deutschland anerkannt ist“, erläutert Dittrich. Aufgrund des Fachkräftemangels gewinnt das zusehends an Bedeutung. Einige kommen nach Leipzig, um hier in der Gastronomie zu arbeiten. Rahn Education betreibt auch im Auftrag der Schweiz eine Schule in Mailand sowie in Cadorago am Comer See.

Eine Herzensangelegenheit ist es für Dittrich, das Polnische Institut – seit 1969 fester Bestandteil der Leipziger Kulturszene – in Leipzig zu erhalten. Diesem droht die Schließung. Die Rettung ist nur möglich, weil die Europäische Stiftung der Rahn Dittrich Group für Bildung und Kultur das Institut als Untermieter beherbergt. In den Räumen der Stiftung am Markt 10 ist inzwischen ebenso das neue Partnerstadtquartier der Stadt Leipzig untergekommen.

An seinen Standorten beschäftigt das Unternehmen Rahn Education ca. 1.100 Mitarbeiter, die über 800 Lernende betreuen. Zum Portfolio gehören Kindertagesstätten, Grundschulen, Sekundar- und Oberschulen und Gymnasien, Fachoberschulen, Studienkollegs, Berufsbildungszentren sowie Musik- und Sprachschulen. Es gibt rund 40 Bildungseinrichtungen in Deutschland, Ägypten, Italien und Polen. 

Auf dem Bildungscampus in Leipzig entstand das Café Salomon, das ursprünglich koschere Küche nicht nur für jüdische Mitbürger anbot. Es musste aber schließen. Ende Februar 2025 eröffnete dort die Stullenfabrik, ebenfalls mit einem innovativen Konzept.

Stand: 13.01.2025

Bildergalerie - Dittrich, Gotthard

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