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Girardet, Georg

Jurist, ehemaliger Bürgermeister und Beigeordneter für Kultur der Stadt Leipzig | geb. am 7. September 1942 in Kempten

Er ist ein Gentleman: 17 Jahre steht Georg Girardet an der Spitze der Leipziger Kultur und prägt das Kulturleben in einer durchaus wilden Zeit, in der viele Entscheidungen getroffen und Probleme gelöst werden müssen. Während seiner aktiven Jahre im Leipziger Neuen Rathaus hat Girardet fast eine halbe Milliarde Euro in diversen Kultureinrichtungen verbaut. Der Neubau des Museums der bildenden Künste Leipzig, die Sanierung des Grassimuseums sowie der Ausbau des Zoo Leipzig sind nur wenige Beispiele. 

Girardet ist keiner, der sich zurücklehnt. „Es macht mir Spaß, nützlich zu sein“, ist eine seiner Devisen, die auch im Ruhestand noch gilt. Er lebt in Leipzig und Berlin. Und ist bei vielen Veranstaltungen an der Pleiße nach wie vor präsent. Bei einer Verabredung trifft er sich gern im Café Gloria, dem Café des Bach-Archivs, damit diesem der Erlös zugute kommt. Zum Bach-Liebhaber ist er erst in Leipzig geworden.

Als „DDR-Analphabet“ in Ost-Berlin


Georg Girardet wird am 7. September 1942 in Kempten im Allgäu geboren. Er ist der Sohn einer Essener Verleger-Dynastie und beginnt nach dem Abitur ein Jurastudium, dem die Promotion folgt. Der junge Mann wird Referent für Berufsbildung im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (1973 bis 1977), danach Referent sowie später Kulturreferent in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR in Ost-Berlin. Damit verbunden war für ihn ein intensiver Lernprozess, denn anfangs fühlte er sich als „DDR-Analphabet“. Seine Mutter übernimmt 1953 eine Hilfsorganisation „Der Helferbund“, die bis Mitte der 1980er Jahre Pakete mit Kleidung und Lebensmitteln an Familien in der DDR schickt. Mit zwölf Jahren beginnt er selbst einer Familie zu helfen.

Als erfindungsreicher Diplomat schafft er es in seiner Zeit bei der Ständigen Vertretung, die Mauer für die Kunst und die Künstler ein wenig zu durchlöchern. Das Gartenhaus in Ost-Berlin wird zu einem Treffpunkt für Kulturschaffende und Interessierte. Girardet hilft Künstlern, indem er sie mit Katalogen und Büchern von Kunstverlagen versorgt oder auch mal ihre Werke an Galerien und Museen im Westen vermittelt. Das ist sowohl aus Ost- als auch West-Perspektive illegal. Der Kulturreferent schmuggelt mit seinem Diplomatenausweis und seinem Volvo-Kombi mit Diplomatenkennzeichen Kunst in beide Richtungen über die Grenze am Übergang Invalidenstraße. Nie aus Eigennutz, wie er betont.

Rettung des Dokfilm-Festivals wird erste Mission in Leipzig


1985 wechselt er in den Westberliner Senat. Dort übernimmt er beispielsweise die Referatsleitung für die 750-Jahr-Feier 1987 sowie für die Veranstaltungen innerhalb des Projekts „Berlin – Kulturhauptstadt Europas 1988“. Es folgt ein Job im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft. Am 1. Dezember 1991 wählt die Leipziger Stadtverordnetenversammlung ihn als Bürgermeister und Beigeordneten für Kultur der Stadt Leipzig. Dass er diesen Posten bekommt, hat ihn selbst überrascht, sagt er. Auf Empfehlung des Galeristen und Kunsthistorikers
Klaus Werner hatte er sich überhaupt erst beworben. Eigentlich wird nach der Abwahl des Vorgängers Bernd Weinkauf im Rathaus die Devise ausgegeben, für diese Funktion „niemanden aus dem Westen“ zu nehmen. Doch seine beruflichen Erfahrungen zum einen mit der DDR-Kulturpolitik und – Kulturszene und zum anderen in der westdeutschen Kulturverwaltung auf Bundes- und Landesebene wiegen offensichtlich schwerer.

Der neue Kulturbürgermeister erweist sich als ein Glücksfall. Seine erste Mission wird die Rettung des Internationales Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, das abgewickelt werden soll und in eine neue Rechtsform überführt wird. Girardet, der viele Baustellen gleichzeitig bewältigen muss, erwirbt sich den Ruf als Kultur-Ermöglicher. Um den Neubau des Museums der bildenden Künste in der Katharinenstraße oder die Sanierung des Grassimuseums am Johannisplatz erwirbt er sich Verdienste.

Girardet wird in Leipzig zum Bach-Liebhaber


Beharrlich kümmert er sich darum, für das
Bachfest Leipzig samt Thomanerchor und Bach-Archiv eine Zukunft zu entwickeln. Die Skepsis des damaligen Oberbürgermeisters Hinrich Lehmann-Grube ist groß. Es wird viel diskutiert, ob Leipzig tatsächlich mit Bach genug Publikum für ein internationales Musikfestival mobilisieren kann. Girardet lässt Gutachten anfertigen, der Skeptiker Lehmann-Grube sich überzeugen. Und der Erfolg gibt Girardet recht. „Die Besucher kommen von weit her, um am authentischen Ort die Musik von Bach zu genießen“, sagte er 2000. Und macht kein Geheimnis daraus, dass er sich erst in Leipzig zum Bach-Fan entwickelt hat. „Das war kein leichter Weg. Als Achtjähriger konnte ich mit dem Weihnachtsoratorium noch nichts anfangen.“

Stolz ist er darauf, dass es gelungen ist, nach Kurt Masur für das Gewandhausorchester die Dirigenten Herbert Blomstedt und Riccardo Chailly nach Leipzig zu holen. „Das war ein Volltreffer“. Es ist die Stärke des Kulturbürgermeisters Girardet: Er gewinnt Menschen für Leipzig. Menschen, die Geld für Leipzigs Kultur ermöglichen. Das sind sowohl Politiker des Freistaates Sachsen als auch des Bundes. Es sind aber auch Privatpersonen, die Girardet bereits vor der Wende kennen und schätzen gelernt haben. Er setzt sich dafür ein, dass das Theater der Jungen Welt eine würdige Bleibe findet. Gemeinsam mit Zoochef Jörg Junhold bastelt er am Konzept des Zoos der Zukunft, bei dem spätestens mit der weltweit einzigartigen Menschenaffenanlage Pongoland sowie der Tropenerlebniswelt Gondwanaland ein großer Wurf gelingt.

Diplomatisches Geschick für Leipzigs Kultur


Oft wird ihm im damaligen Stadtrat vorgeworfen, nicht kämpferisch genug zu sein. Doch Girardet hat es immer verstanden, mit behutsamer Hand und vor allem mit diplomatischem Geschick und Beharrlichkeit die Leipziger Kultur voranzubringen.  Natürlich gibt es auch Niederlagen: So konnte er den Abbau des
Leipziger Tanztheaters am Schauspiel 1998 ebenso wenig verhindern wie die Schließung der Ballettschule der Oper Leipzig. „Das sind Einrichtungen, die nach der Wende neu entstanden sind. Doch das Geld reichte nicht“, erinnert er sich. Auch die Zukunft des Naturkundemuseums konnte er nicht klären. Das wohl wichtigste Vermächtnis der knapp 18 Jahre Georg Girardets in Leipzig ist es wohl, das Kulturbudget auf sehr hohem Niveau zu halten. Natürlich: Die Freie Szene fühlte sich nur unzureichend von ihm vertreten. „Die Kritik ist nicht ganz unbegründet. Ich habe die Entscheidungen dem Kulturamt überlassen, das viel näher an der Freien Szene dran war.“

2009 endete die Amtszeit unter den drei Oberbürgermeistern Hinrich Lehmann-Grube, Wolfgang Tiefensee und Burkhard Jung. Girardet kann durchaus zufrieden auf sein Leipziger Lebenswerk zurückblicken. Danach bleibt er aktiv in Vorständen und bei Stiftungen. Besonders wichtig ist ihm nach wie vor die Arbeit in der Ephraim-Carlebach-Stiftung sowie seine Tätigkeit als Schatzmeister im Vorstand der Gesellschaft Harmonie Leipzig, die soziale und kulturelle Projekte sowie Kultur, Kunst und Wissenschaft in Leipzig fördert. Auch im Rotary-Club, bei der Internationalen Mendelssohn-Stiftung, im Kuratorium Bach-Archiv sowie in anderen Vereinen arbeitet er mit. Girardet hat viele Auszeichnungen bekommen, darunter das Bundesverdienstkreuz erster Klasse.

Stand: 10.01.2024

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Mathias Orbeck
Der in Leipzig-Connewitz geborene und aufgewachsene Journalist ist leidenschaftlicher Radfahrer und Naturliebhaber. 35 Jahre lang arbeitete der Lokalpatriot als Redakteur und Reporter bei der Leipziger Volkszeitung. Inzwischen als freier Autor tätig, gilt sein Interesse nach wie vor Leipzigs Historie sowie den schönen Seiten seiner Heimatstadt, deren Attraktionen er gern Gästen zeigt.
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