Bei den „Unzeitgemäßen Zeitgenossen“ handelt es sich um eine von Bernd Göbel zwischen 1986 und 1989 geschaffene Bronzeplastik in der Grimmaischen Straße am Augustusplatz. Sie wurde am 14. November 1990 als Geschenk an die Stadt Leipzig der Öffentlichkeit vorgestellt. Platziert auf einem Balken, der optisch an einen Galgen erinnert, befinden sich fünf nackte Figuren. Jede verfügt über ein goldenes Detail als charakteristisches Erfolgsattribut. Das Denkmal verkörpert Kritik an den überholten Denk- und Verhaltensweisen seiner Entstehungszeit und fungiert zugleich als Gegendenkmal mit fünf Antihelden.
Göbels personifizierter Ärger oder: zeitlos zeitgemäße Zeitgenossen?
Vom Augustusplatz kommend markiert den östlichen Eingang der Grimmaischen Straße ein prominent platziertes Denkmal mit fünf unbekleideten Menschen auf einem Balken. Wer die Bronzeplastik interpretieren möchte, der sollte einen Schritt näher herantreten und sich etwas Zeit nehmen, denn die Entstehung dieser fünf Figuren ist ebenso spannend wie nicht mit bloßer Betrachtung zu erklären.
Das von Bernd Göbel zwischen 1986 und 1989 mit dem Titel „Unzeitgemäße Zeitgenossen“ geschaffene Denkmal bildet einen Stadtgestaltiker, eine Pädagogikerin, einen Diagnostiker, einen Kunsttheoretiker und eine Rationalisatikerin ab. Ausschlaggebend für die Ideenschöpfung war Göbels Ärgernis über fünf verschiedene Charaktere, die ihm im Laufe seines Lebens begegneten. Dass ein solcher Unmut ein energischer und zugleich ausdrucksstarker Auftraggeber sein kann, zeigt sich in der Entstehungsgeschichte der „Unzeitgemäßen Zeitgenossen“.
Angefangen bei einer Pädagogin, die einen Schüler, Göbels Sohn, auf dem Kieker hatte, kurz: die Pädagogikerin. Göbels Ärgernis über den Umgang nahm alsbald im Jahr 1978 in seinem Atelier Gestalt in Form einer aus Gips geformten Pädagogikerin an, deren äußere Haltung ihre innere offenbarte. Einige Zeit später verschlug es Göbel wegen Unwohlsein zum Arzt, einem Diagnostiker, der lieber sich selbst zuhörte, anstatt auf den Herzschlag seines Patienten zu hören. Zu Göbels Verärgerung gesellt sich auch der Kunsttheoretiker, von Vorurteilen, mangelnder Selbstreflexion und einer opportunen Meinung geprägt, ebenso wie die Rationalisatikerin, die den Bürgern Amtsweisheit lehren will. Der letzte im Bunde ist der Stadtgestaltiker, welcher ohne Rücksicht auf die Historie Kirchen, Schlösser und Bürgerhäuser sprengt.
Alsbald versammelten sich die fünf Charaktere, die Bernd Göbel im Laufe der Zeit verärgert hatten, in seinem Atelier im halleschen Lettin. Der Bildhauer fasste den Entschluss, seinen gebündelten und personifizierten Unmut als „Unzeitgemäße Zeitgenossen“, auch „Beginn einer Reihe“, der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Denkmal wurde, wie von Göbel beabsichtigt, mittig am Eingang der Grimmaischen Straße vom Augustusplatz kommend platziert. Durch den prominenten Platz sollte das Kunstwerk einen Denkanstoß im belebten Stadtzentrum geben. Verstärkt wurde dies durch die Höhe des Balkens, dessen Oberkante sich auf nur 1,90 Metern Höhe befindet. Insofern können Passanten nicht problemlos darunter hindurch laufen – ein zwingender und zugleich unaufdringlicher Realismus.
Im Dezember 1988 wurden verschiedene Zitate, welche als Interpretationshilfen am Denkmal platziert werden sollten, dem Kulturverantwortlichen im Rat des Bezirks vorgelegt. Dazu zählten neben siebzehn aus Bernd Göbels Notizen stammenden auch elf weitere vom Kabarettisten Bernd-Lutz Lange. Wiederum sechs Sätze wurden wenig später nachgereicht. Die Entscheidung fiel schließlich im März 1989 auf dreizehn ausgewählte Zitate. Zu Beginn des Jahres 1990 erhielt die Leipziger Bronzebildgießerei T. Noack den Auftrag zur Umsetzung des Bronzegusses. Während der Besichtigung des fertig gestellten Werkes am 13. September 1990 wurde die letztliche Entscheidung für eine tatsächliche Aufstellung des Denkmals gefällt. Im Zusammenhang mit den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen nach dem Ende der DDR war zuletzt nicht sicher gewesen, ob die gesellschaftskritische und künstlerische Wirkung erhalten geblieben war.
Bernd Göbels Bronzeplastik wurde schließlich als Geschenk an die Stadt Leipzig am 14. November 1990 der Öffentlichkeit vorgestellt. In der dazugehörenden Pressemitteilung hieß es: „Die Anwesenden würdigten das Kunstwerk als ein zeitgemäßes Denkmal voll bitterer Ironie und humanistischem Aufbegehren gegen Dogmatismus. Engstirnigkeit und menschenverachtende Selbstüberhebung, welches ein Jahr nach Beginn der Friedlichen Revolution sowohl jüngste und noch nicht bewältigte Geschichte reflektiert als auch ein Thema von bleibender Aktualität aufgreift.“
Denkanstoß inmitten der Fußgängerzone
Bei den „Unzeitgemäßen Zeitgenossen“ handelt es sich nicht um ein Monument des gesellschaftlichen Fortschritts mit Helden des sozialistischen Alltags, sondern, im Gegenteil, um ein Gegendenkmal mit fünf Antihelden, was die Stimmung zur Entstehungszeit widerspiegelte und zugleich Kritik übte. Platziert auf einem Balken, welcher optisch an einen Galgen erinnert, balancieren die fünf unbekleideten Personen unterschiedliche geometrische Körper und blicken in verschiedene Richtungen. Weiterhin besitzt jede Figur ein goldenes Detail als charakteristisches Erfolgsattribut. Der Stadtgestaltiker trägt einen Lorbeerkranz, der Diagnostiker ein Hörrohr, die Pädagogikerin einen Hammer und die Rationalisatikerin eine Säge, während den Diagnostiker goldene Ohren und Nase kennzeichnen. Mit der Hand am Zünder für den Sprengsatz und den Kopf in Richtung der ehemaligen Universitätskirche St. Pauli geneigt, führt er blind sein Zerstörungswerk aus. Diese Darstellung Göbels spielt auf ebenjene Sprengmeister an, welche die Kirche am 30. Mai 1968 grundlos in die Luft jagten. Die fünf Figuren sind sich der sich allmählich entwickelnden Veränderung ihrer Situation nicht bewusst und stecken von Reflexion in ihren überholten Denk- und Verhaltensweisen fest.
Auf dem senkrechten Balken gravierte Göbel Zitate von Johann Wolfgang Goethe und Bertolt Brecht ein, während auf dem Querbalken der deutsche Dramatiker Rolf Hochhuth zitiert wird: „Selbstverständlich darf man einem Prinzip das Leben opfern – doch nur das eigene“. Der Standpfeiler des Balkens ist umschlungen von mystischen Kreaturen mit Brettern und Seilen. Dies kann als Versuch interpretiert werden, die sich anbahnende Katastrophe in Form eines Zusammenbruchs zu verhindern.
Bernd Göbel war bis 2008 Professor der Bildhauerei an der Hochschule Burg Giebichenstein in Halle. Bis heute verfehlen seine „Unzeitgemäßen Zeitgenossen“ ihre Wirkung nicht. Viele Passanten bleiben in der der belebten Einkaufsmeile überrascht stehen und verweilen oder posieren vor dem skurrilen Denkmal. Es ist eine der meistfotografierten Attraktionen der Stadt Leipzig.
Stand: 26.01.2024