Die Erfolgsgeschichte beginnt mit Faust. Nahezu jeder kennt Reclams Universal-Bibliothek, deren Ursprung in Leipzig liegt. Deshalb hat der Verein Literarisches Museum um Vereinschef Hans-Jochen Marquardt dem Verleger Anton Philipp Reclam ein eigenes Museum gewidmet. Den Grundstock dafür bildet die Privatsammlung Marquardts. Zu finden ist das kleine, aber feine Museum im Souterrain des Gebäudes Inselstraße 20 (Eingang Kreuzstraße 12). Das Haus gehört dem Schulträger Rahn Education, der dem Verein mietfrei zwei Räume bereitstellt. Zugleich hat die Schulgesellschaft eine große Regalwand gesponsert. Gleich gegenüber an der Ecke Inselstraße/Kreuzstraße liegt der frühere Gebäudekomplex des Reclam-Verlags. Im Museum werden gelegentlich Lesungen und andere Veranstaltungen angeboten. Oft ist das aus Kostengründen allerdings nicht möglich, denn ins Museum dürfen maximal 30 Personen hinein.
Reclam im Gedächtnis Leipzigs bewahren
„Unser Ziel ist es, den Namen Reclam im kulturellen Gedächtnis der Stadt Leipzig zu bewahren und zu pflegen“, sagt Marquardt. Wie lange das in einem eigenen Museum gelingt, ist offen. Der inzwischen betagte Germanist, Kleist-Forscher und Kulturwissenschaftler sucht einen Nachfolger, der das kleine Museum einmal übernimmt. Er reist zweimal die Woche aus Halle/Saale an, um es zu öffnen. Ein wenig Unterstützung gibt es vom Verein, zu dessen Mitgliedern auch der Verlag als Körperschaft gehört. Der Vereinsname knüpft an den von Reclam 1828 gegründeten Verlag Literarisches Museum an, der 1837 in Verlag Philipp Reclam jr. umbenannt wird. Derzeit laufen die Verhandlungen, die Sammlung dauerhaft in einer städtischen Einrichtung zu bewahren.
Ein nächstes Highlight steht am 1. Oktober 2028 an. Dann jährt sich die Gründung des Verlages in der Grimmaischen Gasse 4 zum 200. Mal. Dessen erstes Domizil ist ein Haus gegenüber dem Löwenbrunnen neben dem heutigen Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Deshalb hat sich der Verein (24 Mitglieder in aller Welt) vorgenommen, dort eine Gedenktafel anzubringen.
Verleger Reclam gelingt Geniestreich
Es war ein Geniestreich: Der Verleger Anton Philipp Reclam und sein Sohn Hans Heinrich Reclam haben die Neuregelung des Urheberrechts 1837 genutzt. Vom 10. November 1867 an waren Werke von Autoren, die vor dem 9. November 1837 gestorben waren, ‚gemeinfrei‘. Für die Verlage bringt dies den Vorteil, dass sie keine Tantiemen mehr zahlen müssen. Darauf hat sich Reclam akribisch vorbereitet, der mit „Faust I“ sogleich das erste Heft der künftigen Reihe in einer Auflage von 5.000 Exemplaren herausbringt. An diesem Tag legt er bereits 52 weitere Hefte vor, darunter 25 zwischen März 1865 und April 1867 gedruckte Shakespeare-Dramen. Das ist der Start für Reclams Universal-Bibliothek. Zuerst wird im März 1865 „Romeo und Julia“ (später Nr. 5 der Reihe) produziert. Vom historischen Heft 1 sind weltweit noch drei Exemplare bekannt. Eins ist in der Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums im Alten Rathaus zu sehen. Bis heute sind in der Universal-Bibliothek des Verlags nahezu 30.000 Titel erschienen.
Eine Leidenschaft für das Sammeln
„Mich hat fasziniert, wie Literatur für wenig Geld weiten Teilen der Bevölkerung zugänglich gemacht wurde“, begründet Marquardt seine Sammelleidenschaft. Der Verlag hat sein früheres Stammhaus in Leipzig im März 2006 geschlossen. Nach wie vor gibt er die älteste noch existierende deutschsprachige Taschenbuchreihe heraus. Das Museum zeigt alle in Leipzig erschienenen Titel der Reihe im Wandel der Zeit. Auch die Nachfolge-Reihe steht im Museum. „Die Stuttgarter Reihe konnte ich leider nicht sammeln, da kam ich zu DDR-Zeiten einfach nicht ran“, bedauert er. Tausende Exemplare hat er aber inzwischen ebenfalls erworben.
Marquardt besitzt sämtliche Titel der Leipziger Universal-Bibliothek von deren Gründung 1867 bis 1990 und damit deutlich mehr als die Deutsche Nationalbibliothek, die als Deutsche Bücherei erst 1913 gegründet wird und damals zunächst rückwirkend ab 1912 sammelt.
Die Sammlung Marquardts umfasst aber nicht nur die Universal-Bibliothek, sondern ist viel umfangreicher. Dazu gehören auch Zeitschriften, die Reclam einst herausgibt. Eine heißt „Leipziger Locomotive“ – ein Volksblatt für tagesgeschichtliche Unterhaltungen – und wird nach anderthalb Jahren verboten. „Ich gucke weiterhin nach wie vor nach Besonderheiten.“
Bücherautomat und Feldbücherei aus den Weltkriegen
Ein Hingucker ist der Nachbau eines Bücherautomaten, den der Reclam-Verlag der Ausstellung als Leihgabe beisteuert. Von 1912 an können Leser sich aus diesem Automaten, der auf Bahnhöfen, auf Schiffen, in Krankenhäusern oder Kasernen steht, Bücher von Reclams Universal-Bibliothek ziehen. Der Automat ist voll funktionstüchtig. Unikate wie eine Blechkassette als „Wochenendbücherei“ der 1920er-Jahre sowie tragbare Feldbüchereien aus beiden Weltkriegen sind ebenfalls zu sehen.
Die Feldbücherei hatte fünf verschiedene Füllungen mit deutschsprachiger Literatur, Regelbücher für Karten- und Brettspiele sowie humoristische Ausgaben, um von den Schrecken des Krieges abzulenken. Erschienen sind auch Tarnschriften. Das sind Bücher, die nur wie Reclam-Hefte aussehen. Sie sind von Kriegsgegnern, beispielsweise in England, hergestellt und mit dem Flugzeug abgeworfen worden. Darin konnten die Soldaten lesen, wer schuld am Krieg war. 1936 gibt ein vermeintlicher Dr. med. Wohltat eine Anleitung fürs Vortäuschen von Krankheiten heraus, damit junge Männer schon nach der Musterung nicht zum Militär müssen. Der Verlag kann nichts dagegen machen. Es ist jedoch ein Beleg für die Berühmtheit der Reihe.
Marquardt hat viele Unikate. Darunter die handschriftliche Freigabe des Druckes von Hermann Hesse für seine Erzählung „In der alten Sonne“ sowie viele Briefe. Ebenso zu sehen: Die Festschrift zum 100. Geburtstag des Verlages, bei der Thomas Mann im Alten Theater die Festrede hält. Zu sehen ist auch eine Ausgabe mit falsch gedrucktem Sowjetstern, deren Einband ausgetauscht werden musste. Eingestampft wird das Buch des rumänischen Autors Petru Dumitriu, von dem 1960 nahezu 15.000 Hefte seines Romans „Familienschmuck“ vernichtet werden, weil er in den Westen geflohen ist. Dort erscheint der Roman ebenfalls. Die Reclamhefte liegen zu jenem Zeitpunkt bereits auslieferungsfertig da. Davon gibt es nur noch ein Exemplar – und das befindet sich im Museum. Aufdrucke wie VEB Reclam wurden nur bei zehn Ausgaben verwendet. „Der Verlag war von der Sowjetischen Militäradministration keineswegs als Kriegsverbrecher eingestuft, durfte daher nach geltendem DDR-Recht nicht enteignet werden“, erklärt Marquardt. Ernst Reclam hatte sogar eine Lizenz, hätte daher in der DDR bleiben können. 1948 geht er jedoch nach Stuttgart, um dort den Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart aufzubauen. Das Leipziger Unternehmen wird teilenteignet und als „Verlag mit staatlicher Beteiligung“ weitergeführt. 1992 wird der Leipziger Reclam-Verlag dann reprivatisiert.
Marquardt steckt bei den Führungen voller Geschichten, die durchaus Stoff für ein Buch bieten. „Ich werde mich aber zur DDR-Zeit nicht in einem Buch äußern, weil ich mich selbst als befangen betrachte“, erklärt er. Sein Vater Hans Marquardt hat ab 1961 viele Jahre den Reclam-Verlag geleitet. „Von ihm stammt aber keins der Hefte“, so der habilitierte Wissenschaftler, den die Sammelleidenschaft 1967 gepackt hat.“
Stand: 10.03.2024