Es ist ein städtischer Feiertag: Der 9. Oktober 1989 hat sich tief im kollektiven Gedächtnis der Stadt Leipzig verankert. Mehr als 70.000 Menschen überwinden ihre Angst und begehren auf. Die Bezirkseinsatzleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) stellt bereits am Morgen fest, dass Demonstrationen nicht mehr zu verhindern sind. „Leute, keine sinnlose Gewalt, reißt euch zusammen“, steht auf einem Bettlaken, das seit den frühen Morgenstunden an der Nikolaikirche hängt. Dort beginnt um 17 Uhr das Friedensgebet. Der 9. Oktober 1989 geht als entscheidender Tag der Friedlichen Revolution in die Geschichtsbücher ein. Bereits seit 1982 hatten Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen regelmäßig zu Friedensgebeten in die Nikolaikirche eingeladen.
Aufruf zum Verzicht auf Gewalt
An Leipziger Schulen und in Betrieben sind im Vorfeld des 9. Oktobers 1989 offiziell Warnungen ausgesprochen worden, an diesem Montag auf keinen Fall in die Innenstadt zu gehen, weil dies gefährlich werden könnte. Auf dem Markt stehen die Stände der Leipziger Markttage. Gerüchte werden gestreut, dass Demonstranten sie möglicherweise anzünden wollen. Krankenhäuser sind aufgefordert, so heißt es, Blutkonserven bereitzustellen. Dem Pfarrer der Nikolaikirche, Christian Führer, ist bewusst, dass an diesem Montag trotz aller staatlichen Drohungen mit einem großen Ansturm zum Friedensgebet zu rechnen ist. Bürgerrechtsgruppen um Pfarrer Christoph Wonneberger haben einen Appell verfasst, der 25.000 Mal mühsam vervielfältigt und später verteilt wird. Darin wird zum Verzicht auf Gewalt aufgerufen. Bei den Mitarbeitern staatlicher Organe liegen ebenfalls die Nerven blank. Nach vorherigen Demonstrationen will die Staatsmacht in Leipzig den „Spuk ein für alle Mal beenden“. Dabei wird mit dem Einsatz von Schusswaffen gedroht. 3.000 bewaffnete sowie 5.000 so genannte gesellschaftliche Kräfte werden auf den Einsatz vorbereitet. Dabei werden auch frühzeitig SED-Mitglieder zum Friedensgebet in die Nikolaikirche geschickt, um Provokationen zu verhindern, wie es heißt.
Die Nikolaikirche ist bereits nach 14 Uhr voll besetzt. Kurz vor 16 Uhr versammeln sich vor dem überfüllten Gotteshaus mehrere hundert Menschen, die nicht mehr eingelassen werden. Die Volkspolizei ist in der ganzen Stadt mit Hunden präsent, Lastkraftwagen mit Gittern stehen bereit. Die Kampftruppen sind ebenfalls einsatzbereit. Geschäfte und Restaurants in der Innenstadt werden früher geschlossen. Um 17 Uhr beginnt dann das Friedensgebet, das von Pfarrer Weidel und der Arbeitsgruppe Frieden aus Gohlis gestaltet wird. Weitere Gottesdienste finden zeitgleich in der Reformierten Kirche, der Michaeliskirche sowie in der Thomaskirche statt, die ebenfalls überfüllt sind.
Aufruf der Leipziger Sechs über den Stadtfunk
Ab 17.30 Uhr wird im Leipziger Stadtfunk der Aufruf der Leipziger Sechs verlesen: Kurt Masur, Bernd-Lutz Lange, Peter Zimmermann, die SED-Sekretäre Roland Wötzel, Jochen Pommert und Kurt Meyer hat die gemeinsame Sorge vor einer Eskalation und einem möglichen Blutvergießen zusammengeführt. „Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen eine gemeinsame Lösung“, heißt es in dem Aufruf, der im Stadtfunk immer wieder gesendet wird. Der Aufruf wird vom Universitäts-Theologen Peter Zimmermann in schriftlicher Form beim Friedensgebet in der Nikolaikirche übergeben sowie von weiteren Boten in die drei anderen Kirchen gebracht und dort verlesen. Die Leipziger Sechs rufen zur Besonnenheit auf, damit der friedliche Dialog möglich wird.
Als später etwa 2.000 Menschen die Nikolaikirche verlassen, treffen sie draußen auf Zehntausende. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Damit beginnt die bislang größte Massendemonstration, die vom Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) entlang des Promenadenrings zieht. Rufe wie „Wir sind das Volk“ werden laut. Es wird gefordert, das Neue Forum zuzulassen. Beteiligt an dieser Demonstration sind nicht nur Einwohner Leipzigs. Tausende sind aus der ganzen DDR angereist. Die Angst, dass es zu einer „chinesischen Lösung“ kommt, also wie auf dem Tian’anmen-Platz in Peking am 5. Juni 1989 auf die Demonstranten geschossen wird, sitzt tief. Die Menschen rücken mit Kerzen zusammen. Ein Ruf eint sie: „Keine Gewalt“. Das Licht als Hoffnungsträger ist bis heute geblieben – Leipzig feiert am 9. Oktober jedes Jahr sein Lichtfest.
„Wir sind das Volk“ wird Losung des Tages
Gegen 19.25 Uhr wird es an jenem 9. Oktober 1989 noch einmal besonders brenzlig. Der Demonstrationszug erreicht die Runde Ecke (heute: Gedenkstätte und Museum in der „Runden Ecke“), den Sitz der Stasi-Bezirksverwaltung. Die Polizei, die vor dem Gebäude postiert worden war, greift nicht ein. Jubel macht sich unter den Demonstranten breit, als die Bezirksbehörde passiert wird, ohne dass es zu Zwischenfällen oder Ausschreitungen kommt. „Wir sind das Volk!“ wird erneut zur Losung des Tages.
Gegen halb neun löst sich der Demonstrationszug auf. Im Westfernsehen laufen später die ersten Filmberichte über den Tag der Entscheidung in Leipzig. Angesichts der Massen auf dem Ring ziehen sich die Sicherheitskräfte zurück. Der Journalist und DDR-Bürgerrechtler Siegbert Schefke und sein Mitstreiter Aram Radomski filmen die Montagsdemonstration vom Kirchturm der Reformierten Kirche in Leipzig und schmuggeln Filme in den Westen.
Die schwer bewaffnete Diktatur muss vor dem Mut und dem Veränderungswillen Zehntausender gewaltlos kapitulieren. Der Anfang vom Ende der DDR ist eingeläutet.
Stand: 19.10.2024