Hochhäuser prägen die Silhouette vieler deutscher Großstädte. Meistens handelt es sich dabei um Bürotürme, denen zugetraut wird, dass sie das Selbstverständnis der darin residierenden Banken oder Industriekonzerne prägnant, ja eindringlich herauskehren. Anders in Leipzig. Hier rangiert ein Wohnhochhaus in der Spitzengruppe der höchsten Bauwerke. Über viele Jahre hinweg ließ es sich der Höhe nach von keinem anderen deutschen Wohnturm übertreffen – das Wintergartenhochhaus.
Dominante des Aufbauwerks
Ende der 1960er war das Aufbauwerk in Leipzig nach den Zerstörungen der alten Stadt im Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen geschafft. Großzügiger als im Sinne bloßer Stadtreparatur sollte nunmehr geplant und gebaut werden. „Dominanten“ fanden Eingang in den Sprachgebrauch der Baumeister und der an Architektur und Städtebau interessierten breiten Öffentlichkeit. Die Messestadt Leipzig sollte in die Höhe wachsen und an fünf Stellen den Siegeszug einer sich überlegen dünkenden „neuen Gesellschaftsordnung“ gestalterisch in Beton gießen. Die „neuen sozialistischen Stadtzentren“ wurden kräftig propagiert – und im Mai 1968 steckte in der Leipziger Volkszeitung die erste vierfarbige Beilage dieses Blattes mit zahlreichen Planzeichnungen und Modellen, wie schön alles werden sollte. Fünf Hochhäuser – die Dominanten des Forschrittsversprechens und der Schlaglichtauftritte vor dem zwei Mal pro Jahr anreisenden internationalen Messepublikum – sollten eine weithin sichtbare Skyline formen (auch wenn solch ein Amerikanismus damals im Sprachgebrauch fehlte). Es ging neben dem Wohnhochhaus Wintergartenstraße um das Hochhaus der Karl-Marx-Universität (heute City-Hochhaus), ein Hotel am Friedrich-Engels-Platz (heute Goerdelerring, nicht realisiert), ein Hochhaus am Bayerischen Bahnhof als Entree zur Straße des 18. Oktober (nicht realisiert) und einen weiteren Wohnturm im Zentrum der Messemagistrale (nicht realisiert). Die schwindende Umsetzungsquote der hochfliegenden Pläne war der Diskrepanz zwischen Präsentationswunsch und Baukosten für die speziell, keineswegs am Fließband projektierten Hochhäuser geschuldet. Plattenbau ging schneller und war billiger.
Ein Hochhaustraum geht in Erfüllung
Doch an der Wintergartenstraße ging der Hochhaustraum in Erfüllung. Auf dem benachbarten Hauptbahnhof kamen die Messegäste mit den Sonderzügen und mit den Pendelbussen vom Flughafen an. Dort verflocht sich der Stadtverkehr mit dem hereinflutenden Autostrom. Es war die angemessene Stelle, um ein Achtungszeichen in der Symbolgestalt eines erhobenen Zeigefingers zu setzen.
Die geschwungene Einfädelung Promenadenring/Wintergartenstraße ist ein prominenter Ort. Deshalb war Stadtbaurat Hubert Ritter mit seiner legendären Vision einer Ringcity schon in den 1920er Jahren auf die Idee gekommen, an der Ostseite des Hauptbahnhofs ein Hochhaus zu platzieren. Der Krieg hinterließ dagegen an diesem Fleck den Torso des Hotels Stadt Rom. Es fiel 1969, um das Baufeld für das Hochhaus zu räumen, auch wenn die Bodenbeschaffenheit für einen Vielgeschosser an diesem Fixpunkt nicht ideal ist. Mit einer massiven Betonwanne ließen sich die Nachteile korrigieren.
Das Wohnhochhaus entstand zwischen 1970 und 1972. Im wahrhaft praktischen Mittelpunkt stand der erstmals für ein Bauwerk dieser Dimension angewandte Betongleitkern. Wie es damit vorangeht, stand jeden Morgen mit der Regelmäßigkeit des Wetterberichts oder des Fernsehprogramms in der Tageszeitung. Ein gedrucktes Bautagebuch gewissermaßen. Die Tatra-Transportbetonmischer rollten nach einem strengen Plan an. Fiel einer aus, sprang sofort ein vorgehaltenes Ersatzfahrzeug ein. Für die laufenden Messungen der Maßhaltigkeit des Gleitkerns kam erstmals hochmoderne Lasertechnologie zum Einsatz. Die Kontinuität und Zuverlässigkeit des Wachsens prägte alle Abläufe.
Attraktive Perspektiven jederzeit und allerorten
Architektonische Leitidee des Wohnhochhauses, entworfen von Horst Siegel, sind die 16 Außenecken des symmetrischen Grundrisses aller 26 Wohnetagen, die sich optisch durch abgeschrägte Balkonvorderseiten zum Eindruck eines achteckigen Baukörpers verdichten. Rote Sichtflächen an den Vorderseiten der Balkone und die vorgefertigte schneeweiße Außenhaut unterstrichen den herausgehobenen, immer besonders reinlich wirkenden Auftritt des Bauwerks in einem sich ändernden Stadtbild.
Und erst die Aussicht! Egal, auf welcher Seite jemand in der sozial wohlweislich durchmischten Hausgemeinschaft eine Wohnung bekam, für eine überzeugende Perspektive war gesorgt. Die Sonnenaufgänge im Osten der Stadt! Das Innenstadtpanorama im Süden! Das wuselige, großstädtische Umfeld des Hauptbahnhofs! Lob kam und kommt von allen Seiten. Das Wohnhochhaus Wintergartenstraße – wiewohl ein Solitär – stand trotzdem nicht allein. Unten nahm das zweietagige Restaurant Stadt Dresden die leicht geschwungene Linie des Georgirings auf, und nach Osten erstreckte sich der ebenfalls zweigeschossige, ausgreifende Bauriegel des „Einkaufszentrums am Hauptbahnhof“ mit dem Hortex-Markt, der jeden Morgen mit frischem Obst und Gemüse aus Polen direkt beliefert wurde.
In dieser Kombination glitt das Wintergartenhochhaus nahtlos in die deutsche Einheit. Eigentümer des Komplexes wurde im nunmehr marktwirtschaftlichen Gewand die städtische Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft LWB. Sie verkürzt den Namen ihres Juwels gern auf Wiga und hat sich ihm bewusst dadurch genähert, dass sie ihren neuen Unternehmenssitz zu Füßen des damals rund 40 Jahre alten Hochhauses errichtete. Um dieses Vorhaben auf dem kompliziert geformten Grundstück umsetzen zu können, mussten das Restaurant und das Einkaufszentrum abgerissen werden. Leer blieb die Fläche selbstverständlich nicht. Im Anschluss an die gründliche Sanierung des Hochhauses vor der FIFA Fußball-WM 2006 entstanden neben dem genannten LWB-Hauptquartier ein Hotel und schicke Wohnbauten, die es – gemessen an der sich bietenden Aussicht – natürlich nicht mit einer der oberen Etagen des Hochhauses aufnehmen können.
Ach ja, die Höhe. Fast 107 Meter sind es bis zur Oberkante des Doppel-M der Leipziger Messe, das sich von Beginn an in luftiger Höhe dreht. Auf fast 96 Meter Höhe schichten sich die Wohnetagen. Damit war das Wintergartenhochhaus bis zum Jahr 2020 in ganz Deutschland das höchste reine Wohngebäude. Dann stürmte der Grand Tower in Leipzigs Partnerstadt Frankfurt am Main mit seinen 180 Metern Höhe auf 47 Etagen an die Spitze. Sei’s drum: Für Wohnungen im Wiga führt die LWB eine Warteliste.