Schulze, Christian

Heimleiter, Kommunalpolitiker | geb. am 20. Mai 1963 in Berlin

Er hält einen Rekord: 34 Jahre vertritt Christian Schulze die Sozialdemokraten im Leipziger Stadtrat. Und hat dabei als Finanzexperte und Urgestein der SPD einige Sternstunden, aber auch Skandale erlebt. Seit der Neukonstituierung des Rates im September 2024 ist er allerdings nicht mehr dabei. Die Ergebnisse der SPD haben für seine Wiederwahl nicht gereicht. Das politische Geschehen in Leipzig wird er weiter interessiert verfolgen und aufpassen, dass sich „seine Stadt“ gut entwickelt. „Sonst mache ich von der Seitenlinie Krach“, sagt Schulze in seiner letzten Rede im Stadtrat im August 2024. Politisch engagieren wird er sich weiter im Ehrenamt. Vor allem in seinen Vierteln, in Lindenau und Leutzsch.

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Geboren wird Christian Schulze am 20. Mai 1963 als Sohn eines Pfarrers am Prenzlauer Berg in Berlin. Dort wird er eingeschult, die Familie zieht aber bald nach Berlin-Johannisthal. Nach der Oberschule absolviert er eine Lehre in der Landwirtschaft, wird Agrotechniker/Mechanisator und schreibt seine Abschlussarbeit über die Kartoffelsorte „Adretta“. Mit 18 Jahren kommt Schulze nach Leipzig, um am Theologischen Seminar zu studieren. Nach zweieinhalb Jahren scheidet er allerdings aus, repariert Lkw-Anhänger in einer Schmiede, macht verschiedene Jobs. 1984 beginnt er als Handwerker und Grabmacher beim Kirchlichen Friedhofsamt und schafft nach einem halben Jahr als 21-Jähriger den Sprung zum Friedhofsleiter in Lindenau. Er beginnt, sich in kirchlichen Gruppen zu engagieren – gemeinsam mit Menschen, die alle der eine Gedanke eint: „In diesem Land muss was passieren!“.

Die Gründung der SDP in Leipzig


Von 1988 an arbeitet Schulze als Verwaltungsleiter in der
Nathanaelkirche in Lindenau. Dort gründet sich im Spätsommer 1989 ein politischer Gesprächskreis, der zunächst das Neue Forum unterstützt. Geliebäugelt wird allerdings mit einem Leipziger „Ableger“ der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP), die im Oktober 1989 in Schwante bei Berlin entsteht. Schulze ist aktiv dabei, gemeinsam mit Andreas Schurig die SDP auch in Leipzig ins Leben zu rufen.

Als Verwaltungsleiter besitzt er damals einen Computer mit Nadeldrucker. Auf der Montagsdemonstration am 6. November 1989 können daher Handzettel verteilt werden, mit denen zur Gründung der Partei am 7. November 1989 in die Reformierte Kirche am Tröndlinring eingeladen wird. „Auf dem Weg dorthin kamen Ängste in mir hoch. Hat die Stasi vielleicht doch noch die Kraft, alles abzusperren und zu verhindern?“, erinnert Schulze sich. Doch die Kirche ist gut gefüllt. Ungefähr 150 bis 200 Bürger versammeln sich im Gotteshaus, darunter auch junge Männer von der Stasi. Die Gründung gelingt, die Umbenennung in SPD erfolgt dann im Januar 1990. Schulze vertritt seine Partei in Lindenau, Leutzsch und Böhlitz-Ehrenberg.

Für die Kommunalwahl am 6. Mai 1990 holen die neuen Genossen dann den Hannoveraner Oberstadtdirektor Hinrich Lehmann-Grube nach Leipzig. Das war eigentlich ein großer Zufall: Den Namen Lehmann-Grube hört Christian Schulze das erste Mal am 19. März 1990. Die Leipziger Sozialdemokraten lecken zu dieser Zeit im Haus der Demokratie ihre Wunden. Sie haben die erste freie Volkskammerwahl in der DDR haushoch verloren. Für die sieben Wochen später stattfindende Kommunalwahl in Leipzig wollen sie dennoch einen SPD-Spitzenkandidaten aufstellen. Ursula Lehmann-Grube ist damals Gast beim Lindenauer SPD-Ortsverein. Sie wird gefragt, ob sich ihr Mann eine Kandidatur vorstellen kann. Da dieser in Hannover als Verwaltungschef unzufrieden ist, kommt ihm der Ruf aus Leipzig gerade recht. Schulze bezeichnet „LG“, wie er im Rathaus oft genannt wird, später als seinen politischen Ziehvater.

LG wird der politische Ziehvater


Lehmann-Grube wird Oberbürgermeister, die SPD mit 35 Prozent die stärkste politische Kraft – und Schulze einer von 45 Sozialdemokraten in der Stadtverordnetenversammlung, die damals 128 Sitze hat. „Eigentlich wollte ich als anständiger Sozialdemokrat in den Sozialausschuss. Da ich in der Kirchgemeinde Lohn gerechnet und die Kasse geführt habe, schickte mich die Fraktion in den Finanzausschuss“, erinnert er sich. Diesen leitet er ab September 1990, nachdem die Vorgängerin wegen Stasi-Verstrickungen abgelöst wurde. Insgesamt bleibt er 30 Jahre Finanzausschusschef.

Am Tisch von Lehmann-Grube wird überlegt, wie Leipzig bis Ende 1990 überhaupt über Wasser gehalten werden kann. „Das hat mich als damals 26-Jährigen sehr beeindruckt“, gibt er zu. Ein Jahr zuvor – bei der Schwindelkommunalwahl am 7. Mai 1989 in der DDR, wie er sagt – wird er nur mit großer Not zur konstituierenden Sitzung der Stadtbezirksversammlung West als Besucher zugelassen. „Ein Jahr später saß ich dann an den Hebeln der Macht und durfte mitentscheiden, wofür das Geld ausgegeben wird“. Wichtig ist zunächst, die Finanzierung für Kitas, Schulen, Heime abzusichern sowie eine Verwaltung aufzubauen. In den Aufbruchsjahren der 1990er seien alle beseelt davon gewesen, das Überleben der Stadt zu sichern, erzählt Schulze.

Die Arbeit im Stadtrat ist über die Jahre schwieriger geworden – die zunächst konstruktive Zusammenarbeit der Aufbruchsjahre über Parteigrenzen hinweg ist politischen Zwängen und Spielchen gewichen. „Wir haben uns bemüht, eine Vermittlerrolle einzunehmen und Mehrheiten für den Oberbürgermeister und die Verwaltung zu organisieren“, konstatiert Schulze.

Weder schwarze Straßen noch rote Kitas


Eins betont er immer wieder: „Für mich gab es nie schwarze Straßen, rote Kitas oder grüne Radwege. Mein Credo war immer: Ich bin für das Beste der Stadt unterwegs.“ Wer gewählt ist, müsse Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen. Dabei gehe es in erster Linie um Vernunft. Von Lehmann-Grube habe er gelernt, wie er betont, „dass man zu einer Sache stehen, zu einer getroffenen Entscheidung Haltung zeigen muss, sich nicht gleich vom ersten Wind umpusten lässt“.

Eine der Sternstunden ist für Schulze die Gründung einer Tunnel GmbH, in die 5 Millionen DM eingezahlt werden. „Wir nahmen an, dass die damals geplante Transrapid-Strecke zwischen Berlin und Hamburg scheitert. Und Geld im Bund übrig ist, das wir für unser Tunnelprojekt nutzen können.“ Wer heute mit der S-Bahn durch den City-Tunnel fährt, weiß, dass die Rechnung aufgegangen ist. Um viele Projekte wie die Umgestaltung des Hauptbahnhofes oder die Verlagerung der Leipziger Messe sind erbitterte Auseinandersetzungen geführt worden. Heute sind es Entscheidungen, die kaum jemand noch ernsthaft infrage stellt. „Ich habe mich immer als Ansprechpartner der Menschen vor Ort gesehen und für die Themen, die diese beschäftigen.“ Sei es ein klappernder Gullydeckel oder ein fehlender Radstreifen. Für seine Verdienste, darunter die fast 30-jährige Leitung des Ortsvereins Alt-West der SPD, wird er 2019 von seiner Partei mit der Willy-Brandt-Medaille geehrt. 2024 erhält er ebenfalls die Goldene Ehrennadel der Stadt Leipzig.

Seit 1998 leitet Christian Schulze ein Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt mit 100 Bewohnern sowie 75 Beschäftigten in Beerendorf bei Delitzsch. Nach dem Ausscheiden aus dem Stadtrat verbringt er wieder mehr Zeit mit der Familie, die von Stockholm bis Zürich verstreut ist. Mit seiner Frau hat er fünf Kinder großgezogen, das fünfte Enkelkind ist unterwegs. Er lernt inzwischen intensiv Englisch, damit er sich besser mit seinem Schwiegersohn in Schweden verständigen kann. Nach wie vor singt er in zwei Chören, darunter in der Taborkantorei, und ist ein leidenschaftlicher Motorradfahrer.

Stand: 09.10.2024

Nabert, Thomas

Historiker, Geschäftsführer | geb. am 9. September 1962 in Thale/Harz

Er sieht sich nicht als Verleger, vielmehr als Büchermacher. Dabei hat Thomas Nabert, der Geschäftsführer des Vereins Pro Leipzig, seit vielen Jahren etliche Bücher geschrieben oder als Herausgeber an ihnen mitgewirkt. Die Liste der bei Pro Leipzig erschienenen Titel ist mit rund 370 sehr groß. Sein Hauptaugenmerk richtet der Verein jedoch darauf, Bürger zu aktivieren, sich kritisch mit ihrer Stadt und den entsprechenden Planungen auseinanderzusetzen und selbst behutsame Ansätze zur Stadtentwicklung beizutragen. Aus dieser Idee heraus ist Pro Leipzig entstanden. Thomas Nabert ist seit Sommer 1991 dabei.

Bildergalerie - Nabert, Thomas

Geboren wird er am 9. September 1962 in Thale. Im Harz wächst Thomas Nabert zunächst in ländlicher Idylle auf und geht in Allrode zur Polytechnischen Oberschule. Die Mutter, eine Gemeindeschwester, zieht nach der Trennung vom Vater nach Meuselwitz. Meuselwitz wird für Thomas ein wenig zum „Kulturschock“. Dort gibt es plötzlich mehrstöckige Häuser mit einer gewissen Braunkohle-Patina, wie er es später nennt. Er erlebt den neuen Ort gerade am 1. Mai, als die Kampfgruppen aufmarschieren. Das kennt er von seinem Dorf, das ein wenig „hinterm Berg“ liegt, nicht. Jenes Tamtam habe ihn erschreckt, erinnert er sich. Das Abitur legt er 1981 auf der Erweiterten Oberschule in Meuselwitz ab.

Als Heizer in der Braunkohle


Im Braunkohlekombinat Regis beginnt er im August 1981 eine Tätigkeit als Heizer. Er will die Zeit bis zum Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee und zum späteren Studium überbrücken. Die Zeit in der Kohle hat ihn geprägt, da die Arbeiter das Herz am richtigen Fleck haben und freimütig reden. Ihnen kann schließlich niemand drohen, sie „in die Kohle“ zu schicken, wie es in der DDR oft heißt. Denn dort arbeiten sie bereits.

Im September 1983 nimmt Thomas Nabert ein Studium an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auf. Ursprünglich will er Forstingenieur werden. Doch das Interesse für Geschichte ist größer. Also lässt er sich zum Diplomlehrer für Geschichte ausbilden. In den Schuldienst geht er nicht, stattdessen schließt sich ein Forschungsstudium in Neuer Geschichte an. Schwerpunkt an der Universität ist dabei Adel und Großgrundbesitz. Nebenberuflich unterrichtet Nabert Geschichte an der Volkshochschule, an der Schüler damals ihren Schulabschluss nachholen können. Heute gibt es dafür spezielle Abendschulen. Seit 1984 lebt er in Leipzig, lernt hier seine spätere Frau Andrea kennen, die ebenfalls viel publiziert.

Die Sorge um die historische Identität


Im Sommer 1990 trifft Nabert auf
Bernd Sikora, einen seiner späteren Mitstreiter. Sikora gehört zu jenen engagierten Bürgern, die sich schon 1988 bei einem Ideenwettbewerb fürs Stadtzentrum einbringen wollen. Sie eint die Sorge, dass Leipzigs gründerzeitliche Bausubstanz immer mehr verfällt, die Stadt von Tagebauen umklammert wird, ihre Identität verlieren könnte. Nabert erlebt das Drama, wie sich die Braunkohlebagger sowohl im Süden als auch im Norden an Leipzig heranfressen, bei seinen Fahrten von Meuselwitz nach Halle oder Leipzig, hautnah. „Der Verfall tat mir im Herzen weh“, sagt er. Und er wird großer Fan des Buches „Leipziger Landschaften“, in dem Bernd Sikora, Nobert Vogel und Peter Guth 1987 schonungslos den Verfall dieser Kulturlandschaften aufarbeiten. Er hat zunehmend weniger Lust, auf eine Assistenz an der historischen Fakultät der Uni Halle. Deshalb nutzt er die Chance, bei Pro Leipzig mitzutun.

Dabei gilt der 21. Februar 1991 als Geburtsstunde der Initiative. An jenem Tag treffen sich im Gasthaus „Goldene Krone“ in Connewitz Persönlichkeiten wie beispielsweise Bernd-Lutz Lange, Gunter Böhnke, Wolf-Dietrich Rost, Heinz-Jürgen Böhme, Detlef Lieffertz und Gudrun Neumann. Sie wenden sich mit einem Appell „Pro Leipzig“ an die Öffentlichkeit. Eine Ausstellung „Pro Leipzig. Ansätze zur behutsamen Stadterneuerung“ im Messehaus am Markt legte schon im November 1990 den Finger in die Wunde. Die gibt dem späteren Verein, der sich am 25. Februar 1993 gründet, seinen Namen.

Ein unermüdlicher Büchermacher


Zunächst geht es darum, Strukturen aufzubauen, wobei der Verein Wissenschaftszentrum Leipzig hilft. Dort ist Nabert zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt. Ab 1993 wird Thomas Nabert, der kurz zuvor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg über Neuere Geschichte promoviert, Geschäftsführer von Pro Leipzig. Zwei Jahre wird Pro Leipzig institutionell gefördert und etabliert sich bis Mitte der 1990er. Nabert ist für die Publikationen im Eigenverlag des Vereins zuständig. „Damit finanzieren wir unsere Arbeit“, sagt er.

Große Sprünge lassen sich da allerdings nicht machen, wobei der Anspruch des Vereins groß ist. Los geht es zunächst mit 18 Heften übers Waldstraßenviertel, in dem der Verein bis 2020 sein Domizil hat. Erschienen sind ebenfalls 70 Stadtteilhefte, die mit ihrer blassgelben Optik ein Markenzeichen von Pro Leipzig sind. Das zusammengetragene Wissen wird in Datenbanken festgehalten. Zudem entstehen Studien fürs Grünflächenamt – etwa über Parks und die Naherholung. Vieles davon wird publiziert.

„Der stärkste Antrieb sind meine persönlichen Interessen“, betont Nabert. „Das ist ein großer Vorteil anderen gegenüber, die ihre Arbeitszeit absolvieren und auf die Freizeit warten.“ Bücher zu machen, sei seine Leidenschaft. Und er bohrt gern tief, um möglichst noch eine zusätzliche Quelle oder ein historisches Foto zu finden. Bislang hat Nabert an 54 Einzelpublikationen, 85 Buch- und Zeitschriftenbeiträgen, 80 Studien mitgewirkt und 95 Bücher gestaltet.  Besonders stolz ist er, die Geschichte seines Heimatortes Meuselwitz geschrieben und mehrere Bücher rund um Möbel verfasst zu haben. Ein Highlight sind ebenfalls die Stadtteillexika, die historischen Postkarten-Bücher sowie das Buch „Zeitspiegel“ über das gerettete Fotoarchiv von Hans Lindner, das er gemeinsam mit Heinz-Jürgen Böhme publiziert.

Einen großen Anteil hat Nabert an der Herausgabe des Stadtlexikons A-Z von Horst Riedel. Es erscheint 2012 in überarbeiteter Auflage. „Das tausendjährige Leipzig“ heißt eine dreibändige Publikation von Peter Schwarz – ebenfalls ein Highlight aus dem Programm.

Studie zeigt Vision von Radweg auf


Der Verein erfährt bis zur Jahrtausendwende viel Wertschätzung und hat richtig Einfluss.
Das schlägt sich nieder in Erfolgen wie dem Elster-Saale-Radweg auf der in den 1990ern stillgelegten Bahnstrecke Leipzig-Lützen, der auf der Idee und einer Studie von Pro Leipzig beruht. Inzwischen ist der Einfluss der Bürgervereine längst geringer geworden. Nabert und seine Mitstreiter müssen erfahren, dass Beteiligung in der Leipziger Wirklichkeit oft „ein eher unerwünschtes Ärgernis“ ist. Viele Beteiligungsverfahren sind kaum noch ergebnisoffen, werden pro forma durchgeführt, die Ergebnisse geglättet. Beispiele dafür sind die Öffnung des Pleißemühlgrabens an der Hauptfeuerwache oder Debatten um den Wilhelm-Leuschner-Platz. Nabert wird dennoch unermüdlich weitermachen – arbeitet bereits an neuen Publikationen. Und ist in der Freizeit oft beim Volleyball spielen, Laufen, Wandern und Rad fahren anzutreffen.

Stand: 16.02.2025

Kotte, Henner

Schriftsteller, Stadtführer, Moderator, Theaterkritiker | geb. am 17. August 1963 in Wolgast, gest. am 6. Dezember 2024 in Leipzig

Sein Leben findet sich in seinen Büchern. Henner Kotte schreibt Leipzig-Krimis, die bis ins Detail viel Lokalkolorit seiner Stadt versprühen. Krimi- und Stadtgeschichte(n) hält er in seinen Büchern fest. Oft führt er Menschen durchs Zentrum, um ihnen als Stadtführer berühmte Kriminalfälle zu erzählen. Er schreibt aber auch Sachbücher, wie zur Geschichte des Hotels Astoria, und geht populären sächsischen Legenden nach. Die Gose hat es ihm ebenfalls angetan. Zum 200. Geburtstag der Ritterguts Gose ist er Herausgeber einer reich bebilderten Festschrift, die diesem erstmals 1824 gebrauten Getränk gewidmet ist. Oft ist er im Stadtarchiv Leipzig anzutreffen. Denn seine Werke sind gut recherchiert. Doch auch aus dem prallen Leben schöpft er seine Inspiration.

Bildergalerie - Kotte, Henner

Ein ehemaliger Leichtathlet wird zum Germanisten


Geboren wird Henner Kotte am 17. August 1963 in Wolgast. Das ist eher Zufall, denn seine Eltern, ein Dresdner Ärztepaar, sind gerade zum Praktikum in der Stadt an der Ostsee. Wenig später geht es zurück an die Elbe, wo er aufwächst und zur Schule geht. Von der 8. Klasse an besucht er eine Kinder- und Jugend-Sportschule und trainiert als Leichtathlet. 1978 kann er mit seinem Team sogar den Vize-DDR-Meistertitel in der 4×100-Meter-Staffel erreichen. Abitur macht er auf der Dresdener Kreuzschule. Dort ist er zwar nicht in der Sängerklasse des berühmten Knabenchores, aber sehr kreativ. Etwa bei Theateraufführungen.

Nach der Schule folgt der Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee an der Grenze in Berlin. 1984 kommt Henner Kotte nach Leipzig, um an der Karl-Marx-Universität (heute: Universität Leipzig) Germanistik zu studieren. 1987/88 verschlägt es ihn für ein Semester an die Moskauer Lomonossow-Universität. Das Land ist gerade im Umbruch, in der Perestroika. Seine Diplomarbeit schreibt er über die assoziative Einschätzung von Vornamen. Es folgt ein Forschungsstudium Anfang der 1990-er Jahre in Mannheim. Dort lebt er ein wenig abseits, entdeckt seine Leidenschaft fürs Schreiben.

Gut recherchierte Kriminalfälle sind sein Elixier


Seit 1994 lebt Kotte dann wieder in Leipzig. Nach der Rückkehr ist er zunächst arbeitslos. Später unterrichtet er Deutsch als Fremdsprache. Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme verschlägt ihn zum Literaturrat Sachsen sowie dem Förderkreis Freie Literatur. Für seine Kurzgeschichte „Taxi“ erringt Kotte 1997 den MDR-Literaturpreis.

Sein erstes Buch veröffentlicht er im Jahr 2000. Es heißt „Natürlich tot!“. Eine eigene kriminalliterarische Talkshow die „Schwarze Serie“ startet Kotte in der Moritzbastei. 2002 arbeitet Henner Kotte für den MDR. Es entsteht die Fernsehserie „Vergessene Akten“. Dort ist er in seinem Element, kann Kriminalfälle recherchieren.

Wie kaum ein anderer erforscht er die abgründigen Geschichten seiner Stadt Leipzig. Die erzählt er in seinen Büchern ebenso wie bei Stadtführungen. Dabei redet er von unbekannten und berühmten Menschen ebenso wie von jenen, die wie Woyzeck erst durch ihre Taten Berühmtheit erlangen und in die Literatur eingehen. Mit zahlreichen Krimis und Bänden mit authentischen Fällen wie „Leipzig mit blutiger Hand“ oder „Bonny und Clyde vom Sachsenplatz“ findet er sein Publikum. Dem Verbrechen auf der Spur ist er mit Kindern bei der KinderKrimiTour. „Auch die „Tatort“-Kommissare Ehrlicher und Kain erweckt er nach deren Aus in der Fernsehserie zu neuem literarischen Leben.

Eine Festschrift zur Gose


2021 folgt ein kultureller Reiseführer zur Geschichte jüdischen Lebens in Sachsen. Im selben Jahr erscheint sein Roman. Unter dem Titel „Die dreizehn Leben des Richard Rohde“ geht es um ein Dorf in der Oberlausitz, das der Kohle weichen muss. Sein letztes Werk heißt: „Die Gose schmeckt frühmorgens gut, ist abends keine Plage“. Da ist er der Herausgeber einer Festschrift, die zum 200-jährigen Brau-Jubiläum der Gose erscheint. Gemeinsam mit anderen Autoren, etwa dem Kabarettisten
Gunter Böhnke, Gose-Historiker Frank Heinrich sowie Gosebrauer Tilo Jänichen, hat er dafür Amüsantes und Abseitiges über das Getränk recherchiert. Und selbst Kriminelles kommt dabei nicht zu kurz.

Seine geliebte Leipziger Innenstadt und das Leben rund um den Bayerischen Bahnhof sind sein Lebenselixier. Doch das ist nun vorbei. In der Innenstadt bricht er zusammen, kommt ins Krankenhaus. Unerwartet ist Henner Kotte am 6. Dezember 2024 in Leipzig gestorben. Er wird nur 61 Jahre alt. Und viele Pläne, etwa ein Standardwerk zur kompletten Kriminalliteratur der DDR zu schreiben, bleiben unerledigt. Seine Führungen fehlen, doch die Bücher bleiben.

Stand: 14.12.2024

Hauptmann, Silvia

Fotografin, Chronistin | geb. am 9. Oktober 1957 in Leipzig

Sie ist die Fotochronistin, die jüdisches Leben in Leipzig und Sachsen in vielen Facetten festhält. Ihr Markenzeichen sind Porträts von Menschen, denen sie sich mit gebührendem Respekt nähert, sowie verschiedene Milieustudien. Dabei hat sie ein Faible für Langzeitprojekte.

Bildergalerie - Hauptmann, Silvia

Geboren wird Silvia Hauptmann am 9. Oktober 1957 in Leipzig. Sie wächst in Böhlen auf. Als sie zwölf Jahre alt wird, ziehen die Eltern in ein Haus in Großdeuben „am Grubenrandstreifen“ der Braunkohle. „Hinterm Haus quietschte der Bagger lang, die Grube wurde zugeschüttet“, sagt sie und erinnert sich an nicht ungefährliche Abenteuer beim Baden in den Restlöchern. Zur Polytechnischen Oberschule fährt sie nach Gaschwitz. Danach beginnt die Berufsausbildung mit Abitur zur Laborantin. Sie arbeitet im Betriebsteil Böhlen des Volkseigenen Betriebes Petrolchemisches Kombinat Schwedt.

Aufträge für Architekturbüro und Zeitschriften


Doch das Auswerten von Proben befriedigt sie nicht. Eigentlich will sie Sprachen studieren, doch nach der Geburt ihres Sohnes Paul im Jahre 1981 entscheidet sie sich anders. Sie beschäftigt sich mit Fotografie.
Als freiberufliche Fotografin übernimmt sie Aufträge für ein Architekturbüro und arbeitet auch fürs Zentralhaus für Kulturarbeit. Jene Leipziger Einrichtung widmet sich der Förderung der Laienkunst und Brauchtumspflege in der DDR und gibt auch eine eigene Zeitschrift „Kultur und Freizeit“ heraus. Sie fotografiert sorbische Frauen, die Ostereier bemalen, sowie viele Menschen mit ihren Hobbys. Doch die Unzufriedenheit wächst. Im August 1989 verlässt sie mit ihrem damaligen Ehemann über Ungarn die DDR.

Im Westen angekommen, studiert sie an der Fachhochschule in Bielefeld Fotografie. Ihr Schwerpunkt wird dabei Sozial-kritisches Porträt/Fotoessay. Zusätzlich belegt sie Psychologie, um sich für die Fotoarbeiten besser in Menschen hineinversetzen zu können. Für ihre Abschlussarbeit fotografiert Silvia Hauptmann Roma in Rumänien. Nebenbei arbeitet sie für die von Bodelschwinghsche Stiftung in Bielefeld. Die hat Kontakte bis nach Japan – Silvia Hauptmann kann bei einem Empfang sogar den Kaiser des Landes der aufgehenden Sonne fotografieren.

Eine zufällige Begegnung in der Synagoge


Nach dem Studium kehrt sie nach Leipzig zurück. 1994 reist sie für eine Zeitung nach Moskau. Ihr Auftrag: Sie soll Bilder im Milieu von Prostituierten aufnehmen. Doch irgendwie merkt sie, dass ihr dieses Thema, mit „jungen Mädels, die im mafiösen Milieu ihre Haut zu Markte tragen“, nicht liegt.

Sie bummelt im strömenden Regen durch die Straßen der russischen Hauptstadt und landet zufällig in einem riesigen Gebäude. Das ist die Choral-Synagoge Moskaus. Dort wird gerade Rosch Haschana, einer der Hohen Feiertage des Judentums, gefeiert. Sie zückt die Kamera und kehrt mit einer Reportage über den Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt und die Moskauer Synagoge zurück. Und schnell wird klar: Das ist ihr Thema. Sie besucht die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig, die gerade ein Jubiläum vorbereitet, und deren damaligen Vorsitzenden Aron Adlerstein. Für die Gemeinde lichtet sie „Channuka im Astoria“ ab. Das wird der Beginn einer langen Zusammenarbeit.

Die Fotografin der Religionsgemeinde


Durch eine Ausstellung in der 
Alten Nikolaischule, bei der zur Leipziger Buchmesse jüdisches  Leben in Leipzig vorgestellt wird, entstehen Mitte der 1990er-Jahre Kontakte zur Ephraim Carlebach Stiftung und ihrer Vorstandsvorsitzenden Renate Drucker. Gemeinsam wird das Langzeitprojekt „Jüdisches Leben in Sachsen“ aufgelegt. „Ich war auch in Dresden und Chemnitz, auf allen jüdischen Friedhöfen in Sachsen. Mein Schwerpunkt blieb aber immer In Leipzig“, erzählt Hauptmann. Seit 1997 lebt sie mit dem Grafiker, Musiker und Autor Jürgen B. Wolff zusammen.

Sie hält 1998 fest, wie der erste sächsische Landesrabbiner Salomon Almekias-Siegl ordiniert wird. Silvia Hauptmann ist mittlerweile die Fotografin, die das Leben der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig am längsten dokumentiert. „Ich durfte erleben, wie die Gemeinde wächst und sich verändert“, sagt sie. Etwa durch den Zuzug von jüdischen Menschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Ihre Bilder bieten Einblicke in die erste jüdische liberale Hochzeit in der Brodyer Synagoge nach der Wende. „Das hat mich damals sehr fasziniert.“ Weitere Fotos zeigen Rituale, wie die Beschneidungen der Kinder oder die Beerdigung von Torarollen auf dem Neuen Israelitischen Friedhof. Sie darf die orthodoxe Hochzeit des Rabbiners Zsolt Balla in Berlin begleiten. Und macht ein Fotoessay über ihn. Die Einweihung des Ariowitsch-Hauses dokumentiert sie ebenfalls.

Eine digitale Datenbank vom Friedhof


Eine Herausforderung für die Projektmitarbeiterin der Ephraim Carlebach Stiftung wird eine große Dokumentation. Sie fotografiert und erfasst über vier Jahre gemeinsam mit Jürgen B. Wolff alle der rund 5.500 Gräber auf dem 
Alten Israelitischen Friedhof und bereitet sie für eine Datenbank digital auf. Das wird ziemlich anstrengend. Die Ephraim Carlebach Stiftung nutzt die Datenbank, um Anfragen, etwa nach Personen, zu beantworten. Silvia Hauptmann bietet auch Führungen auf den Friedhöfen an. Was sie noch reizt, ist es, jüdische Familien daheim bei Festen wie Sabbat zu fotografieren. Doch das zu realisieren, ist schwierig. Im Ehrenamt unterstützt sie ebenfalls die Aktion Stolpersteine.

Fotoessays über Obdachlose und junge Strafgefangene


Silvia Hauptmann widmet sich auch vielen anderen Themen. Mit ihrer Kamera arbeitet sie im Strafvollzug. „Zwischenzeit“ heißt ihr Fotoessay über eine zu lebenslanger Haft verurteilte Frau. Diese hat sie 15 Jahre lang begleitet. Und sie hat in den Haftanstalten Zeithain, Waldheim sowie Regis-Breitingen fotografiert. Auch junge Strafgefangene. „Das Thema Schuld und Sühne hat mich immer gefesselt.“ Seit 1993 fotografiert sie regelmäßig beim Rudolstadt-Festival. Für die Sächsische Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien übernimmt sie ein Projekt, um ankommende Flüchtlinge zu zeigen. 

„Mich interessieren Randgruppen, daher habe ich auch viel mit Obdachlosen gearbeitet.“ Derzeit widmet sie sich Habseligkeiten von Obdachlosen, die auf der Straße zu sehen sind. Die Menschen zeigt sie diesmal nicht. Wichtig ist ihr ein Projekt im Zoo Leipzig. „Tiere zu fotografieren, ist faszinierend. Nichts ist entspannter.“ Sie erinnert sich an einen Komodowaran im Gondwanaland, wo sie sogar für die richtige Perspektive an einem Seil heruntergelassen und schnell hochgezogen wurde. „Meine große Liebe sind Hunde.“ Stolz ist sie auf ihren Foxterrier, der „noch vom Wolf abstammt.“ Sie reist außerdem gern, darunter oft nach Wien. Ihr Archiv umfasst inzwischen mehr als 25.000 Fotos.

Stand: 26.08.2024

Gildoni, Channa

Ehrenbürgerin, Zeitzeugin | geb. am 28. Dezember 1923 in Leipzig, gest. am 9. Mai 2023 in Ramat Gan (Israel)

Sie ist die erste Frau in der langen Liste Leipziger Ehrenbürger: Channa Gildoni, die im Dezember 1923 als Anni Moronowicz in Leipzig geboren wird, erhält diese Ehrung für ihre Verdienste um Versöhnung und Erinnerungskultur. Auf Einladung der Stadt Leipzig besucht sie mit einer kleinen Gruppe im November 1992 erstmals wieder ihre Geburtsstadt. Ihr ist es wichtig, in Gesprächen daran zu erinnern, welche große Rolle die Juden vor der Nazi-Diktatur in Leipzig gespielt haben. 1995 wird sie Vorsitzende des Verbandes ehemaliger Leipziger in Israel. Als Zeitzeugin hat Channa Gildoni viel zur Verständigung beigetragen – bis zu ihrem Tod im Mai 2023.

Bildergalerie - Gildoni, Channa

Geboren wird Anni Moronowicz am 28. Dezember 1923 in der elterlichen Wohnung in der Promenadenstraße (heute Käthe-Kollwitz-Straße). Die Mutter ist Hausfrau, der 1909 aus Polen eingewanderte Vater betreibt ein Geschäft in der Elsterstraße, in dem er von Nähgarn bis zu Möbeln und Brillanten alles verkauft. In Channas Geburtsjahr gibt es in Leipzig eine sehr lebendige Jüdische Gemeinde, der etwa 13.000 Juden angehören. Die Familie ist gut betucht, kann sich ein Haus- und Kindermädchen leisten.

Eine friedliche Kindheit in Leipzig


Der Vater ist aktiv in der Gemeinde, besucht nahezu jeden Tag die 
Ez-Chaim-Synagoge in der Otto-Schill-Straße. Als Sechsjährige wird sie in die 41. Volksschule in der Hillerstraße eingeschult. Ab der vierten Klasse wechselt sie auf die Höhere Israelitische Schule, nach ihrem Gründer auch Carlebach-Schule genannt. „Es war ein friedliches Leben, Antisemitismus habe ich nicht gespürt“, erinnert sie sich später. Der Leipziger Verlag Hentrich & Hentrich hat ihr in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ ein Buch gewidmet, in der Sven Trautmann, Gabriele Goldfuss und Andrea Lorz die Lebensgeschichte von Canna Gildoni erzählen.

Flucht über Ungarn nach Palästina


Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird das Leben für die jüdischen Mitbürger in Deutschland zunehmend schwieriger. Die Familie fühlt sich in Leipzig nicht mehr sicher, will nach Palästina auswandern. Doch eine Ausreiseerlaubnis zu bekommen, erweist sich als schwierig. Der Vater wird auch verhaftet, angeklagt wegen Landesverrates, sitzt zwei Jahre unschuldig in Berlin-Moabit und später im Konzentrationslager Oranienburg. Der Grund: Sein Name taucht im Notizbuch eines entlarvten Spions auf, von dem er sich Geld geborgt hat. Jacob Moronowicz kommt aber frei. Sein Geschäft hat er da längst aufgeben müssen.

Das Leben für die jüdische Bevölkerung wird immer unerträglicher. Schließlich kann Jacob Moronowicz im November 1939 aus Leipzig fliehen. Frau und Tochter folgen ihm im April 1940 – zuerst geht es nach Wien, dann nach Ungarn und schließlich nach Tel Aviv. Dort beginnt die Familie ein neues Leben. Vater Jacob handelt mit Textilien.

In Tel Aviv ändert Anni ihren Namen in die hebräische Form Channa. Eigentlich will sie Jura studieren, kann sich diesen Wunsch aber nicht erfüllen. Es fehlen die finanziellen Mittel, aber auch der Schulabschluss. Deshalb arbeitet sie als Krankenschwester. Gleichzeitig tritt sie der Hagna, einer Untergrundorganisation, als Sanitäterin bei. Dort lernt sie ihren Mann Menachem Gildoni kennen, den sie 1945 heiratet. Am 14. Mai 1948 erklärt Israel seine Unabhängigkeit. Das erlebt Channa als Sanitäterin bei der Hagna.

Mit Anfang 30 wird sie schon Witwe, da ihr Mann an einem Herzleiden stirbt, und zieht ihre beiden Kinder allein groß. Zunächst übernimmt sie das Juweliergeschäft ihres Mannes, das sie dann aber verkauft. Sie arbeitet für die Hilfsorganisation Magen David Adom, vergleichbar mit dem Deutschen Roten Kreuz hierzulande. Mehr als 60 Jahre lang ist sie für die Organisation, ebenso wie für die Hagana, im Einsatz.

Ab 1953 organisieren sich ehemalige Leipziger in Israel zu einem Verband, dem sich ebenfalls Menschen in den USA und Großbritannien anschließen. Viele spüren den Wunsch, die alte Heimat noch einmal zu besuchen. Das ist aber erst nach der Friedlichen Revolution möglich. 1992 lädt die Stadt Leipzig erstmals zehn ehemalige jüdische Leipziger samt Begleitperson zu einem Besuch ein. Das Interesse ist groß, die Plätze müssen in Israel sogar verlost werden. Chana Gildoni hat Glück und ist im November 1992 erstmals wieder in ihrer Geburtsstadt. „Leipzig ist unsere Geburtsstadt, aber nicht mehr unsere Heimat“, betont Channa Gildoni damals im Gespräch der LVZ.

Viel Engagement für Erinnern und Aussöhnen


Von da an kommt sie regelmäßig, wird 1995 Vorsitzende des Verbandes ehemaliger Leipziger in Israel. Sie engagiert sich für die deutsch-israelische Aussöhnung. Als Zeitzeugin, die die noch die lebendige jüdische Gemeinde der Zwanzigerjahre in Leipzig erlebt hat, spricht sie in Schulklassen über ihre Erlebnisse. Ihre Erinnerungen fließen in verschiedene Buchprojekte. Wichtig ist ihr, dass das Unrecht nicht in Vergessenheit gerät, wenn die Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind. Im Jahr 1999 erhält sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Für ihre Verdienste um Versöhnung und Erinnerungskultur bekommt sie das Bundesverdienstkreuz und die Ehrennadel der Stadt Leipzig verliehen.

2019 kommt sie das letzte Mal nach Leipzig, die Reise ein Jahr später muss aufgrund von Corona abgesagt werden. Sie bleibt im telefonischen Kontakt mit den Freunden aus Leipzig und fühlt sich hier willkommen. Ende Oktober 2022 reist Oberbürgermeister Burkhard Jung mit einer kleinen Delegation in die Partnerstadt Herzliya und überreicht der betagten Dame im Yitzhak Rabin Centre in Tel Aviv persönlich die Ehrenbürgerschaft – die höchste Auszeichnung der Stadt Leipzig. Am 9. Mai 2023 ist Channa Gildoni in Ramat Gan in der Nähe von Tel Aviv – dort lebte sie im betreuten Wohnen – gestorben.

„Channa Gildoni glaubte an das Gute im Menschen. Trotz aller Schrecken, die sie in den 1930er-Jahren in Leipzig erleben musste, setzte sie sich für die Aussöhnung mit Deutschland ein“, würdigt sie Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung: „Sie war eine große Brückenbauerin, die die Verbindung in ihre alte Heimatstadt nie abreißen ließ.“

Stand: 16.01.2025

Dittrich, Gotthard

Diplomökonom, Schulgründer, Stifter | geb. am 29. März 1954 in Nienburg/Weser

Leipzig ist die Wiege seiner Bildungsvisionen. Hier arbeitet Gotthard Dittrich, der Chef der Rahn Education, unermüdlich daran, die Idee weltoffener Bildungsprojekte zu verwirklichen und in andere Länder zu tragen. Am 16. März 1990 gründet Dittrich mit Partnern eine gemeinnützige Schulgesellschaft. Mittlerweile ist daraus ein mittelständisches Unternehmen geworden, das in der Messestadt Leipzig den Bildungscampus im Graphischen Viertel betreibt.

Bildergalerie - Dittrich, Gotthard

Geboren wird Gotthard Dittrich am 29. März 1954 in Nienburg an der Weser. Er wächst in einfachen Verhältnissen auf und besucht dort die Volksschule. Anschließend macht er eine Ausbildung zum Kaufmann an der Handelsschule Dr. Paul Rahn in Nienburg. In Hannover legt er schließlich am Wirtschaftsgymnasium das Abitur ab. In den 1970er Jahren studiert er an der Bremer Hochschule für Sozialpädagogik und Sozialökonomie. Er wählt das Fach Sozialökonomie, das sich allerdings als Studium der Ernährungswissenschaften erweist. Daher hängt er noch zwei Semester Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bremen an.

Ein Besuch auf der Leipziger Messe


Schon während des Studiums arbeitet er in einem Handelsunternehmen, das norwegische Produkte in Deutschland vertreibt. Das wird allerdings unrentabel, da Norwegen einen Beitritt zur Europäischen Union ablehnt. 1983 besucht er die 
Leipziger Messe und findet einen Ausweg: Er vermittelt für die Firma Kompensationsgeschäfte mit der damaligen DDR. Dafür verlegt er 1984 sogar seinen Wohnsitz nach Altenburg bei Leipzig. Gemeldet ist er auch in Westberlin, da er dadurch unkomplizierter als ein Bundesbürger einreisen kann. Im Februar 1990 wird Dittrich Staatsbürger der DDR, damit er leichter eine Firma gründen und Kapital in DDR-Mark einbringen kann. Mit der Einheit Deutschlands erledigen sich die Kompensationsgeschäfte allerdings von selbst.

Der Aufbau der Wirtschaftsakademie


Dittrich hat immer Handel-Seminare an der Rahn-Schule in Nienburg gehalten. Nun beginnt er für diese mit dem Aufbau von privaten Handelsschulen in den neuen Bundesländern. Ziel ist es, den Bedarf nach kaufmännischem Wissen zu befriedigen. Los geht es 1990 zunächst mit einer Wirtschaftsakademie in Leipzig, die Umschulungen und berufliche Fortbildungen anbietet. Die gibt es heute noch ebenso wie die Schulgesellschaft, die mit einer berufsbildenden Schule in der Kochstraße startet. Daraus entwickelt sich schließlich die gemeinnützige Rahn Education, eine Unternehmensgruppe, mit Hauptsitz in Leipzig. Dazu gehören mehrere Firmen.

1995 entsteht die Idee, Pädagogen der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ zum Gespräch einzuladen, um über Konzepte für eine Schule mit musikalisch-künstlerischer Ausrichtung zu reden. Das Resultat: ein Konzept für die Freie Grundschule „Clara Schumann“ im historischen Schumann-Haus in der Inselstraße 18. Die Schulgründung wird nur möglich, da im Freistaat Sachsen von den staatlichen Schulbehörden nichts Vergleichbares angeboten wird. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet und auch vom damaligen Leipziger Opernintendanten Udo Zimmermann als Schirmherrn gefördert. Die Genehmigung erfolgt 1997.

Ein Bildungscampus im Graphischen Viertel


Mittlerweile ist die Grundschule „Clara ‚Schumann“ längst Teil eines Bildungscampus mit Musikschulen, Kindertagesstätten, Gymnasium sowie Oberschule. „Ich bin selbst manchmal überrascht, wie sich das alles entwickelt hat“, bekennt Diplomökonom Dittrich, der sich als Ideengeber sieht und den Bau neuer Häuser koordiniert. „Für die Bildungsprojekte hole ich mir Partner vom Fach.“ Der Bildungscampus zwischen Salomon- und Inselstraße im Graphischen Viertel mit rund 2.000 Kindern und Jugendlichen ist das Herzstück des Unternehmens geworden.

Ein außergewöhnliches Projekt wird ebenfalls das Gymnasium im brandenburgischen Stift Neuzelle (Landkreis Oder-Spree) an der polnischen Grenze. Das Besondere: An der Ganztagsschule wird bilingual Deutsch und Polnisch unterrichtet. Durch das zum Kloster gehörige Internat können dort auch Kinder lernen, deren Eltern nicht in Deutschland leben. Insgesamt werden Schüler aus 20 Nationen betreut.

Die ersten Auslandsaktivitäten der Rahn Education starten 1993 in Zielona Góra in Polen. Dort werden eine Grundschule mit musikalisch-künstlerischer Ausrichtung sowie ein Gymnasium eingerichtet, an dem die Schüler auch das deutsche Sprachdiplom ablegen können. Zu Neuzelle entsteht eine deutsch-polnische Bildungsbrücke.

Eine eigenständige Schule in Kairo


Ein besonderes Augenmerk legt Dittrich auf die ägyptische Hauptstadt Kairo. Dort gibt es die eigenständige Rahn-Schule Kairo, an der nach brandenburgischem Curriculum unterrichtet wird. Für ihre Absolventen besteht die Möglichkeit, in Neuzelle bei einer zweijährigen zusätzlichen Ausbildung das deutsche Abitur abzulegen. Seit 2003 existiert die Hotelfachschule Paul Rahn in El Gouna am Roten Meer. Dort fahren sogar Vertreter der Leipziger Industrie- und Handelskammer (IHK) hin, um Prüfungen abzunehmen. „Dadurch erwerben die Jugendlichen einen Abschluss, der auch in Deutschland anerkannt ist“, erläutert Dittrich. Aufgrund des Fachkräftemangels gewinnt das zusehends an Bedeutung. Einige kommen nach Leipzig, um hier in der Gastronomie zu arbeiten. Rahn Education betreibt auch im Auftrag der Schweiz eine Schule in Mailand sowie in Cadorago am Comer See.

Eine Herzensangelegenheit ist es für Dittrich, das Polnische Institut – seit 1969 fester Bestandteil der Leipziger Kulturszene – in Leipzig zu erhalten. Diesem droht die Schließung. Die Rettung ist nur möglich, weil die Europäische Stiftung der Rahn Dittrich Group für Bildung und Kultur das Institut als Untermieter beherbergt. In den Räumen der Stiftung am Markt 10 ist inzwischen ebenso das neue Partnerstadtquartier der Stadt Leipzig untergekommen.

An seinen Standorten beschäftigt das Unternehmen Rahn Education ca. 1.100 Mitarbeiter, die über 800 Lernende betreuen. Zum Portfolio gehören Kindertagesstätten, Grundschulen, Sekundar- und Oberschulen und Gymnasien, Fachoberschulen, Studienkollegs, Berufsbildungszentren sowie Musik- und Sprachschulen. Es gibt rund 40 Bildungseinrichtungen in Deutschland, Ägypten, Italien und Polen. 

Auf dem Bildungscampus in Leipzig entstand das Café Salomon, das ursprünglich koschere Küche nicht nur für jüdische Mitbürger anbot. Es musste aber schließen. Ende Februar 2025 eröffnete dort die Stullenfabrik, ebenfalls mit einem innovativen Konzept.

Stand: 13.01.2025

Biller, Georg Christoph

Thomaskantor, Sänger, Pädagoge | geb. am 20. September 1955 in Nebra/Unstrut, gest. am 27. Januar 2022 in Leipzig

Das Bachstübl am Thomaskirchhof ist eines seiner Lieblingslokale. Dort ist der begnadete Künstler zu Lebzeiten oft anzutreffen. 23 Jahre lang leitet Georg Christoph Biller den Leipziger Thomanerchor, dessen Wirkungsstätte gleich gegenüber in der Thomaskirche ist. Diesen Knabenchor, in dem er in jungen Jahren einst selbst gesungen hat, führt er wieder enger an die Kirchenmusik und vor allem an die Weltspitze heran. Er gehört zu den geistigen Vätern, die das Forum Thomanum ins Leben rufen, um mehr Nachwuchs für den Chor zu gewinnen. Georg Christoph Biller ist tief in der Musikgeschichte Leipzigs verankert. Schwer erkrankt muss der Thomaskantor sein Amt 2015 wegen eines Nervenleidens aufgeben. Er stirbt schließlich mit 66 Jahren am 27. Januar 2022 in Leipzig.

Bildergalerie - Biller, Georg Christoph

Ein hochmusikalischer Junge


Geboren wird Georg Christoph Biller am 20. September 1955 als Pfarrerssohn in Nebra an der Unstrut. Die Gegend mit Weinbergen ist idyllisch, das große Pfarrhaus mit Hof und Garten einladend und eine kleine Welt für sich. Er wächst mit drei Geschwistern behütet auf, obwohl der Vater streng ist. Georg Christoph Biller ist ein hochmusikalischer Junge, singt früh im Gottesdienst und spielt an der Orgel. Schon zeitig verspürt er den Wunsch, unbedingt Thomaner zu werden. Das erfüllt sich im Alter von knapp zehn Jahren, als ihn Thomaskantor
Erhard Mauersberger in den Chor aufnimmt. Wie ihn das beflügelt, beschreibt er später in seinen Memoiren „Die Jungs vom hohen C“. Die sind von Thomas Bickelhaupt aufgeschrieben im Mitteldeutschen Verlag 2017 erschienen.

Als Chorpräfekt kann Biller erste Erfahrungen im Dirigieren sammeln. Hautnah erlebt er da auch 1972 den Wechsel von Mauersberger zum neuen Thomaskantor Hans-Joachim Rotzsch. 1974 legt er das Abitur in der Thomasschule ab, absolviert danach den 18-monatigen Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Anschließend beginnt das Studium an der Hochschule für Musik „Felix Mendelssohn Bartholdy“ mit Gesang und Orchesterdirigieren. Dort trifft er erstmals auf den Gewandhauskapellmeister Kurt Masur. Bereits im letzten Studienjahr beruft dieser Biller im Jahr 1980 zum Chordirektor des Gewandhauses zu Leipzig. Er wird außerdem Dozent für Chorleitung an der Kirchenmusikschule Halle/Saale. Chordirigieren unterrichtet er später an den Musikhochschulen in Detmold und Frankfurt/Main. Als Gesangssolist ist er ebenfalls unterwegs. Und er leitet das Leipziger Vocalensemble, das er 1976 gründete.

Thomaskantor als Lebenstraum


Mit der Berufung zum Thomaskantor am 1. August 1992 erfüllt sich für Biller „ein Lebenstraum“, wie er selbst sagt. Die Amtszeit beginnt allerdings im Krankenbett, da er auf der Fahrt nach Leipzig einen Autounfall hat. Zwei Jahre später wird er Professor für Chordirigieren an der Hochschule für Musik, ab 2009 lehrt er dort selbst. Ein Höhepunkt der Karriere ist sicherlich das große
Bachfest Leipzig 2000, das er konzipiert und künstlerisch leitet. Anlass ist der 250. Todestag des „größten aller Thomaskantoren“ Johann Sebastian Bach.

Der Traum vom Forum Thomanum


Ebenso wichtig: 800 Jahre Thomana im Jahr 2012. Das ist die gemeinsame 800-Jahr-Feier von Thomanerchor, Thomaskirche und Thomasschule. Dabei etabliert sich der Bildungscampus Forum Thomanum, zu dessen Initiatoren Biller gehört und für den er viele Jahre unermüdlich gekämpft hat. Denn Biller erkennt, dass der Thomanerchor nur dann in der neuen Zeit bestehen kann, wenn die Nachwuchspflege professionalisiert wird. Schon 1998 verfasst er eine Denkschrift „Wohlbestallte Kirchenmusik“, die diese Vision beschreibt. Den Titel lehnt er bewusst an Bachs berühmte Eingabe von 1730 an, der damals eine Mindestzahl von 12 bis 16 Sängern für den Chor einfordert.

Der Thomaskantor ist ein Angestellter der Stadt Leipzig, der Chor ebenfalls in städtischer Trägerschaft. Biller muss daher für sich und seinen inzwischen viel größeren Thomanerchor einen Platz zwischen weltlichem Dienstherrn und geistlichen Aufgaben finden. Mit dem Stadtrat muss Biller einige Konflikte austragen, etwa als es Versuche gibt, das musikalische Profil des Thomasgymnasiums abzuschaffen. Das scheitert am Protest der Eltern. „Er war kein pflegeleichter Partner, er war streitbar – nie in eigener Sache, immer für den Chor“, sagt Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung später auf dem Trauergottesdienst.

Ein Verein Forum Thomanum Leipzig wird schließlich am 28. August 2002 gegründet, um die Vision eines musikalischen Bildungscampus für die Bachstadt Leipzig Wirklichkeit werden zu lassen. Die Eröffnung erfolgt mit einem Festakt am 20. März 2012. „Ich wünsche mir, dass sich mehr Menschen für eine musische Ausbildung begeistern lassen“, sagt Biller damals gegenüber der Leipziger Volkszeitung: „Denn leider gibt es zu viele, die Musik nur noch konsumieren und nicht wissen, wie wertvoll es ist, sie selbst zu pflegen.“

Eine Zukunft für den Thomanerchor


Als Pädagoge liegt Biller die Zukunftsfähigkeit des Thomanerchores sehr am Herzen, den er als Künstler auf höchstes musikalisches Niveau bringt. Da er selbst Thomaner war, besitzt er die Gabe, sich in die Welt der Jungs hineinzuversetzen. Und er bemüht sich auch, sich selbst vom Sockel des Kantors zu holen. Dabei prägt er viele junge Menschen, die bei ihm nicht nur das Singen lernen, sondern auch erfahren, was es bedeutet, als Gemeinschaft zu funktionieren. Er lässt die Tradition der wöchentlichen Kantaten und Motetten in der Thomaskirche wieder aufleben – jene musikalischen Andachten sind begehrt. Bei Tourneen und Auftritten ist der Thomanerchor in Asien, Australien, Südamerika, in den USA sowie in vielen europäischen Ländern zu Gast. 2014 wird Biller für seine Verdienste mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Er ist mit der Schauspielerin
Ute Loeck verheiratet.

Die tägliche Arbeit mit dem Chor ist ein Fulltime-Job. Dennoch findet Biller Zeit, weiter eigene Werke zu komponieren. Wegen depressiver Störungen fällt er 2014 längere Zeit aus. 2015 zieht sich Biller wegen einer neurologischen Erkrankung aus dem Amt zurück, Sprechen und Gehen werden mühsam. Am 18. Juni 2015 wird der 16. Thomaskantor nach Bach in einem Festakt verabschiedet. Die Musik hilft ihm, das eigene Leiden auszuhalten. Inzwischen ist er auf den Rollstuhl angewiesen.

Er stirbt am 27. Januar 2022 im Alter von 66 Jahren in Leipzig. Nach einem Trauergottesdienst in der Thomaskirche wird er am 10. Februar 2022 auf dem Südfriedhof beigesetzt. Sein Grab ist unweit der Grabstätte seines Lehrers Kurt Masur. „Mit Georg Christoph Biller verliert die Stadt einen Ausnahmemusiker, der dem Thomanerchor in schwieriger Zeit nach 1990 ein solides Fundament gegeben hat“, würdigt Oberbürgermeister Burkhard Jung das Wirken des Thomaskantors.

Stand: 16.01.2025

Balla, Zsolt

Orthodoxer Rabbiner, Militärseelsorger | geb. am 18. Februar 1979 in Budapest (Ungarn)

Er hat schon Geschichte geschrieben: Zsolt Balla ist einer von zwei orthodoxen Rabbinern, die in der Bundesrepublik ausgebildet werden und als Erste nach 1938 ins Amt eingeführt werden. Seine Ordination, die er 2009 gemeinsam mit Avraham Radbil erfährt, ist ein historischer Moment und etwas Besonders. Doch besonders fühlt er sich eigentlich nicht. Balla ist damals gerade mal 30 Jahre alt.

Bildergalerie - Balla, Zsolt

Geboren wird Zsolt Balla am 18. Februar 1979 in Budapest/Ungarn. In seiner Familie wächst er zunächst völlig unreligiös auf. Sein Vater ist Oberstleutnant in der ungarischen Armee und leitet eine Kaserne. Zsolt geht zur Schule, interessiert sich für Bücher. Auch die Geschichten aus der Bibel haben es dem Jungen angetan. Von 1988 an wird an der Schule katholischer Bibelunterricht angeboten – das sozialistische System in Ungarn steht damals kurz vor dem Zusammenbruch.

Jüdische Wurzeln und Familienschicksal


Der damals Neunjährige fragt die Mutter, ob er den Bibelunterricht besuchen darf. Sie meint daraufhin nur: Wir müssen reden. Und erzählt, dass der Großvater Levit war. Statt in die Kirche geht der Junge von da an in die Synagoge. Und erfährt Näheres über das Schicksal seiner Familie im Nationalsozialismus.

„Meine Mutter und meine Großeltern haben die Shoa überlebt“, erzählt Balla. Zu verdanken haben sie es, wie nahezu tausend ungarische Juden, dem schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg, der in Budapest eine beispielslose Rettungsaktion organisiert. Wallenberg kann sie vor dem Tod bewahren, indem er sie mit schwedischen Pässen ausstattet und in Schutzhäusern unterbringt. Jene Pässe erkennen die Nationalsozialisten und die ungarischen Behörden zumindest teilweise an. Andere Familienmitglieder haben da weniger Glück.

Vom Wirtschaftsingenieur zum Rabbiner


Nach dem Abitur 1997 beginnt Zsolt Balla ein fünfjähriges Studium Wirtschaftsingenieurswesen an der Technischen Universität in Budapest. Ein Arbeitsleben in der Wirtschaft kann er sich eigentlich nicht vorstellen. Mit seinem Diplom in der Tasche beschließt er 2002, eine Pause einzulegen. Sein Interesse am Judentum prägt sich in jener Zeit immer deutlicher aus.

2002 kommt er nach Berlin und will dort eigentlich nur ein Jahr bleiben. Er hat ein Stipendium bekommen, um die Talmud-Hochschule „Beis Zion“ in Berlin zu besuchen. Dort gefällt es ihm sehr gut. Er lernt, wie man sich alten hebräischen Texten nähert und diese entschlüsselt. Besonders gefallen ihm die Diskussionen mit den Mitschülern. Balla bleibt, studiert weiter am orthodoxen Hildesheimer’schen Rabbinerseminar in Berlin sowie in Jerusalem und lässt sich einbürgern. 

Die Weihe zum Rabbiner erfolgt 2009 zwar in München. Er lebt aber in Berlin. Von dort aus betreut er ein Jahr lang als „Besuchsrabbiner“ Leipzig und die Israelitische Religionsgemeinde.

Viel Freude mit Bassgitarre und Band


In Leipzig lernt er seine Frau
Marina Charnis kennen, die er 2007 heiratet. Mittlerweile hat das Paar zwei Töchter und einen Sohn. Im September 2010 zieht Balla nach Leipzig. 2011 wird er in Leipzig zum Gemeinderabbiner ernannt. Die Gemeinde hat momentan 1.100 Mitglieder. Das sind wieder etwas weniger geworden als vor ein paar Jahren, da einige weggezogen oder gestorben sind.

In der Gemeinde ist der Rabbi in der Band „The Holy Smokes“ zu erleben, die auf Hochzeiten und bei jüdischen Festen spielen. Beispielsweise im Ariowitsch-Haus, dem Kulturzentrum in der Hinrichsenstraße 14. Balla spielt leidenschaftlich gern Bassgitarre. „Ich mag gute Musik, auch mal einen sehr rockigen Klang. Mein Genre ist da nicht Klezmer.“

Ein orthodoxes Leben in Leipzig


Zsolt Balla lebt mit seiner Familie in Orthodoxie. Das bedeutet, treu nach den jüdischen Gesetzen zu leben, mit dem Sabbat, den täglichen Gebeten und der koscheren Ernährung. Gekocht wird zu Hause, in Leipzig existiert ohnehin kein Restaurant mit koscherer Küche. „Zumindest gibt es Kuchen im
Café HaMakom“, sagt er.

Der Rabbiner legt viel Wert darauf, jüdisches Wissen an junge Leute weiterzugeben. Diesem Zweck dient das Tora-Zentrum, das aus einem Jugendzentrum heraus entstanden ist. Eine eigene jüdische Schule gibt es nicht, dafür eine jüdische Kindergartengruppe integriert in eine Kita eines freien Trägers.

Viel Interesse für jüdisches Leben


Um Leipzigern das Judentum näherzubringen, hält Balla regelmäßig Vorträge vor Studenten oder Schulklassen. Vor allem in der 
Universität Leipzig. In der Volkshochschule derzeit weniger. Viele Menschen sind interessiert und saugen voller Interesse alles auf, was er über das Judentum und die Synagoge erzählt. Für die meisten ist das nach wie vor eine andere Welt. Seit 2019 ist Zsolt Balla ebenfalls Landesrabbiner von Sachsen.

Ein weiteres Kapitel beginnt für ihn am 21. Juni 2021 in Brodyer Synagoge. Dort wurde Zsolt Balla in sein Amt als Militärbundesrabbiner eingeführt – der erste in der Geschichte der Bundeswehr. In diesem Job ist er sehr viel unterwegs. Mittlerweile gibt es weitere Rabbiner in Hamburg, Köln, Leipzig, München und Schwielowsee bei Potsdam, die sich um Militärseelsorge kümmern. Balla ist ihr religiöser Vorgesetzter, etwa vergleichbar mit dem Status eines Militärbischofs. Wobei es diesen im Judentum nicht gibt. Die Seelsorger sind keineswegs dem deutschen Staat unterstellt, werden vielmehr vom Zentralrat der Juden ernannt.

Brücken bauen in der Bundeswehr


Balla sieht es als Aufgabe, nicht nur das Judentum in der Bundeswehr, sondern auch die Bundeswehr in der jüdischen Gesellschaft zu präsentieren. Neben der Seelsorge gehören lebenskundlicher Unterricht und die Vermittlung jüdischer Werte zu den zentralen Aufgaben. Und es ist ja kein Geheimnis, dass es hin und wieder Skandale mit rechtsextremistischen Kameraden in der Bundeswehr gibt. Der Rabbiner will dazu beitragen, Antisemitismus und Hass durch Gespräche und Austausch zu bekämpfen. „Ich tue mein Bestes, um Brücken zu bauen“, beschreibt Balla das Ziel.

Dabei spürt er die Last der Geschichte auf seinen Schultern, wie er sagt. Nicht im Sinne von belastet. „Es ist eine Verantwortung, eine bessere Zukunft zu gestalten.“ Wie ein Vater gegenüber seinem Sohn. Es ist ohnehin wieder schwieriger geworden, offen als Jude in Deutschland zu leben. Für Leipzig setzt Balla da ein „Ja, aber…“. Es gebe zwar Probleme, Sorgen und Herausforderungen, aber die weltoffene Stadt sei schon noch „eine Insel der Ruhe“. „Ich fühle mich in Leipzig weiterhin sehr wohl.“

Stand: 10.01.2025

Sprink, Rolf

Bürgerrechtler, Verleger, Ex-Volkshochschuldirektor | geb. am 16. April 1950 in Görlitz

Er ist eigentlich immer auf Entdeckungsreise: Rolf Sprink ist ein neugieriger Mensch, der noch heute gerne die Welt erkundet. Der ehemalige Bürgerrechtler ist aktiv. Wie in seiner Zeit als Direktor der Volkshochschule Leipzig, die er entwickelt und für die er mit seinem Team immer neue Angebote ausbrütet. So oft es geht im Jahr, bereist er mit seiner Frau andere Länder. Ob nun mit dem Auto durch Südosteuropa, mit dem Schiff auf der Donau, mit dem Flugzeug in Asien oder Amerika. Aber auch innerhalb Deutschlands ist er unterwegs.

Bildergalerie - Sprink, Rolf

Zeit des Suchens – Prägende Jahre


Geboren wird Rolf Sprink am 16. April 1950 in Görlitz. Mit drei Geschwistern wächst er in Görlitz, Berlin und Dresden auf, macht sein Abitur in Bautzen. Die Familie kommt viel herum, der Vater ist Kulturwissenschaftler, arbeitet als Intendant und Dramaturg an verschiedenen Theatern. Die Affinität Rolf Sprinks für fremde Kulturen kommt auch von häufigen Besuchen im
Karl-May-Museum Radebeul. Nach Leipzig kommt er zum Studium. An der Karl-Marx-Universität belegt er ab 1968 Ethnologie und Soziologie. Prägend wird für ihn in dieser Zeit die Sprengung der Leipziger Universitätskirche am 30. Mai 1968. Aber auch der Prager Frühling, der brutal niedergeschlagen wird, führt dazu, dass er den SED-Staat immer mehr ablehnt. Beflügelt wird das durch die evangelische Kirche, in der er viele Gleichgesinnte trifft. Schon im Studium will er in die Tropenmedizin wechseln, doch das wird ihm verwehrt. Ethnologie ist ihm allerdings zu akademisch. „Ich wollte raus, andere Kulturen und Ländern erleben. In der Entwicklungshilfe arbeiten.“

Nach dem Studium folgt der Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee in Weißenfels. „547 Tage, das hat sich bei mir eingeprägt“, sagt er. Anschließend arbeitet er zunächst als Lektor im Brockhaus-Verlag. Später wechselt er dann als Lektor und Fachbereichsleiter in den Tourist-Verlag Berlin/Leipzig. 1975 heiratet er, seine Frau ist im Diakonissenkrankenhaus als Krankenschwester sowie später in der Pflegedienstleitung tätig. Das Paar bekommt zwei Kinder und hat heute drei Enkel.

Engagement für demokratische Kultur und Rechtsstaatlichkeit


Ab 1985 nimmt Rolf Sprink wahr, wie immer mehr Menschen aus seinem Umfeld in den Westen ausreisen. Er ist Mitglied im Kirchenvorstand der
Nathanaelkirche. Im Umfeld der evangelischen Kirche in Leipzig knüpft er Kontakte zu Bürgerrechtlern. Warum stellt er nicht ebenfalls einen Ausreiseantrag? Er spricht vom starken Familienzusammenhalt, aber auch vom Austausch mit vielen Kollegen aus anderen Leipziger Verlagen, einem Netzwerk kritischer Geister. Mit ihnen versucht er, mitzugestalten und bekommt die nötige Energie, um trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen. „Ich wollte hier eine demokratische Kultur mitentwickeln.“ Er schreibt zahlreiche Eingaben an die SED, um mehr Rechtsstaatlichkeit einzufordern.

1989 wird er Zeuge, wie der Pleiße-Gedenkmarsch vor der Paul-Gerhard-Kirche in Connewitz zerschlagen wird. Schon seit 1986 führt er Tagebuch. Und er wird oft ermuntert, dieses vielleicht mal zu veröffentlichen. Gleich nach Gründung des Neuen Forums engagiert er sich in der neuen Bewegung. Ab Mitte Oktober 1989 wird er Mitglied der Redaktionsgruppe mit Reinhard Bohse und Ulla Heise, die den Forum-Verlag Leipzig aufbaut. Die Gruppe verfasst ebenfalls die wöchentlichen Informationsblätter und Demonstrationsaufrufe mit.

Beim Forum-Verlag wird Sprink schließlich geschäftsführender Verleger und Gesellschafter. Das erste große Werk heißt „Jetzt oder nie – Demokratie! Leipziger Herbst ’89“. Enthalten sind Interviews, Zeitzeugenberichte und Zeitungsausschnitte. Die Friedrich-Ebert-Stiftung zeichnet es mit dem Sonderpreis für das „Politische Buch des Jahres“ aus. Gleich am ersten Tag werden 6.000 Exemplare verkauft. Die Leute haben in der Publikation ihre eigene Geschichte gesehen, erinnert er sich. „Für mich ist das biografisch die spannendste Zeit, eine absolute Zäsur, von der Geburt meiner Kinder und Enkel einmal abgesehen“, sagt Sprink. „Wir waren Mitgestalter einer Revolution.“

Volkshochschule wird Plattform für bürgerschaftlichen Dialog


1992 beginnt Sprink als Referent der Ökumenischen Stadtakademie Leipzig bei den Kirchenbezirken Leipzig-Ost und Leipzig-West. Dort kümmert er sich um evangelische Erwachsenenbildung. Und er sucht eine neue Herausforderung, bewirbt sich 1996 auf die Direktorenstelle bei der Volkshochschule. Die schätzt er wegen ihrer Tradition, zu DDR-Zeiten wäre ein Job im Bildungswesen für ihn aber nie infrage gekommen. Zu groß sind damals die politischen Beeinflussungen. „Das war ein No Go für mich.“

Knapp 20 Jahre hat er die Volkshochschule geleitet, aus ihr ein innovatives Haus mit großer Ausstrahlung über die Stadtgrenzen hinaus gemacht. „Wir sind eine Volkshochschule mitten in der Stadt“, sagt Rolf Sprink und betrachtet das als seinen größten Erfolg. Das ist keineswegs nur örtlich gemeint mit dem historischen Gebäude in der Löhrstraße, das über viele Jahre neben dem Lehrbetrieb saniert wird. „Rekonstruktion mit Augenmaß“ heißt es. Doch das ist alles andere als einfach. Für viele Kursteilnehmer oft sogar eine Zumutung.

Die Volkshochschule entwickelt sich als Treffpunkt und zur Plattform für den bürgerschaftlichen Dialog. Die Leute werden angeleitet, für Stadtgestaltungs- und Mitbestimmungsprozesse befähigt. Beispiele dafür sind das Forum Bürgerstadt oder die vielen offenen Diskussionsforen. Sprink moderiert, gestaltet, versteht sich als Netzwerker, verankert die VHS in der Branche in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Und er publiziert viel, darunter über die „Leipziger Richtung“ der Erwachsenenbildung, die 1933 zerschlagen wird. Zum Sächsischen Volkshochschulverband hat er nach wie vor gute Kontakte.

Rolf Sprink ist auch im Ruhestand Mitglied in zahlreichen Vereinen. Dazu gehören beispielsweise die Stiftung „Bürger für Leipzig“, das Kuratorium Stiftung Friedliche Revolution, der Richard-Wagner-Verband, der Freundeskreis Gewandhaus sowie die Hieronymus-Lotter-Gesellschaft, die das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig fördert.

Stand: 17.07.2024

Poser, Steffen

Historiker, Denkmalsleiter | geb. am 20. Juli 1962 in Leipzig

Vom Eingang an der Straße bis zur Aussichtsplattform des Völkerschlachtdenkmals sind es 500 Stufen, die vor allem oben ziemlich eng werden. Wie oft Steffen Poser diese Stufen erklommen hat, vermag er nicht konkret zu sagen. Mehrere tausend Male bestimmt. Seit 1991 Jahren leitet er das Völkerschlachtdenkmal. Dort hat er inzwischen sein halbes Leben verbracht und erlebt, wie der nach der Friedlichen Revolution zunächst ungeliebte Koloss in neuem Glanz erstrahlt. Anfang der 1990er-Jahre wollen einige Leipziger das jahrelang der Industrieabluft ausgesetzte kaputte, schwarze Denkmal einem „kontrollierten Verfall“ aussetzen, damit dieses nicht weiter das Stadtbild „verschandelt“ und verschwindet. Doch es kommt zum Glück anders, auch dank des Engagements vieler Bürger im Förderverein Völkerschlachtdenkmal.

Bildergalerie - Poser, Steffen

„Es ging uns auch um eine moralische Sanierung“, so Poser. Zur Einweihung in der Kaiserzeit 1913 dürfen es die Besucher lediglich demutsvoll anschauen. Erst später wird es Aussichtspunkt, jedoch sowohl im Nationalsozialismus als auch in der DDR ideologisch missbraucht. Heute sind alle willkommen und eingeladen, sich mit dem Koloss auseinanderzusetzen. „Das Völkerschlachtdenkmal ist eingeschränkt barrierefrei für alle Besucher da“, so der Denkmalschef. Lediglich ganz nach oben auf die Plattform schaffen es nicht alle, da hier in die engen Wände kein Fahrstuhl eingebaut werden kann.

Statt Zahnarzt wird er Fremdenführer


Geboren wird Steffen Poser im Juli 1962 in Leipzig. Er wächst in
Reudnitz auf, besucht die Nikolaischule am Täubchenweg, macht 1981 sein Abitur an der Thomas-EOS. Schon als Schüler arbeitet er bei einem Ferienjob im Völkerschlachtdenkmal. Am Gymnasium der meist kirchlich geprägten Thomaner trifft er auf besonders linientreue Lehrer, wie er sagt. „Das war schwer zu verkraften.“ Er hat den Wunsch, Zahnarzt zu werden. Nach dem Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee im Jahr 1983 wartet er auf einen Studienplatz, doch der wird ihm verwehrt. In der Studienlenkung bietet man ihm lediglich ein Studium als Hochschullehrer für Marxismus-Leninismus an – er lehnt ab.

Poser arbeitet da schon beim Museum für Geschichte der Stadt Leipzig (heute: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig) als Fremdenführer, erklärt seinen Gästen das Denkmal in Probstheida. Das Museum delegiert ihn schließlich zum Fernstudium an die Humboldt-Universität in Berlin. Dort macht er gemeinsam mit seinem langjährigen Kollegen Christoph Kaufmann seinen Abschluss als Historiker. Mit der Friedlichen Revolution beginnt eine spannende Zeit – auch am Denkmal. Das Team hält zusammen, repariert auch mal am Wochenende kaputte Stufen, damit es keine Unfälle gibt. Eine Herausforderung wird nicht nur die Sanierung. „Niemand hat sich intensiv mit der wirklichen Geschichte des Denkmals beschäftigt“, erinnert sich Poser. In der DDR ist es geprägt von der deutsch-russischen Waffenbrüderschaft sowie progressiven Traditionen des deutschen Volkes. Historische Unterlagen gibt es im Völkerschlachtdenkmal kaum noch, fast alles ist wohl schon bei der Befreiung Leipzigs durch die US-Armee verschwunden, der Rest dann in der DDR-Zeit. „Deshalb war es nötig, in verfügbaren Archiven Wissen zu sammeln und zu erklären, was das Denkmal mit der Völkerschlacht bei Leipzig zu tun hat“, so Poser. Zunächst wird eine Ausstellung in der Ruhmeshalle entwickelt, um aufzuklären. Und es wird diskutiert, ob die millionenschwere Sanierung des Denkmals – das mehr als ein Aussichtsturm sein muss – überhaupt sinnvoll ist. Das Ergebnis ist bekannt, das Völkerschlachtdenkmal zieht jährlich tausende Leute aus nah und fern an. So kamen im Jahr 2023 über 290.000 Besucher ins Völkerschlachtdenkmal und 96.000 weitere in das angeschlossene FORUM 1813.

Historiker erklärt die Völkerschlacht


Steffen Poser ist ein fleißiger Mensch. Er hat verschiedene Bücher rund um die Völkerschlacht und den steinernen Riesen geschrieben. Sein Hauptwerk ist das vom Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig herausgegebene dicke Buch über das Denkmal. Poser erklärt zudem in einem weiteren Buch „In Schutt und Asche begraben“ den historischen Verlauf der Schlacht. Wer mit Feldherren, Gefechtsorten, Waffen sowie militärischen Begriffen durcheinanderkommt, kann weiterhin eine Art kleines Lexikon nutzen, das unter dem Titel „Völkerschlacht in Stichworten“ erschienen ist. Darin sind beispielsweise die umliegenden Dörfer verzeichnet, die unfreiwillig ins Zentrum des blutigen Gemetzels rückten. Erworben werden kann ein Schuber mit fünf Büchern, in dem ebenfalls ein Kurzführer durchs Denkmal sowie eine Beschreibung der Exponate des im Jahr 1999 eröffneten Forum 1813 enthalten ist. Der Historiker Poser hat ebenfalls Texte transkribiert, um sie für die Nachwelt verständlich zu machen. „Erinnerungen aus meinem Leben“ geht dabei auf Schilderungen von
Walter Bartsch zurück, der am 18. Oktober 1913 seine Eindrücke zur Hundertjahrfeier der Schlacht schildert. Herausgekommen ist eine Beschreibung, wie die Leipziger Innenstadt sowie die Feststraße zum Völkerschlachtdenkmal für die Einweihung aufwändig herausgeputzt werden, ergänzt um historische Fotos.

Ganz wichtig ist Poser das neue Besucherzentrum sowie die Ausstellungen im Denkmalsinneren, darunter die zur jüngsten Baugeschichte in den Katakomben, die derzeit nur für Gruppen zugänglich ist. Persönlich genießt er die Konzerte im Völkerschlachtdenkmal, die aufgrund der Akustik sehr besonders sind. Dort tritt nicht nur der Denkmalchor auf, es gibt auch musikalische Intermezzi. Wie zur Museumsnacht Halle und Leipzig im Jahr 2024 die Performance des Leipziger Schlagzeugensembles Improvising Percussion Sextett.

Kurator für Waffen und Münzen


Natürlich kümmert sich Steffen Poser nicht nur ums Völkerschlachtdenkmal. Im Museum ist er als Kurator Militaria und Numismatik tätig. Zur Militaria-Sammlung gehören 1.500 Objekte inklusive Orden und Ehrenzeichen. Grundstock dafür ist der Fundus des 1827/28 aufgelösten städtischen Zeughauses. Es sind auch Waffen dabei, darunter aus der Völkerschlacht, die gut gesichert aufbewahrt werden. Münzen und Medaillen, Aktien und Wertpapiere gilt es ebenfalls zu betreuen. 10.000 Objekte von Ende des 13. Jahrhunderts bis zur Gegenwart sind im Depot.

Steffen Poser hat ebenfalls die Ausstellung im Schillerhaus neu konzipiert, die am 1. April 2023 eröffnet wurde. Die Idee: Viele Menschen haben kaum noch einen Bezug zu Friedrich Schiller und seinen Werken. Doch der kommt 1785 in einer schwierigen Lebenssituation nach Leipzig-Gohlis. Er ist krank, hat seinen verhassten Job hingeworfen, Behörden sind ihm auf den Fersen, er hat Schulden, Pech mit den Frauen. „Das ist eine Lebenskrise, die jeder nachvollziehen kann“, so Steffen Poser. Doch Schiller hat Glück, lernt Gleichgesinnte um Gottfried Körner kennen, die ihn fördern und so für jenen schönen Sommer in der Landidylle im damaligen Dorf Gohlis sorgen. „Die unverhoffte Freundschaft reißt ihn aus seiner unbefriedigenden Lebenssituation und versetzt ihn in eine Hochstimmung des Glücks. Dieser beseligende Rausch inspiriert ihn im Sommer 1785 zu seiner berühmten Ode ‚An die Freude’, die später von Beethoven in seiner 9. Sinfonie vertont wurde“, sagt Poser. 

Kürzlich hat sich Steffen Poser auch intensiv mit dem Tod auseinandergesetzt. „R.I.P. – Die letzte Adresse“ heißt eine im Jahr 2024 eröffnete Sonderschau im Haus Böttergäßchen, die er gemeinsam mit Ulrike Dura kuratiert hat. Der ledige Historiker ist leidenschaftlicher Kleingärtner, der sich in seiner Parzelle in der „Grünen Gasse“ entspannt.

Stand: 07.05.2024

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