Bildlexikon Leipzig

Degner, Peter

Veranstaltungsmanager, Grabredner, Impressario | geb. am 23. Januar 1954 in Leipzig; gestorben am 15. Januar 2020 in Bad Klosterlausnitz

Großen Wert legte er auf ein gepflegtes Äußeres. Dutzende verschiedene Brillen und farbige Outfits, von einer eigenen Schneiderin genäht, gehören zu den Markenzeichen von Peter Degner. Ihn behalten viele Menschen als schillernde Figur, die ihnen einst die Classic Open schenkte, in Erinnerung. Das Sommermusikfestival Leipziger Markt Musik wird ab 2024 wieder unter dem Namen „Classic Open – Leipzig ist Musik – Leipzig macht Musik“ firmieren, nachdem die Peter-Degner-Stiftung sich mit der Stadt Leipzig über die Markenrechte geeinigt hat. 

Ein Abend aus der Not geboren


Das würde den ewigen Junggesellen wohl freuen, der 1954 in Leipzig in einem christlichen Elternhaus geboren wird. Hier wächst er auf, besucht die Polytechnische Oberschule „Richard Wagner“ in der Karl-Vogel-Straße. Dort macht er Bekanntschaft mit dem weltberühmten Komponisten
Richard Wagner, dessen Büste im Musikzimmer thront. Schon im Alter von 13 Jahren steht Peter Degner das erste Mal auf der Bühne. 

1967 tritt er mit einer Spejbl-&-Hurvínek-Parodie in der Talentshow „Herzklopfen kostenlos“ des DDR-Fernsehens auf. Es folgen mehrere Auftritte, später wird er gelegentlich als Conférencier gebucht. Nach der Schule geht er zunächst im Magdeburger Modehaus Bormann in die Lehre und kommt für 18 Monate zur Nationalen Volksarmee, nach der obligatorischen Grundausbildung in eine Kulturbatterie. Er gilt als politisch unzuverlässig, wird Grabredner und hält Tausende von privaten Abschiedsreden. Und er gründet schließlich seine eigene Ein-Mann-Agentur. „Wenn mich Leute fragen, was ich beruflich mache, sage ich Blödsinn: Ein bisschen blöd, ein bisschen Sinn“, sagt Degner, der zeitlebens im Leipziger Osten wohnt, später einmal im Interview. Zu diesem Zeitpunkt hat der waschechte Leipziger schon einige Erfolge kreiert. 

Die Bühnen-Laufbahn beginnt in den frühen 1990er-Jahren mit der Veranstaltungsreihe „Treff mit P.D.“. Die Idee ist aus der Not geboren. Für einen Gastronomenball verpflichtet der Konzertmanager die Sängerin und Schauspielerin Evelyn Künneke, doch die Veranstalter sagen kurz vorher ab. Ein Abend mit ihr im Restaurant Falstaff, den er kurzerhand als Ersatz organisiert, wird trotz üppiger Eintrittspreise ein Riesenerfolg. Es folgen Treffs mit vielen anderem bekannten Künstlern, darunter Hildegard Knef, Caterina Valente, Fips Fleischer, Maximilian Schell, Gisela May.

Classic Open wird sein Durchbruch


23-mal präsentiert er schließlich im Sommer seine erfolgreiche Reihe „Classic Open“ auf dem
Markt sowie als Ausweichort auf dem Augustusplatz. „Classic Open“ ist eine mehrtägige Open-Air-Veranstaltung bei freiem Eintritt mit klassischer Livemusik sowie DVD-Aufführungen, bei der die Gäste gepflegt speisen und guter Musik lauschen können. Diesen Sommerhit hebt er 1995 aus der Taufe und betreut ihn als künstlerischer Leiter. Durch diese Veranstaltung wird er einem größeren Publikum bekannt. Als Classic Open Extra gibt es die Reihe auch am Silvesterabend. Dann wird Beethovens IX. Sinfonie live aus dem Gewandhaus zu Leipzig auf den Markt übertragen.

Legendärer Auftritt als Pavarotti


Peter Degner liebt die Selbstinszenierung. Hat immer einen Witz auf den Lippen, den er gelegentlich mehrmals erzählt. Zur Begrüßung des Publikums singt er manchmal selbst. Und er stellt es vor ein Rätsel, als bei den „Classic Open“ 1996 plötzlich Luciano Pavarotti auf dem Balkon des
Alten Rathauses erscheint. Dass er sich selbst als Pavarotti in Szene setzt, gibt er erst viele Jahre später zu. Es sind wohl die persönlichen Gesten, auch zu den Gästen, die den Charme seiner Veranstaltungen ausmachen. Der Impresario hat viele Ideen, die sich allerdings nicht alle umsetzen lassen. In Erinnerung bleibt auch ein Konzert auf dem Alten Johannisfriedhof am Grassimuseum.

Peter Degner ist durchaus ein Lebemann. Er liebt Zigarren und nimmt kaum Rücksicht auf seinen Körper. Er mag ebenfalls einfache Kost. Und sein Spruch „Man kann nur eine Bockwurst am Tag essen“ bleibt mir in Erinnerung. Eine Bäckerei benennt sogar eine Brezel nach ihm. Degner ist auf Du und Du mit den Stars und doch am liebsten volksverbunden. Seinen Fans gibt er den Rat: „Besinnt Euch auf die wirklichen Werte des Lebens“. Reich zu werden, war nie seine Motivation, schreibt er in seiner Autobiographie „… und ich dreh mich noch mal um – Vom Grabredner zum Impresario“, die 2018 im Verlag Neues Leben erschien.

In seinen letzten Lebensjahren muss er sich mit schweren gesundheitlichen Problemen herumschlagen. 2015 wird ihm ein Fuß amputiert. Es gibt zudem Streit mit der Stadt Leipzig. 2017 bezuschusst diese die Reihe, die Degner bislang auf eigenes Risiko finanziert, erstmals mit 50.000 Euro. Der Streit entzündet sich an Abrechnungsmodalitäten mit der Stadt und einem Geschäftspartner. Die Peter-Degner-Stiftung zahlt schließlich die Fördermittel zurück. Degner beteuert immer wieder, er habe niemanden betrogen. Was die Leipziger Staatsanwaltschaft schließlich bestätigt. Doch bei einer Neuausschreibung der Reihe „Classic Open“ kommt er ab 2018 nicht mehr zum Zug. „Sein Baby“ verloren zu haben, setzt ihm schwer zu. 

Rote Rosen für ein Leipziger Original


Bis an sein Lebensende bleibt er der Kulturszene der Messestadt Leipzig treu und kreiert auch neue Angebote wie „P.D. Spotlights“ im Jahr 2017. Peter Degner verstirbt am 15. Januar 2020 sieben Tage vor seinem 66. Geburtstag im thüringischen Bad Klosterlausnitz, wo er zu einer Reha-Behandlung weilt, an Herzversagen. Mit dem Chanson „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ von Hildegard Knef, mit der er befreundet war und die er schon als junger Mann verehrte, wird der Sarg aus der Kapelle getragen. Leipzigs Stadtgesellschaft erweist in bunter Zusammensetzung ihrem Original die Ehre. Fast 1.000 Menschen sind gekommen.

Sein Grab befindet sich keineswegs in der „Künstlerecke“ des Südfriedhofs. Er ist auf dem Ostfriedhof beerdigt, wo auch schon seine Mutter Gertrud liegt. Mit ihr hat er bis zu ihrem Tod 2005 zusammengewohnt. Zudem war er zeitlebens im Leipziger Osten zu Hause. Sein Grab besteht aus einem gewaltigen weißen Marmorstein inmitten von roten Rosen. „Ich habe mich bemüht“ steht auf dem Stein. Umgeben ist es von 42 kleineren Gedenksteinen mit Namen von Künstlern und Prominenten, die er nach Leipzig geholt hat. Das ist schon etwas befremdlich, zumal dort auch Namen von Lebenden zu finden sind. Seine Eigentumswohnung in der Kreuzstraße 19 vererbte er an die Peter-Degner-Stiftung. Sie ist jetzt offizieller Stiftungssitz. Ihr Stiftungszweck ist die Förderung von Kunst und Kultur in Leipzig.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Degner, Peter

Ez-Chaim-Synagoge

Apels Garten 4 / Otto-Schill-Straße 6-8 | Ortsteil: Zentrum-West

Ein großes Foto an der Giebelwand des benachbarten Gebäudes der Sparkasse Leipzig erinnert an die einst größte orthodoxe Synagoge in Sachsen. Ez Chaim – Baum des Lebens – nennt sich die Synagoge, die wie viele andere in der Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 von den Nationalsozialisten in Brand gesteckt wird. In Apels Garten 4, unscheinbar versteckt an einer Gasse in städtischer Hinterhof-Lage, befinden sich heute ein Lagerhaus sowie ein Parkplatz. Und es ist wohl nicht unwahrscheinlich, dass das Parkareal künftig einmal verschwindet – es mit einem Wohnhaus bebaut wird. Der Notenspur Leipzig e.V., der Bürgerverein Kolonnadenviertel und die Henriette-Goldschmidt-Schule haben sich vorgenommen, einen würdigen Gedenkort zu etablieren. Das Foto aus dem Innenraum der Synagoge auf einem Banner an der Giebelwand ist zumindest ein Anfang. Der Bürgerverein „Kolle“ hat im Juli 2021 ein Heft über die Historie des Areals herausgegeben, in dem Autor Michael Schönherr viele Details der wechselvollen Geschichte aufgreift.

Eine Synagoge für orthodoxe Juden


Ziel ist es, die Erinnerung an einen verlorenen Ort im Herzen Leipzigs wach zu halten: Die Ez-Chaim-Synagoge, die am 10. September 1922 eingeweiht wird, existiert gerade einmal 16 Jahre. Sie wird eigens für Geflüchtete aus dem Osten Europas errichtet, nachdem es dort Ende des 19. Jahrhunderts Juden-Pogrome gibt. Auf der Flucht sind damals tausende geflüchtete Juden nach Leipzig gekommen. 

In der Großen Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße 3 (heute: Synagogendenkmal) herrschen bei der Gestaltung des Religionsunterrichts und der Tätigkeit von Rabbinern und Kantoren allerdings recht religiös-liberale Auffassungen. Die Leipziger Juden haben sich längst angepasst, die Gebete sind zwar hebräisch, die Predigt jedoch auf Deutsch. Es erklingt spätromantische Musik. Es gibt eine Orgel und einen gemischten Chor. Das lehnen viele orthodoxe Juden ab. Sie nutzen daher zunächst die Brodyer Synagoge, die der Talmud-Thora-Verein in der Keilstraße betreibt. Doch die ist spätestens seit dem Ersten Weltkrieg zu klein. Seit 1918 kommen immer mehr Juden aus Polen und Russland nach Leipzig. In der Synagoge reicht der Platz nicht mehr aus. Der Talmud-Thora-Verein beschließt daher, einen Synagogenneubau zu errichten. Möglich wird dies durch eine großzügige Spende des „Königs vom Brühl“, des Rauchwarenhändlers Chaim Eitingon.

Aus Fahrradhalle wird Synagoge


Der Verein kann am 28. Oktober 1920 ein Grundstück erwerben. Es handelt sich um eine ehemalige Turnhalle im Durchgang zwischen Otto-Schill-Straße und Zentralstraße, die ebenfalls eine interessante Baugeschichte aufweist. Das Gebäude ist zunächst eine Fahrradhalle, die erstmals 1897 auf der
Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung Leipzig 1897 (STIGA) aufgebaut wird. Die Halle wird nach Ende der Schau von dem Fahrradgeschäft Velociped-Fabrik Paul Focke erworben und in der Dorotheenstraße 6 (heute Otto-Schill-Straße) aufgestellt. Später wird das Gebäude von der Turngemeinde Leipzig übernommen, die es in eine Turnhalle umgestalten und durch einen Anbau ergänzen lässt. Jene Turnhalle baut der Verein schließlich nach Plänen des Architekten Johann Gustav Pflaume in eine Synagoge um. 

Dabei müssen die Grundmauern der Turnhalle genutzt werden, lediglich die Vorderansicht darf repräsentativer aussehen. Diese Auflage der Baugenehmigung führt zu einigen Einschränkungen. Zuletzt muss die Zahl der Sitzplätze von zunächst geplanten 1.200 auf 905 reduziert werden. Die jüdische Religion sieht bekanntlich eine getrennte Sitzordnung von Frauen und Männern vor. Für Frauen entsteht die Empore mit 412 Sitzplätzen. Geweiht wird die Ez-Chaim-Synagoge am 10. September 1922. Gemeinderabbiner wird Ephraim Carlebach. Nahum Wilkomirski, der wegen seiner schönen Stimme auch außerhalb Leipzigs bekannt ist, wirkt als Oberkantor. 

Verein muss Abbruch nach Brandstiftung bezahlen


Zerstört wird die Synagoge in der Pogromnacht im November 1938. Aus den Akten der Feuerlöschpolizei geht hervor, dass sich der Brand etwa 5 Uhr morgens ereignete. Detailliert rekonstruieren lassen sich die Ereignisse der Brandstiftung allerdings nicht. Forscher vermuten, dass die Feuerwehrleute den Auftrag hatten, den Brand nicht auf benachbarte Gebäude übergreifen zu lassen. Vom sächsischen Innenministerium gibt es eine Anweisung, dass die Brandruine bis zum 15. November 1938 zu beseitigen sei. Da die Gemeinde dazu nicht in der Lage ist, werden die Abbrucharbeiten an ein Unternehmen übertragen. Die Rechnung muss der Verein begleichen. Das Synagogenareal wird zum Parkplatz – die Eigentümer der Fläche wechseln mehrfach.

Die Ez-Chaim-Synagoge soll künftig ein Teil des Leipziger Notenbogens sein, der die 2012 eröffnete Leipziger Notenspur ergänzt. Geplant ist ein musikthematischer Stadterkundungsspaziergang, der 17 Stationen westlich des Stadtzentrums umfasst. Acht davon sind eng mit jüdischer Geschichte verbunden. Ziel des Notenspur Leipzig e.V. ist es, den Rundgang ab 2026 anzubieten. Es soll ein Leipziger Beitrag zum sächsischen Themenjahr 2026 „Jüdisches Leben – Jüdische Kultur“ sein.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Ez-Chaim-Synagoge

Historisches Bildmaterial - Ez-Chaim-Synagoge

Gletschersteinpyramide

Gustav-Schwabe-Platz, Naunhofer Straße/Ludolf-Colditz-Straße | Ortsteil: Stötteritz

Der „Steinhaufen“ ist von Menschenhand aufgetürmt worden: Dennoch erinnert die Gletschersteinpyramide auf dem Gustav-Schwabe-Platz, die etwas versteckt im Schatten des Völkerschlachtdenkmals und des Wasserturms Probstheida der kommunalen Wasserwerke zu finden ist, an einen natürlichen Vorgang, der die Erdoberfläche veränderte. Riesige Gletscher sind vor gut 150.000 Jahren auf dem Gebiet der heutigen Region Leipzig abgelagert worden. Nahezu 1.000 Kilometer sind sie während der Saalekaltzeit von Skandinavien hierher gewandert. Sie bringen eine dicke Eisschicht mit, die etwa 25.000 Jahre später durch eine Erwärmung des Erdklimas zu tauen beginnt. Unter der Eisschicht formiert sich die Leipziger Tieflandbucht. Viele Findlinge und Gesteinsschutt lagern nun dort. Der Geologe Carl Friedrich Naumann von der Universität Leipzig wies die Inlandvereisung 1844 durch seine Forschungen nach.

Sechs Meter hohe Pyramide entsteht


Solche Findlinge werden Anfang des 20. Jahrhunderts im gesamten Stadtgebiet gesammelt. 1903 entsteht daraus eine sechs Meter hohe Pyramide, die aus etwa 550 Findlingen besteht. Die Fläche misst etwa 5,40 mal 5,40 Meter.

1904 wird der benachbarte Gregoryplatz mit der Findlingsmauer angelegt. Finanziert hat die Pyramide die Deutsche Credit-Anstalt sowie die Leipziger Immobiliengesellschaft, wie man heute an der an der Pyramide angebrachten Tafel lesen kann. Die 1872 gegründete Gesellschaft spielt eine wichtige Rolle beim baulichen Aufschwung der sich entwickelnden Großstadt. Sie erschließt Baugrund und stößt bei Ausschachtungen auf größere Mengen eiszeitlichen Gneis- und Granitgesteins.

Moos wird entfernt, die Fugen erneuert


Im Jahr 2000 wird die Pyramide saniert, um das besondere gesteinskundliche Kulturgut zu wahren und neu in Szene zu setzen. Die Initiative geht auf
Klaus Bente vom Institut für Mineralogie, Kristallographie und Materialwissenschaften der Universität Leipzig zurück. Nach 20 Jahren ist eine Sanierung meist erforderlich. Etwa um das Moos zu entfernen sowie gerissene Fugen zu erneuern. Das steinerne Kulturgut wird oft mit Graffiti verunstaltet – das wiederum macht regelmäßige Reinigungen notwendig.

Inschrift auf der Tafel auf der Vorderseite der Gletschersteinpyramide


In der um Jahrtausende zurückliegenden Eiszeit
haben die gewaltigen Gletscher Skandinaviens
ihre südlichen Ausläufer bis in diese Gegend erstreckt
und zahlreiche Steine aus Schweden mit sich geführt
und hier abgelagert.

Aus solchen Steinen ist im Jahre 1903
von DER ALLGEMEINEN DEUTSCHEN CREDIT-ANSTALT und
DER LEIPZIGER IMMOBILIENGESELLSCHADFT
IN LEIPZIG
in deren Feldern sie zerstreut eingebettet lagen
dies Denkmal hier am Fundort errichtet worden.

Das Denkmal steht im Schutze edler Menschen

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Gletschersteinpyramide

Kothe, Michél

Lehrer, Politik- und Erziehungswissenschaftler, Verbandschef Völkerschlacht | geb. am 18. August 1975 in Leipzig

Hin und wieder geht er mit einem „mobilen Museum“ auf Tour in sächsische Schulen: „Geschichte muss lebendig vermittelt werden“, sagt Michél Kothe. Er ist Vorsitzender des Verbandes Jahrfeier Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und brennt voller Leidenschaft für die Historie. Mit ihr müsse man sich kontinuierlich auseinandersetzen, um die Ereignisse zu verstehen und einordnen zu können, meint er. Erinnerungen an das blutige Gemetzel der Napoleonzeit werden im Torhaus Dölitz, das der Verband seit 2014 in Regie hat, wachgehalten. Im dortigen Zinnfigurenmuseum sind Dioramen zu sehen, die historische Szenen mittels Zinnfiguren zeigen.

Lebendig Geschichte vermitteln


Kothe und seine Mitstreiter organisieren ebenfalls historische Biwaks sowie Gefechtsdarstellungen auf den ehemaligen Schlachtfeldern im Süden der Messestadt. An den Lagerfeuern des Biwaks sitzen Gäste aus ganz Europa, die friedlich miteinander durch „Living History“ lebendig Geschichte vermitteln wollen. Über Ländergrenzen hinweg sind da viele Freundschaften entstanden, sagt Kothe. Neben Museen und Gedenkstätten, Büchern, Filmen und literarischen Aufarbeitungen in Romanen könne jenes Reenactment – also die möglichst authentische Inszenierung konkreter geschichtlicher Ereignisse – viel zum Gedenken und zur Versöhnung beitragen. „Die Kritik, dass wir Krieg spielen, ist vollkommen ungerechtfertigt“, sagt er. Kritikern entgegnet er immer, dass beispielsweise das Mittelalter und die Römerzeit völlig romantisiert seien. Auch da habe es immer wieder Kämpfe gegeben, „heute wird das Mittelalter in Form von hübschen Mittelaltermärkten und die Römerzeit mit Asterix und Obelix gezeigt“. 

Es geht dem Verband darum, Menschen für Geschichte zu begeistern und überlieferte Berichte durch das eigene Nacherleben zu überprüfen. Das Sammeln ist ein ebenso wichtiger Aspekt, werden dadurch doch historische Artefakte vor der Vernichtung und damit dem Vergessen bewahrt.

Michél Kothe ist beim Verein Preußische Infanterie 1813 dabei. „Ich bin ein Sachse in preußischer Uniform und mit französischem Vornamen“, sagt der gebürtige Leipziger, der in Alt-Paunsdorf aufgewachsen ist. Nach der Schule und Lehre als Industriekaufmann studiert er an der Universität Leipzig Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Journalistik. Mittlerweile unterrichtet er an der Leipziger Semper Fachoberschule in der Hohen Straße Geschichte und Ethik in den Klassen 11 und 12.

Ein Hobby für die ganze Familie


Zu seinem Hobby ist er über den Vater Siegfried, einen Geschichtslehrer, gekommen. Von ihm sei er quasi „rekrutiert“ worden und wie von selbst reingewachsen in die napoleonische Zeit. Am Torhaus Dölitz finden 1991 Dreharbeiten zu einem Film über die historische Stätte und die Gefechte statt. Da sieht er das Torhaus das erste Mal von innen. Im Mai 1992 entschließt er sich, aktiv mitzuwirken. Michél landet ebenfalls bei den Preußen, wie sein Vater, ein Infanterist. Der Senior hat sich inzwischen aus den aktiven Darstellungen zurückgezogen.

Michél Kothe trägt die preußische Uniform eines Premierleutnants – heute würde man Oberleutnant sagen. Dabei wird viel Wert auf eine detailgetreue Uniform gelegt. Bis zum Abstand der Knöpfe muss alles historisch korrekt sein. Als Kopfbedeckung hat er Feldmütze, Tschako oder Zweispitz zur Auswahl. Der Degen in der Lederscheide – ein Nachbau – ist natürlich nicht scharf. Kothe hat zudem die Uniform eines preußischen Unteroffiziers, eines Krankenträgers und historische Zivilkleidung in Schrank.

Mehrmals im Jahr ist er an Stätten der Napoleonischen Zeit unterwegs. Das sind meist verlängerte Wochenenden. Kothes Frau Anja und Tochter Lara sind dabei, teilen das Hobby. Seine Frau, im Biwak meist Marketenderin, lernt er bei den Darstellungen in Großgörschen kennen. Sie heiraten in Uniform nach einer Fahrt mit der historischen Kutsche von Paunsdorf zum Schloss Machern. In gewisser Weise lebt die Familie ein Abenteuerleben: Sie reisen durch ganz Europa an die geschichtsträchtigen Orte, übernachten oft in Burgen oder im Zelt. Oft sind es sieben, acht Reisen im Jahr. Alle fünf Jahre geht es ins belgische Waterloo. In dem kleinen Dorf in der Nähe von Brüssel findet am 18. Juni 1815 die letzte Schlacht Napoleon Bonapartes statt, die zu dessen Abdankung führt.

Dass die Völkerschlacht bei Leipzig eine so große Faszination auf Kothe hat, erklärt er mit der für ihn „spannenden Epoche“. Napoleon sei nicht nur Kriegsherr, auf ihn sind auch im Alltag viele Neuerungen zurückzuführen. Ein Beispiel: Die Konservierung von Nahrungsmitteln geht von Napoleon aus, der einen Wettbewerb zur Haltbarmachung von Lebensmitteln entfachte.

Unterwegs mit dem „Museum mobil“


Seit 2002 ist Kothe im Vorstand des Verbandes, seit 2007 Vorsitzender. Nach wie vor ist das „wandelnde Geschichtsbuch“ mit seinem „Museum mobil“ unterwegs, besucht Schulen und Fortbildungseinrichtungen, um die Völkerschlacht erlebbar zu machen. Er schreibt Beiträge für Bücher, darunter fürs Postkartenbuch zur Völkerschlacht vom Verein Pro Leipzig oder für einen Fotoband des Sax-Verlages. Von seiner Wohnung in Paunsdorf aus kann er abends aufs schön beleuchtete
Völkerschlachtdenkmal in der Ferne gucken.

Er wünscht sich, dass es mehr gemeinsame Veranstaltungen und Aktivitäten des Verbandes Jahrfeier Völkerschlacht bei Leipzig 1813 mit den Akteuren des Fördervereins Völkerschlachtdenkmal e.V. gibt. Militär und Denkmal seien zwar ein schwieriges Feld. Die Uniformierten wollen aber nicht nur für gelegentliche Fotos mit Touristen herhalten, sondern auch in inhaltliche Debatten einbezogen werden.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Kothe, Michél

Paul, Alfred E. Otto

Friedhofsforscher, Spezialist für Begräbniskultur, Autor, Publizist | geb. am 27. September 1952 in Kleve

Es ist schon eine kleine Sensation, die zu großer Aufmerksamkeit und Diskussionsstoff in vielen Medien führt. Am 25. Januar 2023 öffnet Alfred E. Otto Paul, der Vorsitzende der Paul-Benndorf-Gesellschaft zu Leipzig, das Grab von Marinus van der Lubbe auf dem Leipziger Südfriedhof.  Ziel ist es, die Identität des Leichnams van der Lubbes zweifelsfrei zu klären und mögliche Spuren zu finden, ob der mutmaßliche Reichstagsbrandstifter von den Nationalsozialisten ermordet worden ist.

Mit dabei ist neben Vertretern des Friedhofs Dr. Carsten Babian, Leitender Oberarzt am Institut für Rechtsmedizin der Universität Leipzig, der das noch immer gut erhaltene Hirn und einige Skelettteile entfernt und zur weiteren toxikologischen Untersuchung mitnimmt. Knapp fünf Monate später liegt ein Gutachten vor. Daraus geht eindeutig hervor, dass die sich im Grab befindenden Gebeine tatsächlich die sterblichen Überreste des Niederländers sind, der 1933 wegen der Brandstiftung des Reichstags in Berlin zum Tode verurteilt worden war. Spuren einer Vergiftung können allerdings nicht nachgewiesen werden. Alfred E. Otto Paul arbeitet die Spurensuche nun auf, wird die Ergebnisse in einem Buch veröffentlichen.

Der Friedhof als Lebenselixier


Der Friedhof ist zum Lebensmittelpunkt Pauls geworden, der in Kleve am unteren Niederrhein geboren wird. 1955 siedeln die Eltern in die Prignitz in Brandenburg um, wo er Kindheit und Jugend verbringt. Nach einer Handelslehre und einem Bauwesen-Studium arbeitet er als Bauingenieur. Die Liebe führt ihn nach Leipzig. Im Jahr 1985 übernimmt er die Leitung des Bestattungs- und Friedhofswesens Leipzig als Technischer Direktor. Verantwortlich für Bauwerke auf allen städtischen Friedhöfen Leipzigs erlebt er, wie viele Grabmale und Gebäude verfallen. Das tut ihm im Herzen weh. Vor allem an der Achse, die vom Eingang am
Völkerschlachtdenkmal bis zum Krematorium des Südfriedhofes führt.

Paul interessiert sich für die Geschichte des Leipziger Südfriedhofes, die er wissenschaftlich erforscht. Und erweitert diese Forschungen später auf den Alten Johannisfriedhof sowie den Neuen Johannisfriedhof. Letzterer wird 1950 für Bestattungen gesperrt. Ab 1973 werden die Gruftanlagen beseitigt, Gräber geräumt und eingeebnet. Das Areal wird schließlich als öffentliche Parkanlage umgestaltet und 1983 als Friedenspark unweit der Russischen Gedächtniskirche eröffnet.

Aus Protest, weil zu wenig für die Rettung der Kunstdenkmale auf den Friedhöfen der Stadt getan wird, legt Paul 1997 sein Amt als Technischer Direktor des Südfriedhofes nieder. Er wechselt in die Selbstständigkeit und gründet ein Büro für Sepulkralkultur in Leipzig. Paul recherchiert und publiziert eifrig, um die Öffentlichkeit für Friedhöfe und Grabkunst zu sensibilisieren. Ab 2007 bietet er regelmäßig Führungen auf dem Südfriedhof an, bei denen er oft von einem interessierten Publikum regelrecht überrannt wird. Die Leute lieben es, ihm zu lauschen, wenn er sein vielfältiges Wissen rund um die Historie des Leipziger Begräbniswesens weitergibt. Da kann es schnell passieren, dass 125 Leute erscheinen, die Führung mehrere Stunden dauert. Seine Begabung, unterhaltsam zu erklären, spricht sich herum. Die Führungen werden zum Kult. Selbst beim Wave-Gotik-Treffen, zu dem Anhänger der schwarzen Szene alljährlich an Pfingsten nach Leipzig reisen, ist er anzutreffen.

„Ein Benndorf“ der Neuzeit


Um Grabmale vor dem Verfall zu retten und zu restaurieren, gründet Paul mit einigen Mitstreitern und viel Enthusiasmus im Jahr 2008 die Paul-Benndorf-Gesellschaft zu Leipzig. Die widmet sich der Förderung und Pflege von Kulturwerten im Bereich des Friedhofs- und Denkmalwesens.

Studienrat Paul Benndorf (1859–1926) hat in akribischer Fleißarbeit die Geschichte des Alten Johannisfriedhofes erforscht und gilt als der Friedhofsexperte. „Ein Benndorf“ der Neuzeit ist Paul mittlerweile selbst geworden. Sein umfangreiches Wissen über Leipzigs Friedhofswesen schreibt er in etlichen Büchern nieder. Dazu gehört die Reihe „Kunst im Stillen“, die sich mit den Grabmalen auf dem Südfriedhof beschäftigt. Darin beschreibt er, in welchen oft kunstvoll gestalteten Grabmalen bekannte Persönlichkeiten ihre letzte Ruhe finden.

Er forscht weiter, will beispielsweise Kirchenbegräbnisse und ihre regionalen Besonderheiten und Rituale aufarbeiten. Paul vertieft sich wieder in Archiven, bis hin nach Holland und Belgien. Paul möchte – analog zum „Neuen Johannisfriedhof“ (erschienen 2012) – ebenfalls noch ein Buch über den Südfriedhof verfassen. „Das wird mein Hauptwerk, der Südfriedhof ist schließlich meine Domäne“, sagt der Forscher, der auch häufig im Stadtarchiv auf der Alten Messe anzutreffen ist.

Stolz auf Benndorf-Gesellschaft


Stolz ist Paul, dass die Paul-Benndorf-Gesellschaft die zweitgrößte ihrer Art in Deutschland geworden ist. Sie pflegt eine eigene Grabstätte, um ihre verstorbenen Mitglieder zu bestatten. In Zeiten, in denen viele in namenlosen Urnenanlagen „verschwinden“, soll die Grabstätte ein Beispiel sein, wie zeitgenössische Bestattungskultur funktionieren kann. Paul weiß, dass seine Arbeit oftmals kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann. Viele der Kulturdenkmale sind in einem maroden Zustand. Es kostet viel Geld und guten Willen, sie zu retten. Doch unermüdlich machen er und seine Mitstreiter weiter, um „im kollektiven Schulterschluss mit der Stadt dieses Flächendenkmal Südfriedhof zu retten“, wie er in Gesprächen immer wieder sagt.

Ein Friedhofsmuseum als Vision


Eine Vision bleibt, an der Prager Straße ein Friedhofsmuseum zu eröffnen. Ab und an hält er auch Grabreden wie bei Aktfotograf
Günter Rössler oder Heimatforscher Claus Uhlrich. Die Paul-Benndorf-Gesellschaft betreibt ein Trauer-Café. Paul selbst ist gemeinsam mit Michael Schaaf einer der Gesellschafter der Firma Leipzig Details, die ein breites Spektrum an Stadtführungen anbietet.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Paul, Alfred E. Otto

Pester, Nora

Verlegerin, Politikwissenschaftlerin | geb. am 3. Mai 1977 in Leipzig

Sie ist Verlegerin des einzigen Verlages, der sich auf jüdische Kultur und Zeitgeschichte spezialisiert hat: Die gebürtige Leipzigerin Nora Pester hat den Verlag Hentrich & Hentrich für jüdische Kultur und Zeitgeschichte gekauft. Der hat seinen Sitz seit 2023 an einem geschichtsträchtigen Ort: Im Leipziger Capa-Haus in der Jahnallee 61, dem sie mit ihrem Engagement dazu verhilft, wieder ein öffentlich zugänglicher Erinnerungsort zu sein. Als Mieterin betreut Pester mit ihrem Verlagsteam den städtischen Capa-Gedenkraum, der dadurch wieder regelmäßig öffnen kann.

Viel Herzblut fürs Capa-Haus


Zu diesem Zweck haben das
Stadtgeschichtliche Museum Leipzig, die Bürgerinitiative Capa-Haus sowie der Verlag Hentrich & Hentrich ihre Netzwerke vereint sowie eigens die gemeinnützige Firma Capa Culture gGmbH gegründet. Der Verlag ist vom Haus des Buches im Gerichtsweg nach Lindenau gezogen. Nora Pester steht bei Veranstaltungen gemeinsam mit ihren Mitarbeitern auch mal an der Theke des ehemaligen Cafés Eigler, um Getränke auszuschenken. Das einstige Kuchenbuffet eignet sich hervorragend, um für die Bücher des Verlages zu werben. Der bietet ein breites Spektrum, gibt Jahr für Jahr um die 50 bis 70 Titel heraus. Ihr Wunsch ist es, dass sich das Capa-Haus als fester Veranstaltungsort in Leipzig etabliert. Da steckt sie viel Herzblut hinein.

Den Verlag gibt es seit 1982. Damals wird er als Edition Hentrich in West-Berlin gegründet. Doch dort kann er sich die hohen Mieten nicht mehr leisten. Die neue Inhaberin Nora Pester siedelt 2018 in ihre Geburtsstadt Leipzig über. Gründer Gerhard Hentrich hat die promovierte Politikwissenschaftlerin, die zuvor unter anderem für den Wiener Passagen Verlag und Matthes & Seitz arbeitet, als Nachfolgerin auserkoren. Ihre Karriere beginnt mit einem Praktikum beim 1989 gegründeten Forum Verlag. In Leipzig und in Wien studiert sie Hispanistik, Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre.

Aufgewachsen im Waldstraßenviertel


Sie ist im
Waldstraßenviertel aufgewachsen, wo sie schon in der Kindheit mit geheimnisvollen jüdischen Spuren oder was davon übriggeblieben ist, in Berührung kommt. Dort gibt es das ehemalige jüdische Eitingon-Krankenhaus sowie ein Altersheim, das inzwischen als Ariowitsch-Haus zur Begegnungsstätte geworden ist. Im Jahr 1988 hat Pester gemeinsam mit ihrer Schulklasse die vielbeachtete Ausstellung „Juden in Leipzig“ besucht, die erstmals in der DDR die reichhaltigen Traditionen des Judentums sowie den Holocaust thematisiert. „Plötzlich hatten die Menschen Namen und Gesichter“, erinnert sie sich. Weil sie das bei den Jungen Pionieren in der DDR übliche Gruppenbuch führt und die Mitschüler zur rechtzeitigen Abgabe drängt, sei sie im Grunde genommen schon in der Grundschule Verlegerin gewesen, sagt sie lächelnd.

Jüdische Wurzeln hat Nora Pester selbst nicht. „Manche sagen, dass es sogar von Vorteil ist, dass ich keine Jüdin sei: Weil ich viele Dinge tatsächlich etwas neutraler betrachten und auch vermitteln kann bei all dem, was Konflikte birgt“, erklärt Pester.

Durch das neue Domizil im Capa-Haus arbeitet der Verlag sehr transparent. Besucher können ihr und ihren drei Mitarbeitern während der Öffnungszeiten durchaus mal über die Schulter schauen. Ziel des Verlages ist es, jüdisches Leben in all seinen Facetten abzubilden. Dazu gehören auch die ständige Gefährdung und Anfeindungen, die mit dem brutalen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 eine neue Dimension erreichten. Bestürzend aktuell ist das Buch über den Dichter und Sänger Leonard Cohen von Matti Friedmans geworden, dessen Tournee im Oktober 1973 plötzlich Teil des Jom-Kippur-Krieges wird. 50 Jahre vor dem gewalttätigen Angriff der Hamas, der zu einem neuen Krieg im Nahen Osten führt.

Die Rolle des Verlags hat sich gewandelt. Zunächst legt dieser den Fokus auf Biografien, historische Studien und die Aufarbeitung des Holocaust. Für Nora Pester bringt der 9. Oktober 2019, der Tag des Anschlages auf die Synagoge in Halle, einen Bruch in ihrer Arbeit. Seitdem ist es ihr wichtiger geworden, „nicht nur von nicht mehr lebenden, sondern auch von jetzt lebenden Juden zu erzählen.“ Vom Kochbuch bis zum Gebetsbuch, von Zeitgeschichte und Biografien (etwa über „Juden in der DDR“) bis zum politischen Sachbuch bietet der Verlag vieles an, um zum öffentlichen Diskurs beizutragen. Sie thematisiert, wie Antisemitismus sich selbst in den progressiven Milieus in der Mitte der Gesellschaft breitmacht.

Aufklärung gegen Stereotypen des Antisemitismus


Der aktuelle
Bestseller des Verlages heißt „Judenhass Underground“. „Antisemitismus mit all seinen Stereotypen ist so tief und fest verankert in der Mitte der Gesellschaft. Dem muss ein jüdischer Verlag entgegenarbeiten, diesen Auftrag muss er erbringen und erfüllen“, sagt Pester. „Ich will vor allem Bücher machen, die wirken“, erklärt die Verlegerin, die natürlich auch Unternehmerin ist. Es sei ihr wichtig, Diskussionen anzustoßen. Sie widmet sich aber auch koscherem Humor, etwa in einem Kalender. Ben Gershon hat die Comicfigur Jewy Louis entwickelt, mit der er lustige Situationen und die Absurditäten des jüdischen Lebens in einer nichtjüdischen Gesellschaft schildert. Mittlerweile gibt es auch Kinderbücher im Verlag. Derzeit sind mehr als 700 Titel lieferbar. Für diese „lebendige, anschauliche Enzyklopädie jüdischer Kultur und Zeitgeschichte“ erhielt der Verlag den Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung. Nora Pester ist erstmals selbst unter die Autoren gegangen. „Jüdisches Leipzig“ heißt ihr praktischer Stadtführer, der „Menschen – Orte – Geschichte“, wie es im Untertitel heißt, vorstellt. Sie möchte, dass Menschen das jüdische Leipzig selbst entdecken können.

Der Verlag organisiert viele Veranstaltungen, darunter im Ariowitsch-Haus. Es gibt aber kaum klassische Lesungen. „Ich finde es interessanter, wenn Themen in Gespräche verpackt sind und eine Interaktion mit dem Publikum stattfindet“, so Pester.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Pester, Nora

Rohrwacher, Klaus-Michael

Steinmetzmeister, Restaurator | geb. am 4. April 1953 in Leipzig

Als die Einladung ins Schloss Bellevue nach Berlin kommt, hält er es zunächst für einen Scherz: Klaus-Michael Rohrwacher bekommt am 4. Dezember 2015 von Bundespräsident Joachim Gauck das Bundesverdienstkreuz verliehen. Geehrt wird Rohrwacher für seine ehrenamtliche Arbeit als Vorsitzender des Fördervereins Völkerschlachtdenkmal e.V., der 1998 mit dem Ziel gegründet wird, den fortschreitenden Verfall des Leipziger Wahrzeichens aufzuhalten und es ebenso wie die Außenanlagen instand zu setzen. „Ich fühle mich überglücklich. So einen Festakt erlebt man nur einmal im Leben“, sagt der Steinmetzmeister damals und erklärt, dass sich „eine große Familie an Mitstreitern“ um das Völkerschlachtdenkmal kümmert. Und macht als „oberster Spendeneintreiber“ mit seinem Förderverein unermüdlich weiter, um möglichst viele Leipziger und Auswärtige als Stifter für das Denkmal zu begeistern. Als Mann vom Fach und begnadeter Kommunikator erweist er sich schnell als Richtiger an der Spitze des Vereins. Im November 2023 wird der Förderverein Völkerschlachtdenkmal e.V. für sein engagiertes Wirken mit dem Leipziger Tourismuspreis ausgezeichnet, den die Leipzig Tourismus und Marketing GmbH seit 2002 jährlich vergibt. 

Schon immer mit Völkerschlachtdenkmal verbunden


Rohrwacher ist seit frühester Jugend mit dem Denkmal verbunden. Wahrscheinlich hat er es schon im Kinderwagen besucht. Großvater Walter ist als Steinmetz und Steinbildhauer zu Kaiser Wilhelms Zeiten beim Bau des Kolosses dabei. Vater Hans-Joachim hilft zu DDR-Zeiten in den 1960er Jahren, das Denkmal notdürftig zu sanieren. „Mit dem Essgeschirr haben wir dann als Kinder das Mittagessen in die Bauhütte gebracht und dort auch herumgetobt“, erinnert sich Rohrwacher, der schon immer im Südosten Leipzigs wohnt.

1987 übernimmt er den elterlichen Betrieb und betreibt als Steinmetzmeister eine eigene Firma mit 15 Angestellten, die es inzwischen allerdings nicht mehr gibt. Der Naturstein- und Steinmetzbetrieb stellt im September 2019 den Betrieb ein, weil kein Nachfolger gefunden wird. Sohn Lars betreibt als Steinmetzmeister und Techniker seit Jahren die eigene Firma „Stein und Design“ (Denkmalpflege, Bildhauerei, Grabmalkunst), die ihr Domizil direkt am Ostfriedhof hat.

Eins ist Rohrwacher immer wichtig: An der Sanierung des Denkmals hat sich seine Firma nie beteiligt, um Konflikte zu vermeiden. Die hat dennoch viele Spuren bei zahlreichen Bau- und Restaurierungsobjekten hinterlassen, ob nun beim Dorint Hotel Alter Wall in Hamburg, beim Potsdamer Stadtschloss und vielen Objekten in Dresden und Leipzig. Ein Beispiel sind die Höfe am Brühl.

Fördervereinschef macht Führungen für Stifter


Der Förderverein Völkerschlachtdenkmal, der im Oktober 2023 bei einem Festakt im
Alten Rathaus seinen 25. Geburtstag feierte kann, hat viele Erfolge vorzuweisen. Mehr als 3,5 Millionen Euro hat er seither für die Sanierung des Denkmals eingeworben. 

In den 1990er Jahren wurde erwogen, das Denkmal kontrolliert verfallen zu lassen – schwarz, hässlich und bröckelig, wie es zu diesem Zeitpunkt keineswegs würdig für Leipzig war. Dem zu begegnen, gründete sich 1998 der Förderverein. Anfangs wurden einfach Spenden gesammelt für die Instandsetzung des Denkmalkörpers. Zunächst wurden acht Bänke für Besucher aufgestellt. Für die Finanzierung der Außenanlagen entwickelt der Verein im Jahr 2009 den Stifterbrief, der bisher an fast 1.000 Stifter übergeben wurde. Rohrwacher nimmt sich auch die Zeit, den Stiftern bei Führungen „sein Denkmal“ nahezubringen.

Der Förderverein hat inzwischen fast 300 Mitglieder: Bürger, Unternehmen, Institutionen, Verbände. Sie setzen sich – wie einst der Patriotenbund vor dem Bau des Denkmals – mit bürgerschaftlichem Engagement für dessen Sanierung ein. Die Instandsetzung der Haupttreppe vom Wasserbecken bis zum Eingangsplateau sowie die Erneuerung des Wasserbeckens sind wohl die größten Brocken. Ob Völkerbrot, Völkersalami oder Völkereis – Rohrwacher und seine Mitstreiter sprudeln voller Ideen. Nach vielen Arbeiten am Denkmal, die Bund, Land und Stadt in einem Kraftakt geschafft haben, ist nun die Wiederherstellung der Außenanlagen fast abgeschlossen.

Am Denkmal muss immer etwas repariert werden


„Aber ein Denkmal dieser Größe ist niemals fertig“, sagt Rohrwacher. Die ersten Erhaltungsmaßnahmen an Fugen und Bodenplatten haben schon vor vielen Jahren begonnen. Der kluge Vereinschef, der den Ehrenamtsjob noch eine Weile machen will, baut vor. „Bitte nicht innehalten!“ ist dabei einer seiner Lieblingssprüche geworden. Am Denkmal wird immer etwas zu reparieren und sanieren sein. Ein nächstes Projekt gibt es bereits: Die LED-Leuchten sollen erneuert werden. Damit Energie gespart wird und trotzdem Strahlkraft erhalten bleibt. „Das Denkmal muss beleuchtet werden“, betont Rohrwacher, „wenigstens bis Mitternacht.

Wirtschaftsarchiv benötigt neues Domizil


Der rührige „Südostler“, wie er sich manchmal selbst bezeichnet, hat noch weitere Ehrenämter: So ist er Vorstandesvorsitzender des Vereins Sächsisches Wirtschaftsarchiv, das derzeit in der Industriestraße in Plagwitz in der Konsumzentrale untergebracht ist. Das Sächsische Wirtschaftsarchiv wird im April 1993 durch die drei sächsischen Industrie- und Handelskammern als regionales Wirtschaftsarchiv für Sachsen gegründet. Doch in den Plagwitzer Räumen hat es keine Zukunft. Geplant ist, bis 2026 gemeinsam mit dem Landkreis Leipzig sowie dem Förderverein zum Aufbau des Dokumentationszentrums IndustrieKulturlandschaft Mitteldeutschland Dokmitt einen Neubau für die Sammlung in Borna zu errichten.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Rohrwacher, Klaus-Michael

Schornstein der Stadtwerke Leipzig

Arno-Nitzsche-Straße 35 / Stadtwerke-Gelände Leipzig Südost | Ortsteil: Connewitz

Leipzigs Skyline hat sich verändert: Ein Wahrzeichen der Braunkohlen-Ära, der 170 Meter hohe Schornstein des ehemaligen Kraftwerkes „Max Reimann“ in der Arno-Nitzsche-Straße in Leipzig-Connewitz, ist verschwunden. Am 10. September 2023 wurde er gesprengt. Das Interesse an diesem Ereignis war riesig. In vielen Straßen rund um den 200-Meter-Sperrkreis, der im Auftrag der Stadtwerke Leipzig angelegt wurde, herrschte regelrecht Volksfeststimmung. Hunderte Leipziger kamen, um sich das seltene Spektakel anzuschauen. Viele Anwohner hatten es sich auf Balkons, Terrassen oder in Gärten bequem gemacht, um die dreifache Faltsprengung zu verfolgen. Dabei zerfiel der Schornstein in drei Teile. Alles verlief komplett nach Plan. Die Thüringer Sprenggesellschaft setzte etwa 100 Kilogramm Sprengstoff ein.

Kurze Nutzungsdauer für den Schornstein


Der Schornstein auf dem Gelände der Stadtwerke Leipzig ist zum Zeitpunkt der Sprengung fast ein Vierteljahrhundert in seiner ursprünglichen Funktion ungenutzt. Ende des 19. Jahrhunderts entsteht auf dem Areal ein Gaswerk. Bis 1910 werden vier Behälter errichtet, die für die Speicherung von Gas und den Druckausgleich im Rohrnetz sorgen. 

1952 erhält das Gaswerk den Namen Gaskokerei „Max Reimann“. In den 1970er-Jahren endet die Geschichte des Werks als Erzeugungsort für Stadtgas aus Kohle. Danach wandelt es sich zu einem Standort der Fernwärmeversorgung. In diese Phase fällt der Bau des Heizwerkes mit dem 170-Meter-Schornstein. Dessen Grundstein wird im Mai 1984 gelegt. Ab Januar 1987 wird die weithin sichtbare Esse für die Rauchgasabführung eingesetzt. Ihre Nutzungsdauer ist kurz. Bereits 1996 rollt der letzte Kohlezug ins Kraftwerk in Connewitz. Somit hat der Schornstein nur eine Betriebszeit von neun Jahren. 

Fernsehsender kommen vom Schornstein


Zuletzt wird er von der Deutschen Funkturm GmbH für die Ausstrahlung von Fernsehsendern genutzt. Die hat 2016 einen neuen Funkturm an der Zwickauer Straße/Richard-Lehmann-Straße errichtet, um das digitale Antennenfernsehen DVB-T2 HD ausstrahlen zu können. Weil die Stadtwerke Leipzig jedes Jahr viel Geld in die Sicherung des riesigen Schornsteins investieren mussten, von dem der Putz bröckelte, wurde er abgerissen.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Schornstein der Stadtwerke Leipzig

Weinkauf, Bernd

Schriftsteller, Kunsthistoriker | geb. am 26. Februar 1943 in Küstrin

Vor der Faust- und Mephisto-Statue mit dem goldenen Schuh von Mathieu Molitor – immerhin eines der beliebtesten Fotomotive für Touristen in Leipzig – möchte Bernd Weinkauf diesmal nicht abgelichtet werden. Er ist zwar seit 1996 der Haushistoriker vom Auerbachs Keller in der Mädler Passage. Doch im inzwischen zweiten Buch „Leipziger Merkwürdigkeiten“, welches im Sax-Verlag erschienen ist, tauchen die beiden Gesellen eben nicht auf. Schriftsteller Weinkauf kommt es auf jedes Detail an. Er liebt es, fragile Fakten zu recherchieren und unbekannte Dinge zu hinterfragen. Mit seinem Spürsinn ist es dem Kunsthistoriker mehrfach gelungen, in seinen Büchern mit liebgewonnen Missverständnissen aufzuräumen und unbekannte Kapitel in der Leipziger Geschichte zu beleuchten. Wie jüngst die Momente aus der jüngeren Geschichte der Stadt Leipzig, die eben „des Merkens würdig sind“, wie der Verlag schreibt. Im kurzweiligen Band, der mit einem antiquarischen Outfit daherkommt, klärt er beispielsweise über die (hierzulande längst vergessenen) Trinkhallen auf, die hier einst ebenso wie die weitaus bekannteren „Büdchen“ in Düsseldorf oder Köln ihre Genießer finden.

Ein bekennender Leipziger mit Faible für Historie


Weinkauf ist ein bekennender Leipziger, seit er als junger Mann zugewandert ist. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird seine Familie von Küstrin nach Hettstedt vertrieben. Der junge Mann macht das Abitur, studiert danach Deutsche Sprache, Literatur und Kunsterziehung am Pädagogischen Institut in Erfurt. Nach einigen Jahren als Lehrer und Truppenbibliothekar verschlägt es ihn 1973 ans Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ nach Leipzig, wo er bis 1976 lehrt. Es folgt die Arbeit als Dramaturg am
Theater der Jungen Welt (bis 1979). Seitdem ist er als freier Autor und Werbetexter tätig und begeistert durch seine Neugier auf Themen ein geschichtsbegeistertes Publikum. Und er gehört zur illustren Runde am Stammtisch „Goglmohsch“, den der Leipziger Kabarettist und Schriftsteller Bernd Lutz-Lange im Jahre 1984 in der Gaststätte Boccaccio in der Kurt-Eisner-Straße in der Südvorstadt gründet. 

Nach der Friedlichen Revolution folgt ein kurzes Intermezzo im Leipziger Rathaus als Stadtrat für Kultur, das aber am 9. Mai 1991 beendet wird, als eine Zusammenarbeit als informeller Mitarbeiter für die DDR-Staatssicherheit publik wird. Dennoch kann er im Rathaus einige Weichen stellen, etwa den Neustart der Stadtbibliothek im ehemaligen Gebäude des VEB Chemieanlagenkombinates Leipzig beflügeln, das einst als Grassi-Museum gebaut worden war. Seitdem ist er als freier Autor tätig. Und legt 1999 ein bemerkenswertes Buch vor, in welchem er Leipzig mit Goethes Augen sieht.

Der Haushistoriker von Auerbachs Keller


Zum Haushistoriker von Auerbachs Keller ist er ernannt worden. 1998 ist er beteiligt, die Feierlichkeiten zu 450 Jahre Weinausschank im Traditionslokal vorzubereiten. Er richtet ein „Faustseminar“ ein und braucht eine Visitenkarte. Doch was darauf schreiben? Haushistoriker eben. Sein Meisterwerk wird dann 2015 die „Chronik von Auerbachs Keller“.

Zuvor hat er schon die Gästebücher ausgewertet und muss dafür wahre Detektivarbeit leisten. Die Idee dafür entsteht, als jemand den damaligen Wirt Bernhard Rothenberger fragt, ob Adolf Hitler jemals Gast im Auerbachs Keller war? War er nicht, dafür viele andere Persönlichkeiten. Dazu gehört beispielsweise auch Bismarck. Die Recherche ergibt, dass es keineswegs der Reichskanzler ist, sondern jemand aus dessen Familie. Wer genau, kann allerdings nicht exakt geklärt werden.

Nur wenige Gästebucheinträge sind bei null Promille geschrieben worden, auf einigen Seiten hat auch der Rotwein seine Spuren hinterlassen. Es ist schwierig, die alten Handschriften zu entziffern. Sogar Hieroglyphen müssen gelesen werden, wobei Weinkauf dabei auf Experten zurückgreift. Dutzende Napoleons haben sich in den Büchern der Traditionsgaststätte verewigt. Wobei der echte Franzosenkaiser, so der Autor, niemals in Auerbachs Keller eingekehrt ist. Was auf der Flucht nach der Völkerschlacht 1813 wohl auch etwas schwierig gewesen wäre.

Leipziger Geheimnisse


Weinkauf ist auch vielen anderen „Leipziger Geheimnissen“ auf der Spur. So erklärt er in einem gleichnamigen im Bast Medien Verlag erschienen Buch, warum es sich beim Hufeisen an der
Nikolaikirche um ein echtes Leipziger Wahrzeichen handelt. Und warum an den Klinken der Eingangstüren vom Neuen Rathaus Schnecken aus Eisen zu finden sind. Das sind liebenswerte Relikte, die an die Entstehungsjahre des Verwaltungssitzes erinnern. Die sollen sicherlich keine Konkurrenz für den Leipziger Löwen sein. Das langsam kriechende Weichtier ist nur ein hübscher Schmuck. Es weist darauf hin, wie sehr sich der Bau des Neuen Rathauses in die Länge gezogen hat.

Regelmäßig publiziert Bernd Weinkauf in den „Leipziger Blättern“.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Weinkauf, Bernd

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