Bildlexikon Leipzig

TBE Engelsdorf

Werkstättenstraße 6 | Ortsteil: Engelsdorf

Dieses originelle Leipziger Lokal im Ortsteil Engelsdorf muss in der Titelzeile allein mit seiner Abkürzung vorlieb nehmen. Die Entschlüsselung für TBE als Traditions- und Begegnungsstätte der Eisenbahner wäre einfach zu lang für eine Überschrift. Dafür ist der Eisenbahnbezug umso enger – mit historischem Brückenschlag. Schon am Eingang grüßten typische Versatzstücke aus der Welt der Lokomotiven und der Bahnsteige, doch eine Garantie, dass der geneigte Besucher davon noch etwas vorfinden wird, kann nicht übernommen werden. Denn alle Aus- und Einrichtungsgegenstände standen zum Verkauf, als die TBE im Januar 2022 schloss. Die Erinnerung an das verschwundene Lokal und seine besondere Rolle in Sachen Eisenbahn-Nostalgie wachzuhalten, ist jedoch allemal eine längere Reminiszenz wert.

Krönung eines Eisenbahnerdorfs


Engelsdorf ist – ohne über Gebühr idealisieren zu wollen – ein Eisenbahnerdorf im Osten von Leipzig. Mitten durch den Ortsteil verläuft die Leipzig-Dresdner Eisenbahn, die erste deutsche Fernbahn seit 1839. Die Strecke wird flankiert vom früheren Rangierbahnhof, dessen Funktion im Jahr 2017 nach Halle verlegt wurde. Zwei Haltepunkte verweisen an den Strecken nach Dresden und Chemnitz auf Engelsdorf. Das frühere Reichsbahn-Ausbesserungswerk und die baulichen Reste des Bahnbetriebswerks haben bessere Tage gesehen. Immerhin ist aber ein Betrieb im Geschäft, der im Bereich des Schienenschweißens als Marktführer auftritt. 

Viele Wohngebäude bilden eine typische Eisenbahnersiedlung, erkennbar an der Symbolik des rollenden Flügelrads an den Fassaden und den Schriftzügen der Wohnungsbaugenossenschaft dieses Berufszweigs. Aber vor allem sind es die unzähligen Eisenbahnerdynastien, die diesem Ort ihr Gepräge gaben. War der Großvater schon „bei der Bahn“, dann war es der Vater unbedingt auch und der Sohn mit großer Wahrscheinlichkeit und möglicherweise wieder der Enkel oder die Enkelin. An einem solchen Ort eine Traditions- und Begegnungsstätte der Eisenbahner einzurichten, sie bewusst nicht „Zum Stellwerk“ oder „Zur Bahnhofsklause“ zu nennen, sondern ihr vielmehr mit gewissem leicht ironischen Hintersinn einen funktionalistisch geprägten Namen, wie sie bei der Bahn schon immer beliebt waren, und die passende Abkürzung TBE zu geben, war folgerichtig – und durchaus alternativlos.

Angebahnte Erlebnisgastronomie


1999 ging die TBE an den Start. Ihr Domizil wurde das Untergeschoss der früheren Poliklinik des Reichsbahn-Ausbesserungswerks. Sehr jung war damals die 1994 mit viel Vorschusslorbeeren gestartete Bahnreform, zu deren Kennzeichen ein eintöniger Dreiklang gehörte: Privatisierung, Privatisierung, Privatisierung. Viele einst dringend benötigte Gebäude standen daraufhin leer. Der öffentlichen Verwaltung war es ausgesprochen lieb, wenn sich ein unternehmerisches Talent bereit erklärte, auf Teilflächen eine neue Nutzung zu beginnen und damit den Leerstand zu senken. So wie
Andreas Schließauf. Ihm war das Eisenbahnerlokal zu verdanken, auch wenn Skeptiker meinten, dass es schwer sein würde, mitten in schwindender Gewerbebauung und ohne umfängliche Wohnumgebung ausgerechnet mit einer Gaststätte zu beginnen.

Andreas Schließauf setzte sich durch. Ihm schwebte ja nicht die x-te Gaststätte nach Schema F vor, sondern eigentlich ein Museum mit integrierter Gastronomie. Wer regelmäßig kam, fand immer wieder etwas Neues an der üppigen Ausstaffierung mit Lokomotivschildern, Warntafeln, Modelleisenbahnen, historischen Fotos, Proviant-Automaten, Fernsprechapparaten aus der Vor-Handy-Urzeit, originalen Sitzbänken ausgedienter Eisenbahnwagen und Drucksachen über Drucksachen vor. Manches Exponat steuerten Gäste als Leihgabe bei, weil sie die TBE in ihr Eisenbahnerherz geschlossen hatten, wie zum Beispiel ein originales Zuglaufschild des „Rossiya“-Express, der auf der Transsibirischen Eisenbahn zwischen Moskau und Wladiwostok verkehrt. Waren die Ausstellungsstücke zu groß für den Innenraum, dann standen sie eben vor dem Eingang, wie die abmontierten Schriftzüge und die analogen Zuganzeiger vom Leipziger Hauptbahnhof oder aus dem nahen Reichsbahn-Ausbesserungswerk renovierte Pumpen, mit deren Hilfe die Dampfloks jahrzehntelang „atmeten“, um brav ihren harten Dienst zu verrichten. 

Fluidum vergänglicher Reisekultur


Traten die Gäste in die TBE ein, wurden sie mit dem strengen Charme des früheren Reichsbahn-Personals begrüßt. „Treten Sie doch endlich von der Bahnsteigkante“ klang zwar seltsam im Vergleich mit der weithin dominierenden „Geht-es-ihnen-gut?“-Beliebigkeit, wurde aber sofort verstanden – und eigentlich erwartet. Und dann erst die Speisekarte: Keine Position in der üppigen Menüfolge, die ohne deutliche Eisenbahn-Normierung auskam. Als Krönung die „Heizerschaufel“. Eigentlich ein herrliches Steak mit reichlich angebratenen Zwiebeln und Bratkartoffeln und serviert auf einer echten Schaufel. Das schmeckte dann nochmal so gut und hätte jeden Lokheizer nach achtstündiger Schwerarbeit satt gemacht (ungeübte Erst-Koster der deftigen Leckerei erst recht). 

Mit reiner Gastronomie ließ es Andreas Schließauf nicht bewenden. Die TBE wurde eine Station auf der Dampfbahn-Route Sachsen, die sich durch den gesamten Freistaat zieht. Außerdem tauschte der Betreiber der gastlichen Stätte nach den ersten Speisen und Getränken seine obligatorische Fahrdienstleiter-Mütze immer mal wieder gegen den drolligen Hut des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, den er ausgezeichnet zu parodieren verstand. Dank dieser Komposition aus Gastronomie und Begleitprogramm hätte die TBE steinalt werden können. Doch dann kam im Jahr 2020 Corona und mit der Pandemie die verordnete mehrmonatige Schließung des beliebten Treffs einer treuen Gemeinde aus Berufs- und Hobby-Eisenbahnern. Den Umsatzausfall und die Mieterhöhung durch den neuen Eigentümer des Hauses hätten nur kapitalkräftigere Unternehmer als Andreas Schließauf verkraften können, die nicht fortlaufend immer wieder vor allem in die Ausstattung der Räume investiert hätten. Wenn also Covid-19 schon lange Geschichte sein wird, werden sich viele an den traurigen Kollateralschaden TBE in Engelsdorf erinnern. Wie an die Rücklichter eines Schnellzugs, die langsam in die Nacht entschwinden.

Stand: 17.01.2022

Bildergalerie - TBE Engelsdorf

Schneider, Werner

Physiker, Gründer der Leipziger Notenspur | geb. 1951

Fünf Minuten Dialog mit Werner Schneider überzeugen jeden Gesprächspartner, es mit einem ausgewiesenen Spezialisten für klassische Musik zu tun zu haben. Dieses Wissen über den Leitstern der Musikstadt Leipzig, Johann Sebastian Bach! Soviel exzellente, detaillierte Kenntnisse über all die anderen Komponisten und Orchesterleiter und Musikverlage! Werner Schneider muss ein Musikwissenschaftler sein. Das mit dem Wissenschaftler stimmt. Gleichwohl ist sein Fach die Physik. Die wissenschaftliche Akkuratesse dehnte Werner Schneider dann auf seine Leidenschaft, die Musik, aus, und davon profitiert die gesamte Stadt.

Beharrlich in der Spur für die Musikstadt Leipzig


Werner Schneider spricht leise, vollkommen unaufgeregt. Die hastige, gar aufdringliche Rede ist ihm fremd. Er überzeugt mit Wissen und versteht es, Interessenten für das Thema klassische Musik zu gewinnen.

Der Physiker Werner Schneider arbeitet seit 1992 an der Universität Leipzig, seit dem Jahr 2008 hat er eine Professur an der TU Dresden. Schon immer zogen sich das Interesse an der Musik und die Begeisterung für die Musik durch sein Leben. Was als privater Genuss begann, sollte spürbar auf die gesamte Stadt ausstrahlen. So entstand – inspiriert und bestärkt durch seine Ehefrau – die Idee, aus der teils hervorstechenden, teils ein wenig versteckt schlummernden Präsenz von Stätten der Musikkultur in Leipzig ein sichtbares und hörbares Ganzes zu formen, das allen Interessenten eben wie ein urbanes Gesamtkunstwerk begegnet und Zusammenhänge erschließt, Genuss mit Erkenntnis verbindet.

Die Idee der Leipziger Notenspur war geboren. Der geniale Thomaskantor Bach steht selbstverständlich weit vorn. Richard Wagner wird gewürdigt, ebenso Felix Mendelssohn Bartholdy, Clara Schumann und Robert Schumann, Edvard Grieg und viele andere. Komponistenhäuser, Ausbildungszentren, Musikverlage und Aufführungsstätten erstrecken sich über nahezu das gesamte Leipziger Stadtgebiet. In der Innenstadt sind sie nicht zu übersehen, wenige hundert Meter darüber hinaus sollen Hinweise helfen, Kulturpfade zu weisen und Interessenten behutsam zu führen.

Klassische Wegweiser würden das schaffen, doch so besonders, wie die Notenspur ihren hohen Anspruch pflegt, so ästhetisch soll die räumliche Wegweisung durch eine klangvolle Welt auf sich aufmerksam machen. Dies geschieht mit einer sanft geschwungenen Edelstahl-Intarsie, die in das Pflaster der Fußwege eingelassen ist und deren Spitze die Richtung bis zum nächsten authentischen, kulturellen Leuchtturm entlang der Notenspur anzeigt – von der Thomaskirche zum Gewandhaus, an den erhaltenen Gebäuden weltbekannter Musikverlage in Zentrumsnähe vorbei zum Schumann-Haus und wieder zurück in Richtung City mit ihren Denkmalen für berühmte Persönlichkeiten der Musikstadt Leipzig.

So wird eine beschwingte Verbindung zwischen 23 Orten hergestellt. Ein Audio-Guide unterstützt als klangvoller und hervorragend informierter Begleiter alle, die sich auf den Weg machen, also auf die Spur begeben. Die wunderbare Notenspur-Idee von Werner Schneider überzeugte rasch, doch ihre Umsetzung erforderte einen langen Atem. Mitstreiter mussten gefunden werden, Verstärker und Bekräftiger der Idee und natürlich Ermöglicher in der öffentlichen Verwaltung. Mit nimmermüder Energie, die auf den ersten Blick dem sanft auftretenden und mit wohl gesetzten Worten argumentierenden Werner Schneider vielleicht gar nicht zugetraut wird, wurde der Kampf um die Umsetzung der Notenspur-Idee geführt. Beharrlichkeit nennt Werner Schneider denn auch als die unverzichtbare Grundkonstante beim Werben und Erschließen der Lebenskraft „seiner“ Notenspur. Von seiner imaginären Vorderbühne eines Botschafters des Genusses von Klangfülle ließ er sich nicht vertreiben. Musikalisch übersetzt: Auf den Resonanzboden kommt es an.

Einer Idee Klangfülle verliehen


Eine Bürgerinitiative, die engagiert hinter der Notenspur-Idee steht, gibt es seit 2005. Vier Jahre später stellte die Stadt Leipzig erstmals Mittel für die Notenspur in ihren Haushalt ein, und seit dem Jahr 2011 schwingen sich die metallenen Notenspur-Symbole auf insgesamt fünf Kilometern Wegstrecke durch den traditionsgesättigten Leipziger Straßenraum und 300 Jahre Musikgeschichte dieser einzigartigen Kulturmetropole, die ihre Qualitäten durchaus ebenbürtig mit Wien und Paris zum Klingen bringt. Zum Starttermin waren schon mehr als 100 Mitstreiter für die Notenspur aktiv.

Längst freut sich die Stadtverwaltung, dass es die Notenspur gibt und dass die Bürgerstadt Leipzig auf herausragende Akteure wie Werner Schneider zählen kann. Großes Finale also, Tusch, Verneigung vor dem Arrangeur des musikalisch-architektonisch-historischen Kunstgenusses und – Vorhang? Mitnichten. Beseelt vom Gedanken, eine zündende Idee fortzuschreiben und ihre Wirkmächtigkeit zu steigern, ersann Werner Schneider die Folgeprojekte NotenBogen (weiter nach draußen gehen und weniger spektakuläre, aber wichtige Schaffensorte der Musikkultur erkunden), NotenRad (auf Radwegen Melodie und Rhythmus von Orten der Musikgeschichte erfahren) und NotenWeg (wandernd eine Kulturspur aufnehmen, die sich überzeugend verorten lässt). Immer wieder bedarf es des besonderen Engagements von Werner Schneider, der Stadtgesellschaft und ihren zahlreichen Besuchern etwas anzubieten und zurückzugeben. Vielleicht würde er während der ganzen Zeit lieber zu Hause sitzen und entspannt klassischer Musik lauschen? Diesem Genuss frönt Werner Schneider sowieso, steckt parallel jedoch nimmermüde Energie in seine zu einem großen Kunststück verflochtenen Projekte. Denn seit 2015 gibt es zusätzlich noch die Notenspur-Nacht der Hausmusik. Sie begann mit 60 Spielstätten und über 400 Musikern. So viele Spielstätten an einem Abend? Na klar. Die Idee dahinter: Gut bürgerlich wird in vielen Leipziger Wohnungen Hausmusik gepflegt. Warum nicht zu diesen Treffen engagierter Musikliebhaber eine jeweils überschaubare Gästeschar einladen, die sich in recht kleinen, aber kultivierten privaten Räumen ebenso am Wohlklang erfreuen können?

Europaweit gehört werden


Erstmals 2018 lud darüber hinaus das
Festival Europäische Notenspuren ein. Es trägt den Gedanken der Notenspur weit nach vorn in die Konzertsäle.

Werner Schneider einen begnadeten Netzwerker zu nennen, wäre eindeutig zu wenig. Netzwerken können auch blanke Organisationstalente. Doch ambitioniert konzipierte Strukturen mit einem künstlerischen Anspruch anzureichern und ihnen einen Klang einzupflanzen – das gelingt nur wenigen. Am 13. Juni 2018 wurde das angesehene Europäische Kulturerbe-Siegel an herausragende Leipziger Institutionen verliehen. Eine der begehrten Hinweistafeln hielt Werner Schneider in seinen Händen. Wer sonst?

Für sein Engagement für das Gemeinwohl wurde er am 4. Juli 2020 mit dem Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Den Orden überreichte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer im Auftrag des Bundespräsidenten.

Stand: 30.03.2022

Bildergalerie - Schneider, Werner

Richard-Wagner-Denkmal

zwischen Promenadenring und Matthäikirchhof | Ortsteil: Zentrum

Der in Leipzig geborene, jugendliche Richard Wagner in Lebensgröße und dahinter der dunkle, monumentale Schatten des reifen, grandiosen Komponisten – so stellt sich die figürliche Komposition des Richard-Wagner-Denkmals dem Auge des Betrachters. Der farbig bemalte Bronzeguss und der flächige Schatten im Hintergrund ruhen auf einem Marmorsockel, der auf drei Seiten Heroen und Heroinen aus Wagner-Opern zeigt. Ein Stilbruch? Sicher, ein gewollter, denn allzu verschlungen erscheinen aus Leipziger Sicht biographische Details des Komponisten und die Historie des Denkmals.

Wagnerianer wünschen ein Denkmal des Meisters


Zum Entstehungsprozess dieses Denkmals passt nichts besser als der titanisch schwellende Melodienreigen einer Wagner-Oper. 1883, wenige Wochen nach dem Tod des Komponisten im fernen Venedig, fand sich ein Kreis Leipziger Verehrer, um das Andenken des großen Sohnes dieser Stadt wachzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt stand das
Haus zum Roten und Weißen Löwen am Brühl noch, in dem Wagner am 22. Mai 1813, ausgerechnet im Jahr der Völkerschlacht bei Leipzig, geboren wurde. Das betagte Gebäude wurde erst 1886 im Zuge einer der vielen Umgestaltungen der Leipziger Innenstadt abgerissen.

Nicht nach Musealem zwecks Würdigung von Wagners wenigen in Leipzig verbrachten Jugendjahren stand den geschichtsbewussten und geniegeneigten Leipzigern der Sinn. Sie wünschten sich vielmehr ein Denkmal und gründeten dafür ein Komitee. 1903 erging der entsprechende Auftrag an den bekanntesten der damals in Leipzig wirkenden Bildhauer, an Max Klinger. Der Meister wiederum setzte sich, wie es sich für einen angesehenen Vertreter seiner Zunft geziemt, mit dem Auftrag auseinander – schöpferisch, stadtbildbezogen und lang andauernd. Aus der Denkmalweihe im Jahre 1913 wurde jedenfalls nichts, nur die Grundsteinlegung fand zum 100.Geburtstag des Komponisten statt – an der auserwählten Stelle, wo die Elsterniederung unverhofft ansteigt und das Tiefland mit Profil adelt, wo die sagenhafte urs libzi, die Keimzelle der Stadt Leipzig, gestanden haben soll und wo nunmehr eine monumentale Treppenanlage das avisierte Denkmal einnehmend umschlingen sollte. Es folgte ein Jahr später der Beginn des Ersten Weltkriegs, der einen großen künstlerischen Wurf deprimierend blockte, und – im zweiten Friedensjahr nach dem Völkergemetzel – 1920 der Tod von Max Klinger. Immerhin, den Marmorsockel hatte der Meister in Italien in Auftrag gegegen, und die Stadt Leipzig holte daraufhin das Fundament ihres erstrebten Gesamtkunstwerks an Pleiße und Elster, auf dass der Sockel für die nächsten 90 Jahre – die wohl niemand je ernsthaft erwog – sein Interim im beschaulichen Klingerhain finden sollte.

Vergifteter zweiter Anlauf


1934 änderten sich die Zeiten erschreckend. Gut für Leipzig, dass es nun ein Wagner-Nationaldenkmal am östlichen Ufer des
Elsterflutbeckens geben sollte. Schlecht für Leipzig, das Wagner-Fan Adolf Hitler den Grundstein für die Weihestätte legte. Damit war das Ansinnen komplett vergiftet. Doch für den passenden Sockel erging wiederum ein Auftrag, an den zeitgeistig hoch angesehenen Bildhauer Emil Hipp. Dann kam der Zweite Weltkrieg, und der folgende politische Systemwechsel in Leipzig erstickte sämtliche Gelüste auf ein Wagner-Monument in seiner Geburtsstadt. 

Ein Denkmalsockel im stillen Klingerhain, einer in Bayern (durch die Stadt Leipzig wegen der vergifteten Umstände der Entstehungszeit nicht abgeholt, obwohl längst ordentlich bezahlt) und die Treppe am eigentlichen Denkmalort – das war ein Realisierungstorso aus Marmor-Bruchstücken. Zu allem Übel entstand hinter der fertigen Treppenanlage in den 1970er Jahren ein trutzig-düsterer Dienststellen-Klotz des allgegenwärtigen, auf einen eleganten Treppenzugang jedoch keineswegs erpichten Ministeriums für Staatssicherheit. Daraufhin verschwand die Treppenanlage klammheimlich und wich einer abweisenden Umfassungsmauer. Bis zum Anbruch vielversprechender, geänderter Perspektiven nach 1990 änderte sich wenig – abgesehen von der Aufstellung der Richard-Wagner-Büste am Schwanenteich im Jahre 1983, zum 100. Todestag des Komponisten.

Vollendung in Neu-Deutung


Es folgte wieder ein Umbruch. Doch wo waren die Bruchstücke der Treppenanlage? Waren sie ordentlich eingelagert? Oder blieben sie für immer verschollen? Unverhofft stießen Mitarbeiter des städtischen Grünflächenamtes am Rande einer peripheren Deponie auf die Fragmente der Stufen und ihrer künstlerischen Einfassung. Von Einlagerung keine Spur, von Totalverlust glücklicherweise auch nicht. Jetzt hofften die Wagnerianer, dass die Treppenanlage an ihren zugedachten Standort zurückkehren konnte. Eine stadtgeschichtlich neu gepolte Verwaltung hakte sich unter und förderte nach Maßgabe der Vorschriften.

Welches Denkmal sollte an Wagner erinnern, sobald der Klinger-Sockel aus dem Hain an der Elster endlich an seinen geplanten Standort am Promenadenring umgesetzt würde? Vollendung der Klinger-Idee? Oder ein Neuguss des 1934 vorgesehenen, wahrhaft riesigen Standbilds? Im Rückblick behauptet jeder Involvierte, in Kenntnis der drückenden historischen Belastung niemals für den Neuguss gewesen zu sein. Gut so. 

Die Stadt Leipzig und die Verbände der Wagnerianer lobten klugerweise einen künstlerischen Wettbewerb aus. Es gewann Stefan Balkenhol aus Karlsruhe. Er kombinierte das Abbild des jungen Wagner, der all seine Schaffensimpulse in der Jugend in Leipzig erhielt, im Biedermeier-Gewand eines eleganten Gehrocks (farblich akzentuiert) mit dem Schatten der Skulpturen-Idee, wie sie einhundert Jahre zuvor von Max Klinger stammte.

Am 15. Mai 2013 brachte ein Transporter den lebensgroßen Bronze-Wagner nach Leipzig. An diesem strahlenden Maientag blühten ringsum die Rabatten, so als wäre einzig und allein üppiger Blumenschmuck geeignet das Abbild des Komponisten in seiner Geburtsstadt zu begrüßen, und Stefan Balkenhol leitete persönlich die Aufstellung des Denkmals. Am 22. Mai 2013, zum 200. Geburtstag des Künstlers, fand die Einweihung statt. Seither streiten die Leipziger, ob die skulpturale Würdigung gelungen sei. Denn am authentischen Ort findet sich ein Denkmalsockel, der einst eine andere figurale Version tragen sollte, und das alles findet kaum 150 Meter von Wagners Geburtshaus statt, das es nicht mehr gibt. Wenn endlich das dumpfe Büromonster hinter dem Denkmal verschwinden würde, wären wohl alle Betrachter versöhnter als bislang.

Stand: 10.01.2022

Magirius, Friedrich

Theologe, Kommunalpolitiker | geb. am 2. Juni 1930 in Dresden

Friedrich Magirius ist einer der prominentesten evangelisch-lutherischen Theologen, die im Zuge des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs im Herbst 1989 in ein direktes politisches Engagement geradezu hineingezogen wurden und als besonnene Moderatoren der aufgeheizten, meinungsstarken Diskussion breiter bürgerschaftlicher Kreise besonders gefragt waren. Bis heute müsste sich jeder Veranstalter eines einigermaßen gewichtigen Dialogs in Leipzig die Frage gefallen lassen, wo denn Friedrich Magirius sei, falls er im Teilnehmerkreis nicht gleich entdeckt würde.

Karriere in der evangelischen Kirche


Friedrich Magirius kommt aus der Generation, die im jugendlichen Alter das Ende der NS-Diktatur und der Schrecken des Zweiten Weltkriegs miterlebt hat. Aufgewachsen in Radebeul in der bürgerlichen Familie eines Amtsgerichtsrats, erlebte Magirius im Februar 1945 den Untergang seiner Geburtsstadt Dresden im Bombenkrieg mit. 

Auf das Abitur folgte das Theologiestudium von 1948 bis 1950 an der Kirchlichen Hochschule Berlin-Zehlendorf in der Vier-Mächte-Stadt Berlin und von 1950 bis 1953 an der Universität Greifswald. Es folgten erste berufliche Positionen in Einrichtungen der evangelischen Kirche in Sachsen. In der weiteren Karriere des Theologen stehen seine Pfarrstellen zunächst ab 1958 in Einsiedel und anschließend an der Kreuzkirche in Dresden. Einfluss und Anerkennung erwarb sich Magirius in besonderer Weise als Leiter der Aktion Sühnezeichen in der DDR. Dieses Engagement wird bei den polnischen Nachbarn bis heute registriert und geschätzt.

1982 folgte der Wechsel nach Leipzig. Bis zum Erreichen des Pensionsalters 1995 wirkte Magirius als Superintendent des Kirchenbezirks Leipzig Ost. Von seiner Wohnung im Haus der Kirche am Nikolaikirchhof aus fiel sein Blick nicht nur ständig auf dieses Gotteshaus – Magirius nahm als Pfarrer der Nikolaikirche zusammen mit Christian Führer vor allem Einfluss auf die montäglichen Friedensgebete, die seit den frühen 1980er Jahren einen ständig steigenden Zustrom von Leipzigern erfuhren. Die aus heutiger Sicht völlig unspektakuläre Aufforderung „Nikolaikirche – offen für alle“, die als Blechschild an den Fahrradständer der Kirche montiert war, entfaltete damals eine außerordentlich mobilisierende Wirkung.

Die frühen 1980er Jahre waren eine aufgewühlte Zeit. Der Warschauer Vertrag im Osten und die NATO im Westen überboten sich als Speerspitzen der Systemkonfrontation beim Aufstellen von Mittelstreckenraketen, die atomar bestückt werden konnten und im Falle einer militärischen Auseinandersetzung von beiden deutschen Staaten nichts übriggelassen hätten. Vernunft war gefragt – ebenso wie das Herunterkühlen der politischen Temperatur.

Diplomatischer Theologe in der Nikolaikirche


Aus der konkreten Situation heraus, nahmen die Diskussionen in der Nikolaikirche im Verlauf der 1980er Jahre einen immer politischeren Charakter an. Oppositionelle, die gegen die verknöcherten Zustände in der DDR aufbegehrten, fanden hier den Diskussionsort, den sie sich wünschten und der sie in ihren Ansichten weiter bestärkte. Magirius, der zu den publizistisch immer wieder so titulierten „Kirchenoberen“ gehörte, war angesichts der aufgeheizten Situation ein gesuchter Ansprechpartner für diejenigen, die damals in Leipzig die Staatsmacht verkörperten und die aufflammenden Proteste immer weniger bändigen konnten. Ganz Theologe setzte Magirius auf Friedfertigkeit und Ausgleich, auf Diplomatie statt Konfrontation. Damit erzeugte er zugleich Widerspruch bei denjenigen Oppositionellen, die sich einen fordernderen Auftritt gegenüber den offiziellen Stellen wünschten. Denn, dass es weniger das Interesse am Gebet und theologischen Argument als vielmehr der hochkochende Hang zum Protest oder zur beabsichtigten Ausreise aus der DDR war, der montags die Nikolaikirche immer mehr füllte, sahen alle Beteiligten und Beobachter sehr schnell und eindringlich.

Aus dem Abstand von inzwischen über 30 Jahren und nach einem Sturzbach politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen ist die Unerbittlichkeit der Diskussion, die weiterhin anhält, erstaunlich. Immerhin war es Magirius‘ Diplomatie, die der Kirche Spielräume verschaffte und bewahrte, während die Frage spekulativ bleiben muss, ob eine härtere Konfrontation zwischen Oppositionellen und Staatsmacht den widerständigen Anliegen dienlicher gewesen wäre und zeitiger zu einem Umbruch wie dem Herbst 1989 geführt hätte. Es ist wohl eher so, dass Magirius viele derjenigen schützte, die ihn bis heute mehr oder weniger hart kritisieren. Magirius selbst äußerte öffentlich: „Als Christ sitzt man immer zwischen den Stühlen“.

Die Nikolaikirche als Institution und die beiden Pfarrer Magirius und Führer als Personen gerieten 1989 immer mehr in den Strudel des Umbruchs. Aus der Forderung „Wir wollen raus“ wurde das trotzige „Wir bleiben hier“, als sich kommende Veränderungen allmählich andeuteten. Zur Herbstmesse Anfang September 1989 bekamen die in Leipzig versammelten West-Korrespondenten diejenigen Aktionen und Motive vor die Linse, die einem staunenden Publikum in West und Ost verblüffende Eindrücke vermittelten: „Da braut sich was zusammen“.

Stadtpräsident in den Jahren des Umbruchs


Als der Umbruch bereits volle Fahrt aufgenommen hatte, stieg Friedrich Magirius zum Moderator des Leipziger Runden Tisches und damit zum Steuerer des Dialogs und des Verwaltungshandelns zwischen zurückweichenden alten und den drängenden neuen Kräften auf. Die Kommunalwahl im Mai 1990 brachte ein weiteres neues Amt für ihn. Er wurde Stadtpräsident, wie das die demokratische Kommunalverfassung damals vorsah, und damit für weitere vier Jahre der diplomatisch ausgleichende Steuerer der Stadtverordnetenversammlung mit ihren aufwallenden politischen Emotionen, während der neue Oberbürgermeister
Hinrich Lehmann-Grube von Amts wegen die Stadtverwaltung führte. Beide – der Theologe aus dem Osten und der versierte Verwaltungsjurist aus dem Westen – bildeten ein nahezu ideales Gespann, um die Geschicke der gesamten Stadt in dieser aufwühlenden Zeit ausgleichend zu lenken. 

Nach dem Ausscheiden von Friedrich Magirius entfiel das Amt des Stadtpräsidenten. Geblieben ist das Engagement des Hochbetagten. Der Ausgleich mit Polen in einem nimmermüden Dialog der gegenseitigen Verständigung ist ihm eine Herzensangelegenheit. In Leipzigs Partnerstadt Krakow genießt Magirius höchstes Ansehen. Daneben kümmert er sich engagiert um das Andenken ehemaliger jüdischer Bürger der Stadt Leipzig, die in den NS-Vernichtungslagern ermordet wurden. Wenn anlässlich des jährlichen Gedenktages an die Reichspogromnacht Stolpersteine vor ehemaligen Wohnstätten Leipziger Juden geputzt werden, ist Friedrich Magirius dabei.

Die Stadt Leipzig verleiht im Mai 2022 ihrem hochverdienten Bürger Friedrich Magirius die Ehrenbürgerwürde. Sie gilt einer Jahrhundertleistung.

Stand: 15.02.2022

Bildergalerie - Magirius, Friedrich

Mädler-Passage

Grimmaische Straße 2-4 / Neumarkt 14 | Ortsteil: Zentrum

Diese Bildsequenz ist legendär, denn sie illustriert so eindringlich wie keine andere den historischen Bogen und den kühnen, wirtschaftsgeleiteten Anspruch der Stadt Leipzig und ihrer Favoriten in der Einheitseuphorie ab 1990: Da steht ein mittelalter eleganter Herr im feinen grauen Maßanzug in einer lichtdurchfluteten Passage. Sein stolzer Blick ist leicht nach oben gerichtet, und das Lächeln strahlt eine unerschütterlich optimistische Sicht aus. Der gewinnend Auftretende heißt Jürgen Schneider und kommt aus Kronberg im Taunus. Aufnahmeort ist die Mädler-Passage in Leipzig. 

Ein Spitzenplatz im Leipziger Passagensystem


Beeindruckend sollen sie gewesen sein – die haushohen Einfahrten für die schwer bepackten Fuhrwerke der Kaufleute, um pünktlich zur Messe in die Innenhöfe der Leipziger Handelshäuser zu gelangen. Das befand zumindest der in Leipzig seinen vielfältigen Studien nachgehende
Johann Wolfgang Goethe aus Frankfurt am Main. Als die Messe später auf moderne Verkehrsmittel umsattelte, ließen sich die vorhandenen Schluchten der Fuhrwerksdurchfahrten zwischen den Handelshäusern mit Glasdächern überwölben, auf dass darunter weiterhin Handel und Wandel im nunmehr feineren Ambiente stattfinden konnte. Das zu einmaliger Dichte heranreifende Leipziger Passagensystem war geboren. Nicht genug damit, dass sich an einigen Stellen im Stadtzentrum Passagen mit weit zurückreichender Entstehungsgeschichte finden, gingen prominente Leipziger Unternehmer im frühen 20. Jahrhundert daran, neue Passagen anzulegen, also den vielfach gelobten Bezug auf die Handelsgeschichte der wohlhabenden Stadt schöpferisch aufzunehmen und neu zu interpretieren.

1911 schlug die Stunde für Auerbachs Hof, einen historischen Bau, der sich zur Grimmaischen Straße hin öffnete. Auf Initiative und mit kräftigem Kapitaleinsatz durch Kommerzienrat Anton Mädler sollte auf dem geschichtsträchtigen Grund eine neue, repräsentative Straßenfront mit Zugang zu einer Passage angelegt werden. 

Ein Industrieller wird Immobilienentwickler


Mädler führte zu dieser Zeit die Koffer- und Taschenfabrik Moritz Mädler und war damit durchaus in einer Schlüsselbranche tätig. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte das wohlhabende Bürgertum die Lust am Reisen und am Erkunden der Welt entdeckt. Das ging nur mit hochwertigem Reisegepäck – aus Leder und mit einem festen Rahmen aus stabilen Holzleisten. An bunte Rollkoffer aus Nylon dachte dieses elegante Publikum sicher nicht. 

Die Leipziger Firma Mädler war ein Star ihrer Branche. Sie beschickte Messen und Weltausstellungen, warb in anspruchsvollen Publikationen und mit prächtigen eigenen Katalogen und wickelte glänzende Geschäfte ab. Der finanzielle Grundstock für den Bau der Mädler-Passage im Herzen der Stadt war geschaffen. 1911 entstand nach Plänen von Theodor Kösser zunächst der Flügel von der Grimmaischen Straße bis zur Rotunde. Weitere gezielte Grundstückskäufe in der Nachbarschaft gestatteten 1912 den Bau des rechtwinklig zur ersten Ladenzeile zum Neumarkt führenden Passage-Abschnitts. 1914 war der Bau dann abgeschlossen. Leipzig besaß damit eine elegante, weltstädtische Attraktion mehr. Eine Passage wie diese musste keinen Vergleich mit Mailand oder Paris scheuen. Fußläufig waren viele aneinandergereihte Einzelhandelsgeschäfte erreichbar. Hinter den mit üppigem Bauschmuck umkränzten Fenstern im ersten Stock befanden sich auf 5.700 Quadratmetern Ausstellungsräume der Messebranchen Leder und Porzellan. Der Passageneingang an der Grimmaischen Straße wird von zwei lebensgroßen weiblichen Figuren flankiert, die Weintrauben und eine Vase tragen. Damit wird Bezug auf die Zweckbestimmung der Passage als Messehaus und Weinkeller genommen. Auf den berühmten Auerbachs Keller stößt man gleich wenige Meter nach Betreten der Passage. Der Treppenabgang wurde geschickt und stilsicher in die Passage einbezogen. Davor stehen seit über 100 Jahren ehrwürdig die berühmten Faustskulpturen des Bildhauers Mathieu Molitor

Willkommener Qualitätsanspruch


Auch die DDR wusste, was sie an diesem architektonischen Kleinod hat. Die Mädler-Passage war immer gepflegt und ein gern präsentierter Solitär unter den innerstädtischen Ausstellungspalästen. Unter den Läden im Erdgeschoss ragten die Hinrichs’sche Buchhandlung, ein Fotogeschäft, ein bibliophiles Antiquariat und ein Wäschegeschäft heraus. Der sächsische Daueraussteller
Meissner Porzellanmanufaktur bescherte der Rotunde ein Porzellanglockenspiel, das manche Passanten veranlasste, einige Minuten an dieser Passagengabelung zu verweilen, um zur erwarteten vollen Stunde dem hellen und klaren Klang zu lauschen, der dort ertönte.

So sehr die Mädler-Passage auch geschätzt und gehegt wurde, so groß war ebenfalls der Investitionsbedarf für das intensiv genutzte Kleinod. In diese zwiespältige Situation fiel die deutsche Einheit mit ihrem kräftigen Zustrom anlagewilliger Investoren und zielsicherer Projektentwickler. Jürgen Schneider war der stürmischste unter ihnen. Gern gab er die Saga zum Besten, dass er sich eines sonnigen Septembersonntags im Jahr 1990 Knall auf Fall in Leipzig verliebt hat und hier mit Schwung ein Immobilienimperium von besonderer Strahlkraft aufzuziehen gedenkt. Die Banken unterstützten seine hochfliegenden Pläne, die öffentliche Verwaltung glaubte in ihm den Retter sanierungsbedürftiger Bausubstanz gefunden zu haben und viele Leipziger bespöttelten das wuchernde Investitionsrevier als „Schneider-City“. Mochte er im Zentrum von Leipzig auch anpacken, was er wollte, die Mädler-Passage war immer als Krönung seiner Pläne gedacht. Zum Glück für Leipzig waren deshalb die Arbeiten in der Mädler-Passage schon weit vorangekommen und an prominenten Stellen abgeschlossen, als das Auf-Schneider-Universum am 12. April 1994 in einem dunklen finanziellen Loch mit langen Gesichtern seitens der überrumpelten Banken endete.

Stilsicher ins 21. Jahrhundert

 

Ob heutige Flaneure gelegentlich noch an Jürgen Schneider denken, wenn sie in der Mädler-Passage einen Prosecco genießen? Vielleicht, mit einem milden Lächeln. Liegt alles ja schon fast 30 Jahre zurück. Geblieben ist der hohe Anspruch des hier vertretenen Einzelhandels, geändert hat sich der Branchen-Mix. Edle Uhren, exquisite Schreibwaren, Wohnaccessoires und kulinarische Genüsse pflegen heutzutage bewusst den Appell an einen gehobenen Lebensstil. Im Kabarett Sanftwut gibt es Theater mit Lachgarantie. In der Mephisto Bar lässt sich der Strom anspruchsvoller Käufer und vorüberziehender Seh-Leute trefflich studieren. Und zu Veranstaltungen wie dem Leipziger Passagenfest oder dem Leipziger Weihnachtsmarkt ist die Mädler-Passage selbstverständlich eine feste Größe.

Stand: 25.12.2021

Bildergalerie - Mädler-Passage

Historisches Bildmaterial - Mädler-Passage

Leipziger Baumwollspinnerei

Spinnereistraße 7 | Ortsteil: Lindenau

Auf den Bergbau im Erzgebirge und die Textilindustrie in den Städten stützte sich das deutsche industrielle Kernland Sachsen anfangs vor allem. Die aufblühende Industriestadt Leipzig folgte diesem Muster und verdankte ein Gutteil ihrer Geltung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der florierenden Textilindustrie und ihren Vorstufen. Ein Branchenprimus genießt Weltgeltung bis heute – die Leipziger Baumwollspinnerei. Doch nicht mehr als Arbeitsstätte tausender Frauen, sondern in erster Linie als Zentrum von Künstlerateliers und Galerien. Hier steckt der industrielle Wandel förmlich in jeder Mauerritze.

Am Kanal wächst eine Fabrikstadt


Früher handelte es sich bei der Baumwollspinnerei um eine nahezu geschlossene Fabrikstadt, die sich über eine Gesamtfläche von zehn Hektar erstreckte. Den Kern bildeten die Fabrikationsstätten; am Rand der geschäftigen Stadt in der Stadt – zur Thüringer Straße hin – reihte sich für die dort Beschäftigten Wohnhaus an Wohnhaus. Die Baumwollspinnerei war ein schmuckes Kind des phänomenalen industriellen Aufschwungs der jungen Großstadt Leipzig nach 1871. Sie entstand ab 1884 auf freiem Gelände, aber in weiser Voraussicht einer kommenden, leistungsstarken infrastrukturellen Anbindung. Gegenüber vom damaligen
Bahnhof Plagwitz-Lindenau gelegen, war dem Industriebetrieb eine Anschlussbahn bis vor die Fabrikhallen ebenso sicher wie der Zugang zu den Brauchwasserressourcen des entstehenden Elster-Saale-Kanals, den heutzutage jedermann nur als Karl-Heine-Kanal kennt. 

Insgesamt vier Entwicklungsschübe ließen „die Spinne“ längs der Anschlussbahn wachsen, deren Gleise bis heute im Pflaster der innerbetrieblichen Werkstraße zu finden sind. Eigene Baumwollplantagen in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika sicherten der Baumwollspinnerei den Rohstoffbezug. Damit machte sich das Unternehmen unabhängig vom Baumwollimport aus England, der bis dahin dominiert hatte.

Primus im Kreis der europäischen Spinnereien


Im Gründungsjahr 1884 drehten sich in
Lindenau, das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht nach Leipzig eingemeindet war, 30.000 Spindeln. 1909 – am Höhepunkt der Unternehmensentwicklung – waren es 240.000. Damit stieg die Leipziger Baumwollspinnerei zur größten in Kontinentaleuropa auf. Eine klassische gemalte Fabrikansicht öffnet das Fabrikpanorama über den Kanal hinweg bis zur Spinnerei und zu weiteren Plagwitzer Unternehmen in der Ferne. Überall rauchende Schlote – so sah damals Fortschrittsgewissheit aus, und Leipzig verströmte mit seinen Großbetrieben eine Menge davon. 1928, am Vorabend der Weltwirtschaftskrise, fand sich die Baumwollspinnerei nach ihrem Aktienkapital auf Rang 21 der größten Leipziger Unternehmen. Doch mit ihren 2.290 Beschäftigten war sie die Nummer 2 der Großindustrie in der Messestadt.

1946 ging die Baumwollspinnerei in Volkseigentum über. Ihr wirtschaftlicher Rang als Exportbetrieb blieb bestehen. Allerdings ließ sich die Wettbewerbsposition im Laufe der Zeit nur unter Mühen aufrecht erhalten. Spinnereien in den Anbauländern der Baumwolle ließen sich viel kostengünstiger betreiben. Die deutsch-deutsche Währungsunion ab dem 1. Juli 1990 schuf Tatsachen: In D-Mark zu zahlende Löhne für die in Leipzig versponnene, importierte Baumwolle trieben den Betrieb in der Weltmarktkonkurrenz vollkommen ins Abseits. 1993 kam das Aus für die Garnproduktion in dem Traditionsunternehmen. Als letzter aktiver Betriebsteil bestand die Reifencordherstellung an der Alten Salzstraße bis in die frühen 1990er Jahre. Dann schwiegen auch dort die grenzwertig beanspruchten Maschinen, und ein Großbetrieb mit einst tausenden Beschäftigten verschwand aus dem Handelsregister.

From Cotton to Culture – was für ein Wandel


Ein Investor aus Köln erkannte zum Glück das in den massiven Fabrikgebäuden schlummernde Potential. Als Produktionsstätte von Wolle waren sie aus dem Marktgeschehen ausgeschieden. Als neues Domizil für Kreative eigneten sie sich dagegen vorzüglich. Der Slogan „From Cotton to Culture“ für das Spinnereigelände verdichtet den Anspruch zur Gewissheit. 24 markante Gebäude und Gebäudeteile finden sich auf dem optischen Wegweiser am Eingang zur Fabrik. Manche erwecken den Eindruck, dass hier erst vor Kurzem der letzte Zug mit Baumwollballen oder Kohle angekommen ist, andere stellen den Wandel hinter den historischen Fassaden demonstrativ heraus. Seit 2001 ist der gelernte Architekt
Bertram Schultze Geschäftsführer der Betreibergesellschaft der Spinnerei. Er ist davon überzeugt, dass niedrige Mieten die Basis für Künstler und Kreative sind, dass sie Räume anmieten und ohne Druck arbeiten können. 

Zwölf Galerien haben sich hier angesiedelt, darunter Eigen+Art von Gerd Harry „Judy“ Lybke. In mehreren Ateliers arbeiten bekannte Maler der Leipziger Schule. Es kann durchaus passieren, dass einem zwischen den Fabrikgebäuden Neo Rauch auf seinem Fahrrad entgegenkommt. Spezialgeschäfte für Künstlerbedarf stellen die materielle Basis für die neuen Werke sicher. Das SpinLab in Regie der Handelshochschule nutzt die knisternde Atmosphäre des Areals, um versponnenen Produktideen junger Innovatoren den Weg zum Pionierunternehmen zu bahnen. Und ein Ingenieurbüro, das auf vielfältige Weise den industriellen Wandel in Leipzig und drumherum begleitet, ist ebenfalls Mieter auf dem Spinnereigelände. Lofft – das Theater für Tanz, Theater und Performances bildet in der Halle 7 die jüngste Ansiedlung in der zu Kreativität einladenden Umgebung. Grelle Leuchtbuchstaben im Werbestil der 1960er Jahre weisen den Weg.

Favorit der Umgestaltung


Bundes- und Landesprominenz ist gern und häufig zu Gast in der Baumwollspinnerei. Wo sonst lässt sich so eindringlich der Wandel von einem epocheprägenden Industrieareal zu einer Heimstatt für Kreative zahlreicher Richtungen und Inspirationen ablesen?! Deshalb fiel die Wahl zur anschaulichen Präsentation einer gelungenen Transformation schon mehrfach auf die Baumwollspinnerei. Tage des Stadtumbaus sind ebenso wie der
Tag des offenen Denkmals oder der Tag der Industriekultur wie geschaffen für einen Besuch des weitläufigen Areals. Vom jährlich dreimal durchgeführten Rundgang – SpinnereiGalerien als Großereignis für Kunstinteressierte ganz zu schweigen. 

Es ist die Stärke dieses versunkenen Fabrikgeländes, dass es industriekulturell Interessierte mit authentischen Sachzeugen anzieht, während Freunde der Kunst ihren passenden Zugang zur stillen Welt der Ateliers oder zu heißen Debatten in dem dafür eingerichteten Kunstzentrum in der Halle 14 finden.

Stand: 25.12.2021

Bildergalerie - Leipziger Baumwollspinnerei

Historisches Bildmaterial - Leipziger Baumwollspinnerei

Kaufmann, Küf

Regisseur, Kabarettist, Schriftsteller | geb. am 6. Mai 1947 in Marx (Russische Föderation)

Küf Kaufmann ist ein Multitalent. Leitmotiv seines Wirkens ist die starke kulturelle Neigung. Richtschnur seines Handelns ist die Verankerung des jüdischen Lebens in der deutschen Gesellschaft. Ausrufezeichen seiner öffentlichen Äußerungen sind die Positionen in verschiedenen jüdischen Organisationen. Wenn es darauf ankam, hat er sich notgedrungen auch mit profanen Geschäften durchgeschlagen und seinen Lebensunterhalt verdient, um anschließend mit frischer Kraft durchzustarten und seinen wahren Ambitionen nachzugehen. Als Jude aus dem untergegangenen deutschen Siedlungsgebiet an der Wolga, der seit 1990 in der vereinigten Bundesrepublik lebt und wirkt, vereint Küf Kaufmann in seiner Persönlichkeit verschiedene jüdisch-russisch-deutsch-europäische Züge. Sie wirken integrierend, nie verwirrend.

Unterhaltsamer Realsozialismus


Als jungen Mann zog es Küf Kaufmann 1966 aus dem südukrainischen Melitopol, wo seine Familie inzwischen lebte, zum Regiestudium nach Leningrad an eine Fachhochschule für Kultur. Nach dem erfolgreichen Abschluss hieß seine erste berufliche Station Petrosawodsk, eine der unzähligen, mittelgroßen russischen Industriestädte, die aus der Perspektive der Metropolen immer nur als „Provinz“ durchgehen.

Doch dann folgte die Einberufung zum Wehrdienst. Weil der nicht-militärische Auftritt durch die Truppe stets einen wichtigen Teil ihres beflissen gepflegten Wahrnehmungs-Spektrums nach außen bildete, gab und gibt es dort manche kulturelle Aktivitäten. Für den nicht besonders groß gewachsenen Küf eine willkommene Gelegenheit, seine Neigungen auch als Uniformträger zu pflegen. 1971 avancierte er dank seines beruflichen Hintergrunds zum Regisseur des Gesangs- und Tanzensembles der Sowjetarmee in Leningrad. Viele, die zum Wehrdienst verpflichtet waren, können gut nachvollziehen, welchen Vorzug es bedeutete, eine kleine interne Flucht anzutreten und dem Dienst mit der Knarre durch einen Dienst mit der Gitarre auszuweichen.

Nach seinem Wehrdienst blieb Küf Kaufmann in Leningrad, wo er seinen Lebensunterhalt als freiberuflicher Mitarbeiter verschiedener Medien im Bereich Kultur verdiente. 1980 stieg er zum Regisseur der Leningrad Music Hall auf, der er zehn Jahre lang treu blieb. Da fanden sich zwei, die gut zusammenpassten. Küf Kaufmann ist ein Unikum, die Leningrad Music Hall nicht minder. Das Revuetheater in der liberaler wirkenden, „eigentlichen“ russischen Hauptstadt bot ständig jene Portion lässiger Unterhaltung, die Moskau oft schmerzlich vermissen ließ. Kein Wunder, dass sich Talente davon angezogen fühlten. Doch in jenen Jahren begann die Sowjetunion zu beben. Nicht genug damit, dass „Piter“, wie seine Einwohner stets liebevoll schwärmten, beim Namen in die Rolle rückwärts zu St. Petersburg einschwang, brachten die unruhigen Zeiten neben zarten fortschrittlichen Pflänzchen auch allerlei Reaktionäres und Chauvinistisches hervor. Menschen wie Küf Kaufmann drohte Gefahr.

Ausweg und Hoffnungspfad Bundesrepublik


Der Antisemitismus erlebte in der russischen Geschichte mehrere Konjunkturen – wiederkehrende beschämende Aufschwünge ebenso wie einigermaßen beschwichtigende Abschwünge. Als sich die Situation in der chaotischen Niedergangsphase der Perestroika am Übergang zu den 1990er Jahren wieder einmal gefährlich zuspitzte, kam Küf Kaufmann eine Verpflichtung nach Berlin, wo im Friedrichstadtpalast einen gemeinsame Revue einstudiert werden sollte, gerade recht. Nur ging ausgerechnet in dieser Zeit auch die Berechenbarkeit mancher Entwicklung im umbrechenden deutschen und Berliner Ostteil verloren. Während sich also Küf Kaufmann gerade hoffnungsvoll auf dem Weg an seinen neuen Wirkungsort befand, wurde der Intendant des Friedrichstadtpalastes, der ihn engagiert hatte, entlassen. Damit war zugleich die Neu-Anstellung des Regisseurs, der soeben seine Leningrader Verankerung gekappt hatte, hinfällig. 

Es soll ein wohlgemeinter Ratschlag während eines Ost-Berliner Barbesuchs in gedrückter Stimmung gewesen sein, der Kaufmann einen Ausweg und ein leidliches Auskommen als Handelsvertreter wies: Der just im deutschen Einheitsjahr 1990 aus Russland Eingetroffene schickte sich an, bald darauf unspektakuläre Lebensmittel an die eigenen Landsleute zu verkaufen, die sich per Vertrag in der Gegenrichtung, also nach Hause, aufmachen mussten. Ohne Käse, Wurst und Bier lief auch bei den illusionslos heimkehrenden Kriegern nichts.

Im Jahr darauf zog Küf Kaufmann nach Leipzig. Er versuchte sein Glück in der Gastronomie, verlor aber nie die Kultur aus dem Blick. 1997 – da war Küf Kaufmann längst ein überzeugter Leipziger – kam die Zeit für neue Regieaktivitäten. Sie prägten seine Arbeit sechs Jahre lang und sorgten für reichlich Publizität. Die profunde Kenntnis kultureller Themen, das apart rollende „R“ in jedem mündlichen Vortrag und selbstironisch eingestreuter jüdischer Humor formten eine Marke und eine feste Größe im reichlich gefüllten Leipziger Kulturkalender. Zusammen mit Bernd-Lutz Lange spielte Küf Kaufmann ab dem Jahr 2000 Kabarett. Das Programm „Fröhlich und meschugge“ schlug einen unterhaltsamen deutsch-jüdischen Bogen, nahm Eigenheiten und Befindlichkeiten auf’s Korn und schaffte den Spagat, einem historisch schwierigen Thema den wohl dosierten Witz abzugewinnen, ohne den gebotenen Ernst einer belastenden Vergangenheit zu übertünchen.

Aktiv für die Präsenz des jüdischen Lebens


Bei all dem gezeigten Talent zum ausgewogenen öffentlichen Auftritt lag es nahe, Küf Kaufmann im Jahre 2005 den Vorsitz der
Israelitischen Religionsgemeinde zu übertragen. Immer öfter war er im Ariowitsch-Haus, dem Leipziger Zentrum der jüdischen Kultur, anzutreffen. Lesungen und Diskussionen galt es, zu einem wirkungsvollen Programm zusammenzufügen. Für unersetzliche, teils stimmungsvolle, teils bedrückende Archivbestände mussten Wege in eine gesicherte Zukunft gefunden werden. Küf Kaufmann, der Rastlose, brachte sich überall im Geiste bestandskräftiger Lösungen ein.

Damit strahlt er seit Langem weit über Leipzig hinaus aus. Die Wahl zum Mitglied des Präsidiums des Zentralrats der Juden in Deutschland im Jahr 2010 war folgerichtig. Und über Küf Kaufmann als 209. Mitglied konnte sich der Richard-Wagner-Verband Leipzig freuen. Mitglied in diesem Verband trotz Wagners Schmähschrift „Das Judentum in der Musik“? Kaufmann ist ganz Diplomat; das Elaborat nennt er „blöd“, aber Wagners Musik findet er klasse.

Jüdisches Leben ist für Küf Kaufmann kein Museum, sondern „ein lebendiger und wachsender Teil der Gesellschaft“. Hinein ins jüdische Leben und hinaus in die Gesellschaft beschreibt eine erfolgreiche Doppelstrategie.

Nicht ignorieren lässt sich das fortgeschrittene Lebensalter vieler Gemeindemitglieder. Für das Fundament einer guten Zukunft gewann deshalb der Umgang mit dem Archivbestand der Israelitischen Religionsgemeinde besondere Bedeutung. Um den Verbleib im Keller des Ariowitsch-Hauses wurde fünf Jahre lang leidenschaftlich gerungen. Anfang 2022 setzte sich Küf Kaufmann mit seiner Lösung durch: Die Akten, Urkunden, Fotos und Pläne gelangten als Depositum in das Stadtarchiv Leipzig. Die Israelitische Religionsgemeinde behält die Verfügung darüber. Worüber er sich nach der gelungenen Übergabe der kostbaren Unterlagen an das Leipziger Stadtarchiv am meisten freuen würde, beantwortet Küf Kaufmann auf seine unnachahmliche Weise: „Wenn es gelänge, endlich den Krieg ins Archiv zu verbannen“.

Stand: 10.03.2022

Bildergalerie - Kaufmann, Küf

Kaufhaus Ebert / Commerzbank

Thomaskirchhof 22 | Ortsteil: Zentrum

Ein Kaufhausbau im Leipziger Zentrum repräsentiert recht kompakt die steinerne Chronik des Einzelhandels der Innenstadt mit all seinen Steilkurven und Abschwüngen, den Umbauten und Funktionswechseln – und ist ein bedeutendes Beispiel des Jugendstils in Leipzig. Es geht um das Kaufhaus Ebert, das unter diesem Namen in keinem aktuellen Stadtplan mehr zu finden ist. Als Hauptfiliale der Commerzbank in Leipzig dagegen schon.

An der Spitze des sächsischen Textil-Einzelhandels


Franz Ebert
war ein talentierter Kaufmann. 1896 – mitten im dritten Wachstums-Jahrzehnt der jungen Großstadt Leipzig – eröffnete er ein Konfektionsgeschäft für Damen und Kinder in der Petersstraße 40. Die Geschäfte liefen prächtig, denn zu den Geschäftsräumen im Parterre des Hauses kamen schon zwei Jahre später die drei oberen Geschosse hinzu und kurze Zeit später zwei Etagen des Nachbarhauses Petersstraße 42. Zu diesem Zeitpunkt müssen die Pläne für ein eigenes Kaufhaus gereift sein, natürlich in der brodelnden Innenstadt. Just im Jahr 1900 wurde an der Ecke Thomaskirchhof/Klostergasse das betagte Amtshaus abgerissen. Dieses exponierte Grundstück sicherte sich Ebert. Der Entwurf für ein Kaufhaus, das dort entstehen sollte, stammte aus dem bekannten einheimischen Architektenbüro Schmidt und Johlige. Mit dem Felsenkeller, Zills Tunnel und Gewerbebauten in der Nonnenstraße hatten August Hermann Schmidt und Arthur Johlige bereits Zeichen gesetzt.

Dem Kaufhaus gaben die Baumeister eine charakteristische Form in Gestalt der abgeschnittenen Ecke, die den Verkaufstempel monumentaler und repräsentativer erscheinen lässt. Das gesamte fünfgeschossige Bauwerk, das 1904 bezogen wurde, spielt schwelgerisch mit den Elementen des Jugendstils und baute in seiner Entstehungszeit eher eine Brücke in das verflossene 19. Jahrhundert anstatt mit reduzierten, funktionaler daherkommenden baulichen Zutaten den Aufbruch in das viel nüchterner auftretende 20. Jahrhundert herauszukehren. Stattdessen eben dominierten elegant schwingende Holztüren unten sowie zierliche Türmchen und eine Krone oben. Vom großzügigen Entree wandten sich die Treppen zu beiden Seiten majestätisch nach oben, und die hohen Fensterflächen auf jeder Verkaufsetage ließen philosophische Schlüsse zu, ob die Käufer ausdrücklich gesehen werden sollten oder ob ihnen bewusst ein unverstellter Blick auf die umgebenden Bauten geboten wurde. Ein großstädtischer Kaufhausbau, der gut zu Leipzig passte, war auf jeden Fall gelungen. Die große Anzahl vergoldeter Fassadenelemente erweckte Aufmerksamkeit und ist für ein Geschäftshaus in Mitteldeutschland einmalig. Den Eingang zum Gebäude zieren zwei imposante Allegorien, welche die weiblichen „Sünden“ Eitelkeit (Superbia) und Genussucht (Luxuria) darstellen. 

Das Haus sei „mit allen technischen Neuerungen eingerichtet“ und biete „dem kaufenden Publikum die größten Bequemlichkeiten“, versprach die Werbung. In der sachlichen Diktion der Einzelhandelsökonomie bot der Konsumtempel etwa 5.000 Quadratmeter Nutzfläche, was rund einem Sechstel des späteren, nicht weit entfernten Primus unter der wechselnden Flagge vom Kaufhaus Althoff / Centrum / Karstadt entsprach. Mit seinem Neubau schwang sich Franz Ebert erst recht in die Spitzengruppe des Leipziger Einzelhandels auf. Anzeigen lockten die Kunden in das „größte Spezialhaus für Damen- und Kinder-Kleidung in Sachsen.“ Dass mitten in Leipzig sortimentstypisch auch Pelze offeriert wurden, versteht sich. Dem bürgerlichen Leipzig öffnete sich eine angemessene Angebotswelt.

Langer Weg vom Kaufhaus zum Bankhaus


Kaufhausgründer Franz Ebert starb im Jahr 1922. Die unruhige, kritische Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war sicher keine Erfolgsphase für den Einzelhandel. Mit der Hyperinflation im Spätherbst des darauffolgenden Jahres war der Tiefpunkt erreicht. Es folgte eine zaghafte Stabilisierung. Der Bezug auf Franz Ebert in einer Publikation der Leipziger Handelskammer im Jahr 1925 mit dem Versprechen „sein Werk aber besteht weiter und wird von seinen Erben in seinem Geiste nach altbewährten Grundsätzen fortgeführt“ wirkt wie die trotzige Botschaft, aus einer schwierigen Lage das Beste zu machen. Bald mussten kapitalkräftige Anteilseigner in das Privatunternehmen geholt werden, um die Marktposition zu verteidigen. Aus dieser Zeit stammt die Bezeichnung „Indanthren-Haus“, das eine neue Marke setzte und älteren Leipzigern noch Jahrzehnte später geläufig war. Hinter dem Kunstwort Indanthren verbirgt sich eine Produktbezeichnung für licht- und farbecht gefärbte Textilien unter Nutzung entsprechender Stoffe aus dem Chemiekonzern IG Farben. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das von Franz Ebert gegründete Kaufhaus der Konsumgenossenschaft übertragen, die ganz im Sinne der versprochenen Wandels zum Besseren daraus das „Kaufhaus Fortschritt“ machte. Am dominanten Textilsortiment gab es keine Änderung. Derweil kam das einst stolz auftrumpfende Gebäude immer mehr in die Jahre. Das Gold der Figuren auf den Schildern am Eingang war längst stumpf geworden und mit einer Staubschicht bedeckt. Der Charme des Treppenhauses schwand, und die hölzernen Fußbodendielen auf den Verkaufsetagen knarrten und ächzten verdächtig. Unverhofft trug sich noch ein deutliches Aufbäumen zu: Als es in der bleiern lastenden Atmosphäre der 1980er Jahre darauf ankam, wenigstens ein bisschen Erlebniskauf vorzuspielen – ein Gefühl, das reiselustige DDR-Bürger inzwischen bereits in Ungarn und in historischen Einzelhandelsgeschäften in der Tschechoslowakei kennen und schätzen gelernt hatten – wurde das Gehäuse des traditionsreichen Kaufhauses Ebert aufwendig saniert und als Kaufhaus Topas weiter genutzt. In Sachen Textil für eine breite Käuferschicht blieb das Topas ein kleiner Edelstein, gemessen an damaligen Ansprüchen.

Die Privatisierung des früheren DDR-Einzelhandels in der Treuhand-Phase ab 1990 stellte dagegen alles auf den Kopf. Viel zu verspielt erschien nunmehr das dekorative Interieur des Kaufhauses, reichlich unökonomisch die Relation von Verkaufs- zur Gesamtfläche. In dieser Situation schlug die Commerzbank zu und leitete den Wandel des Kaufhauses zu einem Bankgebäude ein. Die großen Fensterflächen im Erdgeschoss sollten der Leipziger Kunst vorbehalten sein, warben die Frankfurter Banker, um ungebremst und mit Leipziger Wohlwollen den Umbau beginnen zu können. Ob diese Kunst-Vision wohl jemals kommt?

Zweimal trugen sich teure Havarien an Vorabenden geplanter Bank-Eröffnungen im Gehäuse des einstigen Textilkaufhauses zu. Doch die Leipziger sind ja – mehrheitlich – nicht abergläubisch, und so blieben allenfalls komische Koinzidenzen in Erinnerung. Ob auch das Bankgeschäft „nach altbewährten Grundsätzen fortgeführt“ wird? Im Zuge der Bankenkrise 2008 musste die Commerzbank jedenfalls mit staatlichen Milliardenbeträgen gerettet werden – und damit irgendwie auch das Kaufhaus Ebert in Leipzig.

Stand: 26.09.2023

Bildergalerie - Kaufhaus Ebert / Commerzbank

Historisches Bildmaterial - Kaufhaus Ebert / Commerzbank

Flughafen Leipzig/Halle

Terminalring 11 | Schkeuditz

Alles begann mit einer Standortsuche, um dem Nebel zu entgehen. Als sich die Verkehrsluftfahrt mit Motorflugzeugen in den 1920er Jahren in den Himmel erhob, wollte Leipzig unbedingt früh dabei sein. In Mockau, im Norden der Stadt war ein Landeplatz für Zeppelin-Luftschiffe bereits etabliert, der für die neue Generation von Propellermaschinen ebenfalls geeignet war. Jedoch bemühte sich auch das nur 35 Kilometer entfernte Halle um eine gute Ausgangsposition an der Startlinie der Verkehrsluftfahrt. In Schkeuditz wurden die Planer fündig. Das freie Areal für den avisierten Flughafen lag erhöht genug, um dem gefürchteten Nebel in den Auenniederungen von Saale und Weißer Elster möglichst zu entgehen. Denn Radar für Schlechtwetterflüge gab es damals noch nicht. 

Towerblick auf ein Drehkreuz der Luftfahrt


Von der Aussichtsterrasse des Towers der Flugsicherung aus den 1980er Jahren eröffnet sich ein nahezu komplettes Panorama aus Historie und Gegenwart des heutigen Flughafens Leipzig/Halle. Manche Veränderung ist gut erkennbar, auch wenn die ältesten Gebäude aus dem Eröffnungsjahr 1927 längst verschwunden sind. Im Süden, auf der Schkeuditz zugewandten Seite, entstand schnell ein vom Bauhaus inspiriertes, transparentes Abfertigungsgebäude mit üppigen Glasflächen. Dass dieser Bau die Zeitläufe nicht überstand, bedauern Luftfahrt-Enthusiasten, denn es war im Grunde der Prototyp aller modernen Verkehrsflughäfen in der weiten Welt – mit klarer Trennung von Ankunft und Abflug und einer Abstellfläche für die Flugzeuge auf der Luftseite. Wegen der Modernität des Schkeuditzer Flughafens entschied sich die junge Lufthansa für dieses Aushängeschild ihrer Ansprüche, und damit war der stadtnähere
Flughafen Mockau für die Messestadt Leipzig plötzlich nur noch die Nummer zwei. 

Wer die historischen Fotos betrachtet, wird allerdings nachdenklich beim Gang der Fluggäste durch den Freisitz des Flughafenrestaurants hindurch, an den neugierigen Besuchern an den Kaffeetischen vorbei in Richtung ihrer abflugbereiten Maschine. Es galten offensichtlich unbeschwert lockere Sicherheitsstandards… 

Neustart als Messeflughafen


Nach militärischer Zwischennutzung im Zweiten Weltkrieg gelangte der Schkeuditzer Flughafen in der DDR-Zeit zu neuen Airport-Ehren während der
Leipziger Messen. Flogen die niederländische KLM oder die schweizerische Swissair auf Messe-Sonderlinien ein, bot ein solides Interim-Abfertigungsgebäude aus den 1950er Jahren die angestrebte einigermaßen weltstädtische Abfertigungskapazität. Der umgenutzte Zweckbau findet sich bis heute auf der Südseite. Zu sichtbarem Positionsgewinn setzte der Messeflughafen aus Prestigegründen in den 1970er Jahren an. Das Neubaugeschehen begann mit einem Flachbau, der mittlerweile bescheiden und fast randständig wirkt und dem Bereich General Aviation vorbehalten ist. Von hier startete die Interflug an manchen Tagen nach Moskau, Tatry, Varna und Burgas, und zu den Messen wurde es mit Aeroflot, Air France, British Airways, SAS, Swissair, KLM und Lufthansa (seit den 1980er Jahren) erheblich bunter.

Den Partnern aus dem Westen war daran gelegen, das Ziel im Osten mit Spitzentechnik anzusteuern. Spektakulär gestalteten sich ab 1986 die Messe-Sonderlinien von Air France und British Airways mit dem Überschall-Verkehrsflugzeug Concorde nach Leipzig. Die Welt war geteilt. Für den eleganten Superjet blieb die Destination Leipzig die einzige jemals angeflogene „hinter dem Eisernen Vorhang“. Seitens des Flughafens Leipzig/Halle eine historische Exzellenzposition mit Ewigkeitswert.

Mit der Einheit in den Steigflug


Mehr als die für rund 200.000 Fluggäste pro Jahr ausgelegten Kapazitäten konnte der Flughafen ab 1990 nicht in die deutsche Einheit einbringen. Wie sollten damit die als märchenhaft empfundenen Zahlen von über einer Million Fluggästen ordentlich abgefertigt werden? Die neue Gesellschaft des nun offiziell als Flughafen Leipzig/Halle firmierenden Unternehmens musste bauen, was das Zeug hielt und was die Flächen hergaben. 

Mitte der 1990er Jahre ging als erstes das neue Abfertigungsgebäude in Betrieb. Damit konnte sich der Airport ein wenig Luft in seinem Steigflug verschaffen. Indes näherten sich die jährlichen Fluggastzahlen längst ihrer nächsten „Schallmauer“: zwei Millionen.

Erkennbaren Nutzen zog Leipzig/Halle aus der fortschrittlichen Vorgabe der EU-Verkehrspolitik, moderne Flughäfen auf kurzen Wegen mit dem überregionalen Straßen- und Schienennetz zu verknüpfen. Die unmittelbare Nähe zu gleich zwei Bundesautobahnen gehört zur vorteilhaften „Erbmasse“ des Airports. Außerdem berührt ihn seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts eine Neubaustrecke im Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn. Um die Verkehrsträger geschickt zu kombinieren, legt sich seit dem Jahr 2001 der Abfertigungskomplex mit Parkhaus über Autobahn und Gleise und führt direkt zum  Abflug. Als dieses Bauwerk in Betrieb ging, wiesen alle Festredner darauf hin, dass für eine Verlängerung nach Norden Vorsorge getroffen sei. Entstünde jenseits der Autobahn A 14 ein zweites Bauwerk für Ankunft und Abflug, würde die jährliche Kapazität des Flughafens Leipzig/Halle auf fünf Millionen Passagiere und mehr steigen. Allerdings ist das Zukunftsmusik. Reichlich zwei Millionen Passagiere sind seit Jahren schon lange ein nur mäßig schwankender Wert.

Fracht-Millionäre im Anflug


Kräftige Investitionen in eine neue und in die neu in der Hauptwindrichtung ausgerichtete vorhandene Start- und Landebahn schufen die Basis für ein Geschäftsfeld, das sich seit 15 Jahren aus dem einstigen Schatten des Passagierverkehrs gelöst hat und noch schneller als „die Flüge zu den Sonnenzielen“ wuchs – den Frachtverkehr. Ausgehend von kaum ins Gewicht fallenden Mengen im Jahr 1990 bis zum Durchbrechen der Eine-Million-Tonnen-Marke innerhalb eines Jahres verging nur eine kurze Zeit. Dieser Trend wirkt weiter. Ankerinvestor ist seit 2009 die weltweit tätige Expressfracht-Gesellschaft
DHL aus dem Konzern der Deutschen Post. Leipzig/Halle ist für sie das global bedeutendste Drehkreuz und damit ein wirklicher Interkontinental-Airport.

Stand: 26.09.2023

Bildergalerie - Flughafen Leipzig/Halle

Deutsches Buchgewerbehaus / Bugra-Messehaus

Gutenbergplatz 3 und 5 / Gerichtsweg 24 | Ortsteil: Zentrum-Südost

Buchgewerbe und Graphik bilden in Leipzig historisch und funktional eine eng verschlungene, unzertrennliche Gemeinschaft. Das Bündnis reicht so weit, dass gelegentlich sogar das Kunstwort Bugra herhalten muss, um die Einheit der schönen, anspruchsvollen Seiten der „schwarzen Kunst“ zu verdeutlichen. Erkennbare Gestalt gewann das gelungene Zusammenspiel von Buchgewerbe und Graphik im Bugra-Messehaus. Aufwändig restauriert hält es heutzutage die Erinnerung an eine grandiose Epoche des Leipziger Buchwesens wach. 

Branchensitz im Weltzentrum der Polygraphie


Ohne Übertreibung, Leipzig war Ende des 19. Jahrhunderts die Welthauptstadt der Polygraphie. Mochten in der Phase der Hochindustrialisierung anderswo bereits höhere Auflagen populärer Werke gedruckt werden – in Leipzig war die noble Gattung des schön und gediegen gestalteten Buches zu Hause. International hoch angesehene Professoren der
Universität Leipzig steuerten anspruchsvolle Inhalte bei. Die Creme der deutschen Buchverlage hatte hier ihren Sitz. Zehntausende Frauen und Männer arbeiteten in den Druckereien, Buchbindereien und Verlagsbuchhandlungen. Die Maschinen kamen aus Leipziger Weltmarktfabriken, wie Gebrüder Brehmer Maschinenfabrik oder Karl Krause Maschinenfabrik, die bekanntesten Schriften entstammten spezialisierten Gießereien, alle denkbaren Papierqualitäten wurden hier gehandelt, und die Druckfarben waren ebenfalls „Made in Leipzig“. Kaum eine Innovation der Branche kam ohne aktives Leipziger Zutun aus. Und über allem Glanz der Branche wölbte sich die Leipziger Buchmesse. Klar, dass deshalb auch der 1884 gegründete Deutsche Buchgewerbeverein – die reichsweite Dachorganisation der Branche – in Leipzig ihren Sitz nahm. Sie brauchte ein passendes Gehäuse, das die große Tradition mit dem bewusst repräsentierten Anspruch des gewerblichen Erfolgs sichtbar zusammenfügte. So entstand zwischen 1898 und 1901 das Buchgewerbehaus als Pendant zum benachbarten Buchhändlerhaus. Vom schwedischen Architekten Emil Hagberg im Stil der Hochrenaissance gehalten, hob sich der Bau bewusst historisierend von anderen Gebäuden jener Umbruchperiode ab, die sich zunehmend mit zurückhaltender Funktionalität begnügten. Das Deutsche Buchgewerbehaus war dagegen für den tiefen, geschichtlichen Atem ersonnen.

Erinnerung an den Fortschritt der Buchproduktion


1888 befand der Leipziger Oberbürgermeister
Otto Georgi, „dass die Bande, welche den deutschen Buchhandel seit geraumer Zeit mit unsrer Stadt verknüpft haben, auch noch für lange Zeit als unzerreißbar sich erweisen werden.“ Der fromme Wunsch ließ sich ein Jahrzehnt später nahtlos auf das Buchhändlerhaus und seinen Trägerverein übertragen. Das Buchgewerbehaus beherbergte die Büros der graphischen Mitgliedsvereine und spannte in seinen Ausstellungsräumen einen weiten Bogen von den neuesten gezeigten Maschinen bis zu herausragenden Verlagsproduktionen eines jeden Jahres sowie bis zum Deutschen Buchgewerbe-Museum. Den räumlichen Mittelpunkt bildete die prächtige Gutenberghalle, in der ein drei Meter hohes Standbild von Johannes Gutenberg, dem Erfinder des Buchdrucks mit mechanischen Lettern, huldigte. Zwei kleinere Porträtbüsten würdigten Alois Senefelder, den Erfinder der Lithographie, und Friedrich Koenig, den Erfinder der Schnelldruckpresse. Drei Namen – drei epochale Fortschritte der Buchproduktion.

Erweiterungsbau für das Bugra-Haus


Eine finale Steigerung der Leipziger Marktposition im Bereich Buchgewerbe und Graphik sollte die für das Jahr 1940 geplante Gutenberg-Reichsausstellung bringen. Dafür schuf der Leipziger Architekt
Curt Schiemichen einen Erweiterungsbau des Buchgewerbehauses für Buch, Schrift und zugehörige Maschinerie. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhinderte jedoch die geplante Schau eines der friedlichsten und kulturell hochstehendsten Gewerbe, die denkbar sind. Höchste Ansprüche mündeten stattdessen in erschütternde Zerstörung. Beim ersten schweren britischen Bombenangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 stand das weltberühmte Leipziger Graphische Viertel in Flammen. Historiker vergleichen den kulturellen Verlust mit dem Brand der Bibliothek von Alexandria in der Antike. Auch das Buchgewerbehaus wurde arg in Mitleidenschaft  gezogen.

Doch als endlich wieder Frieden einzog und Leipzig in einer fundamental veränderten Welt seine führende Marktstellung nicht zuletzt in der Polygraphie zurückzuerlangen versuchte, musste auf der „ewigen“ Suche nach ausreichender Ausstellungsfläche für die Messe auch das inzwischen nur noch so firmierende Bugra-Messehaus mit allem herhalten, was nutzbar schien.

Wandel vom Messehaus zum Wohngebäude


Mühsam in Teilen wieder hergestellt, verlor das Messehaus Bugra in den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg seine berühmte Gutenberg-Festhalle. Immerhin fand in dem Gebäude die Branche Polygraphie wieder eine Heimstatt – mit einem technischen Profil von Weltgeltung der gezeigten Maschinen. Erst ab den 1960er Jahren bezogen Polygraph und seine westlichen Branchennachbarn auf der
Technischen Messe eine neue Heimstatt.

Der Name Bugra blieb, doch die Ausstellungsetagen gehörten fortan den Bereichen Foto, Kino, Optik und Labortechnik. Weltfirmen zeigten hier ihre exzellenten Erzeugnisse in deutlichem Kontrast zum stark beschädigten und nur mühsam renovierten Gebäude. 1990 keimte neue Hoffnung. Aus dem Bugra sollte voller Euphorie wieder ein angemessenes Museum für Druckkunst werden. Das Vorhaben blieb jedoch stecken und verschwand auf Nimmerwiedersehen von der Tagesordnung. Nur wenige erklärte Verehrer von Buchgewerbe und Graphik wussten, dass sich im Fundus des Museums für Buch- und Schriftkunst der Deutschen Nationalbibliothek noch ein höchst attraktives Modell des Bugra-Hauses in seiner ursprünglichen Gestalt befand.

Aus den Dachrinnen des Originals reckten sich inzwischen Birken in die Höhe. Das Bauwerk schien verloren, bis zwischen 2015 und 2017 eine kaum noch für möglich gehaltene Sanierung des prächtigen Gebäudes gelang. Die exzellent herausgeputzte Fassade, instandgesetzte Verzierungen aus Sandstein und zurückgewonnene allegorische Darstellungen rund um Papier und Buch haben ein Kleinod wiederbelebt. Damit einher ging die Umwandlung in ein Wohngebäude. Doch Leipzig hat – äußerlich – das Bugra-Messehaus zurück, zusammen mit der wehmütigen Erinnerung an einstige Weltgeltung in einer industriellen Schlüsselbranche am authentischen Ort. Diese Sanierungsleistung schuf einen markanten Gewinn für das Stadtbild.

Stand: 26.09.2023

Bildergalerie - Deutsches Buchgewerbehaus / Bugra-Messehaus

Historisches Bildmaterial - Deutsches Buchgewerbehaus / Bugra-Messehaus

error: Dieser Inhalt ist geschützt! Es ist nicht gestattet, diesen Inhalt zu kopieren. Vielen Dank für Ihr Verständnis.