Umsäumt von niedrigen Sträuchern stehen 140 Bronzestühle an der Gottschedstraße, die die meisten Leipziger als Kneipenmeile kennen. Einladend sehen sie nicht gerade aus. Sie gehören zu einem begehbaren Denkmal, das die beiden Leipziger Architekten Anna Dilengite und Sebastian Helm für das Eckgrundstück Gottschedstraße/Zentralstraße geschaffen haben. Es erinnert an die Große Gemeindesynagoge, die während der Novemberpogrome in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in Brand gesteckt und zerstört wird. Die leeren Stühle sind voller Symbolik. Die Nationalsozialisten haben nicht nur ein bedeutendes Gebäude unweit des Promenadenringes zerstört. Auch die Menschen, die in die Synagoge zum Gebet kommen, sind fort. Ausgegrenzt, verfolgt, vertrieben, ermordet. Stege führen nun hinein in die Reihen. Besucher sollen sich durchaus mal setzen, verweilen und vor allem nachdenken. Sich an diesem Gedenkort mit der Geschichte der ehemaligen Großen Gemeindesynagoge beschäftigen. Durch diese Gestaltung wird auch das räumliche Vakuum des Ortes schmerzhaft bloßgelegt.
Eine Synagoge auch für Messebesucher
Die Große Gemeindesynagoge wird auch „der Tempel“ genannt. Das Gotteshaus ist die älteste und bedeutendste Synagoge Leipzigs und wurde nach Plänen von Otto Simonson, einem Schüler von Gottfried Semper, mit etwa 1.600 Plätzen auf einem trapezförmigen Grundriss konzipiert. Das Gebäude muss groß genug sein, um auch von den jüdischen Handelsleuten, die regelmäßig zur Leipziger Messe in die Stadt kommen, genutzt zu werden. Die Grundsteinlegung erfolgt am 9. September 1854.
Ein Jahr später, am 10. September 1855, kann Rabbiner Adolf Jellinek es bereits einweihen. Das im maurischen Stil errichtete Gotteshaus ist stilprägend für den Synagogenbau in Deutschland in dieser Zeit. Bei seiner Weihe wirkt der Thomanerchor mit. Die Gemeinde ist liberal. Sogar eine Ladegast-Orgel gibt es ab 1868. Diese liberale Ausrichtung führt allerdings zu Akzeptanzproblemen mit den zugewanderten orthodoxen Juden. Deshalb wird für sie die Ez-Chaim-Synagoge in Apels Garten 4/Otto-Schill-Straße errichtet, die in der Reichspogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 ebenfalls zerstört wurde.
Gedenkstein erinnert an die Zerstörung
Um an die Zerstörung der Großen Gemeindesynagoge zu erinnern, wurde am 18. November 1966 an der ehemaligen Nordfassade ein Gedenkstein aus Cottaer Sandstein aufgestellt. Der Leipziger Bildhauer Hans-Joachim Förster entwarf ihn. Das Grundstück der ehemaligen Synagoge diente viele Jahrzehnte als Parkplatz und Standort einer Trafostation. Nach der Friedlichen Revolution im Herbst `89 gibt es Restitutionsansprüche.
Bereits im Juni 1994 beschließt der Stadtrat, in der Gottschedstraße eine würdige Gedenkstätte für die mehr als 13.000 ermordeten und verfolgten Leipziger Juden zu errichten. Doch das Vorhaben zieht sich hin, da komplizierte Grundstücksfragen zu klären sind. So bemüht sich auch die Jewish Claims Conference als Sachwalterin erbenlosen jüdischen Besitzes um das Grundstück. Sie zieht ihre Ansprüche dann aber zurück.
1997 wird die Stadt Leipzig Eigentümerin der Fläche. Gemeinsam mit der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig lobt sie einen sachsenweit offenen anonymen Wettbewerb aus, zu dem auch internationale Künstler eingeladen sind. Die Leipziger Architekten Anna Dilengite und Sebastian Helm gehen zwar nicht als Sieger aus dem Wettbewerb hervor. Favoriten der Jury sind zunächst ein strenger Kubus aus Beton und Glas sowie alternativ ein Labyrinth aus Glasplatten, auf denen die Namen aller ermordeten Leipziger Juden stehen sollen.
Doch Dilengite und Helm überzeugen mit ihrem Entwurf den Stadtrat. Die Gedenkstätte für verfolgte, ausgegrenzte und ermordete jüdische Bürger wird am 24. Juni 2001 im Beisein des israelischen Botschafters in Deutschland, Shimon Stein, eingeweiht. „Die Menschen sollen sich auf die Stühle setzen und beim Aufstehen die Erinnerung mitnehmen“, sagte er damals.
Brodyer Synagoge bleibt erhalten
An der Grundstücksgrenze steht eine Wand aus Sichtbeton mit Texten in englischer, deutscher und hebräischer Sprache auf jeweils drei Bronzetafeln. Wie die Synagoge aussieht, können auch Nichtsehende in Braille-Schrift ertasten.
Von den Leipziger Synagogen ist lediglich die Brodyer Synagoge in der Keilstraße, die 1904 in ein Wohnhaus hinein gebaut wurde, in ihrer ursprünglichen Funktion erhalten geblieben. Dort konnten beherzte Anwohner im November 1938 den Brandherd löschen. Die Inneneinrichtung sowie Fernster wurden dennoch demoliert. Das Gebäude der Brodyer Synagoge wird „arisiert“, dient danach als Seifenfabrik und wird im Oktober 1945 wieder als Synagoge geweiht. Heute ist sie die Gemeindesynagoge der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig.
Stand: 17.12.2023