City-Tunnel Leipzig

Willy-Brandt-Platz / Markt / Wilhelm-Leuschner-Platz / Bayerischer Bahnhof | Ortsteil: Zentrum

Er ist das Leipziger Bauwerk mit der längsten und emotionalsten Entstehungsgeschichte – der City-Tunnel. Dabei ist seine Funktion einfach und einleuchtend. Der City-Tunnel soll unter der Leipziger Innenstadt hindurch den Hauptbahnhof direkt mit dem Bayerischen Bahnhof verbinden und damit vermeiden, dass Bahnkunden auf ihrem Weg von einem Ende der Stadt zum anderen „um das Zentrum herum“ fahren müssen.

Eine Idee der Altvorderen lebt wieder auf


Es traf sich, dass der Leipziger Hauptbahnhof im Einheitsherbst 1990 just 75 Jahre alt wurde. Solch ein Anlass eignet sich für tragende Reden. In der Jubiläumsansprache des damals erst seit Kurzem im Amt befindlichen Leipziger Oberbürgermeisters
Hinrich Lehmann-Grube (SPD) fand sich eine kurze Passage, die den gar nicht neuen Gedanken befeuerte, Hauptbahnhof und Bayerischen Bahnhof mit einem unterirdischen Schienenweg miteinander zu verbinden. Die wachsenden Möglichkeiten des vereinten Landes eröffneten wohl auch an dieser Stelle ungeahnte Perspektiven.

Viele europäische Großstädte – London, Paris, Wien, Moskau, St. Petersburg – verfügen seit der Frühzeit der Eisenbahn über Kopfbahnhöfe. Irgendwann wurden diese Stationen in den Metropolen durch eine Ring-U-Bahn miteinander verbunden. In Leipzig, das in einer bescheideneren Liga spielte, musste es dagegen keine Ringlinie sein. Die Überlegungen kreisten hier ja auch um nur zwei Bahnhöfe in mäßiger Entfernung voneinander, und dafür war und ist eine geradlinige Verbindung die Lösung. Immerhin, am Beginn des 20. Jahrhunderts war für Leipzig eine Kleinprofil-U-Bahn auf der Strecke im Stadtinneren geplant. Um die erforderliche Baugrube nicht zweimal ausheben zu müssen, sollte die neue Strecke zeitgleich mit der Ostseite des Hauptbahnhofs entstehen, faktisch also eingebaut werden.

Dass die Arbeiten zügig begannen, sieht jeder aufmerksame Bahnreisende in Richtung Dresden auf der noch gemächlichen Fahrt durch das Gleisvorfeld des Hauptbahnhofs. Dort weist ein betonierter Einschnitt auf die Gefällestrecke hin, die in den U-Bahn-Tunnel münden sollte. Der Erste Weltkrieg machte diese Pläne zunichte. Alle Aktivitäten rund um den modernen Bau, der Leipzig in die Spitzengruppe der Städte mit einer U-Bahn katapultiert hätte, wurden gestoppt. Im fertig betonierten Tunnelabschnitt unter der Osthalle lagerte in der Notzeit Butter in einem Vorratslager. Später zog in einen Teil des unterirdischen Gewölbes das Zeitkino der DEFA ein, das Reisenden vor der Abfahrt ihres Anschlusszuges ein wenig Zerstreuung bot.

Mitten durch das Zentrum


Was in den 1990er Jahren favorisiert wurde, zeigte einen geänderten Tunnelverlauf. Die Westseite des Hauptbahnhofs fungierte als Fixpunkt des unterirdischen Bahnhofsteils. Als Vorteil erwies sich, dass die Strecke nunmehr unter dem Markt verlaufen konnte. Kein Skeptiker fand deshalb noch einen Anlass, an der Trassenwahl mit Zentrumsbezug zu zweifeln. Wäre einhundert Jahre eher wirklich die U-Bahn projektgetreu entstanden, hätte sie den
Augustusplatz berührt.

Für die geänderte Strecke fiel die Wahl der unterirdischen Haltepunkte dagegen auf den Hauptbahnhof, den Markt, den Wilhelm-Leuschner-Platz und den Bayerischen Bahnhof. Auch die Station Leipzig MDR gehört zur City-Tunnel-Trasse, liegt aber bereits oberirdisch in einem künstlichen Einschnitt. Als befahrene Länge des eigentlichen City-Tunnels ergeben sich damit rund zwei Kilometer. Wenn jemand ungefähr vier Kilometer als Tunnellänge in die Annalen einträgt, addiert er vor lauter Stolz die Längen beider Tunnelröhren.

Bauen unter Kosten- und Termindruck


Einfach verlief die Baugeschichte des City-Tunnels nicht. Für die Finanzierung mussten die Europäische Union, die Bundesrepublik Deutschland, der Freistaat Sachsen, die Deutsche Bahn und die Stadt Leipzig eine einvernehmliche Lösung finden. Bei Kosten von rund einer Milliarde DM (etwa 500 Mio. Euro) trafen sich die Verhandler.

Zuerst suchten Spezialisten im Untergrund der avisierten Linie in einem engen Raster nach Blindgängern aus den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs. Dann wanderte der Portikus des Bayerischen Bahnhofs zur Seite, und der eigentliche Tunnelvortrieb konnte beginnen. Weil die heilige Barbara Schutzpatronin aller Tunnelbauer der Welt ist, muss eine Frau die Patenschaft für gutes Gelingen übernehmen. In Leipzig war es die Ehefrau des sächsischen Ministerpräsidenten, Angelika Meeth-Milbradt.

Glück brauchten die Bauarbeiter auf ihrer Reise durch den Untergrund der tausendjährigen Stadt Leipzig reichlich. Der wöchentliche Vortrieb stand jeden Sonnabend wie in einem Bautagebuch in der Tagespresse. Doch weit entfernt von Leipzig, gleichwohl aber folgenreich, trugen sich in der Entstehungszeit des City-Tunnels mehrere Brände in Verkehrstunneln der Alpen zu. Daraufhin wurden die europäischen Sicherheitsanforderungen unverzüglich verschärft, was unvermeidlich als Kostentreiber wirkte. Langsam verblassende Querelen mit einigen Baufirmen führten ebenfalls zu finanziellen und terminlichen Konsequenzen. Mit der Auffahrt des ersten Röhrenquerschnitts bis zum Hauptbahnhof, der Demontage der Vortriebsmaschine und der anschließenden zweiten, parallelen Röhre war es nicht getan. Der avisierte Eröffnungstermin 2009 purzelte mehrfach heftig. Zum guten Schluss ging der City-Tunnel am 14. Dezember 2013 in Betrieb, indem er ein ganzes Linienbündel der zeitgleich startenden S-Bahn Mitteldeutschland aufnahm. Im Fünf-Minuten-Takt rollen seither in der Hauptverkehrszeit die silbergrauen Züge unter dem Leipziger Stadtzentrum hindurch und weiter an Endpunkte in Halle und im Umland.

960 Mio. Euro hat das Bauwerk zusammen mit allen begleitenden Arbeiten für die S-Bahn gekostet. Wenn die eiligen Leipziger durch die Stationen hasten, riskieren sie einen Moment lang vielleicht einen Blick auf die Architektur. Jede Tunnelstation ist ein Unikat – ein höchst seltener Fall in Zeiten der Normung und Sparsamkeit. Am Bayerischen Bahnhof hat Peter Kulka seine Spuren hinterlassen, am Leuschnerplatz stammt die Erinnerung an die traditionellen Leipziger Fabrik-Gesichter mit ihren Glasziegeln von Max Dudler aus der Schweiz, und das Ocker der schallschluckenden Lamellen am Markt orientiert sich am Farbton der Ziegel aus Leipzigs Gründerzeit.

Stand: 25.12.2021

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Dr. Helge-Heinz Heinker
Der in Leipzig-Connewitz geborene habilitierte Ökonom ist bekennender Eisenbahn- und Flugzeugfan. Er arbeitet als Wirtschaftsjournalist und ist (Mit)Autor von über 70 Publikationen, darunter eine Vielzahl von Abschnitten zur Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung seit dem 19. Jahrhundert in der wissenschaftlichen Stadtgeschichte der Stadt Leipzig (Band 3 und 4), „Leipzig Hauptbahnhof. Eine Zeitreise“, „Boomtown Leipzig. Anspruch und Wirklichkeit“, „Wolfgang Tiefensee: Eine Biographie“ und „150 Jahre Straßenbahn für Leipzig“. Seit Mai 1999 moderiert er die Veranstaltungsreihe „Tourismusfrühstück“ sowie Kongresse, Tagungen und Fachveranstaltungen. An den Wochenenden tourt er öfters mit Touristen durch die Stadt und stellt ihnen bei der Stadtrundfahrt Leipzigs Attraktionen vor.
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