Degner, Peter

Veranstaltungsmanager, Grabredner, Impressario | geb. am 23. Januar 1954 in Leipzig; gestorben am 15. Januar 2020 in Bad Klosterlausnitz

Großen Wert legte er auf ein gepflegtes Äußeres. Dutzende verschiedene Brillen und farbige Outfits, von einer eigenen Schneiderin genäht, gehören zu den Markenzeichen von Peter Degner. Ihn behalten viele Menschen als schillernde Figur, die ihnen einst die Classic Open schenkte, in Erinnerung. Das Sommermusikfestival Leipziger Markt Musik wird ab 2024 wieder unter dem Namen „Classic Open – Leipzig ist Musik – Leipzig macht Musik“ firmieren, nachdem die Peter-Degner-Stiftung sich mit der Stadt Leipzig über die Markenrechte geeinigt hat.

Bildergalerie - Degner, Peter

Ein Abend aus der Not geboren


Das würde den ewigen Junggesellen wohl freuen, der 1954 in Leipzig in einem christlichen Elternhaus geboren wird. Hier wächst er auf, besucht die Polytechnische Oberschule „Richard Wagner“ in der Karl-Vogel-Straße. Dort macht er Bekanntschaft mit dem weltberühmten Komponisten
Richard Wagner, dessen Büste im Musikzimmer thront. Schon im Alter von 13 Jahren steht Peter Degner das erste Mal auf der Bühne. 

1967 tritt er mit einer Spejbl-&-Hurvínek-Parodie in der Talentshow „Herzklopfen kostenlos“ des DDR-Fernsehens auf. Es folgen mehrere Auftritte, später wird er gelegentlich als Conférencier gebucht. Nach der Schule geht er zunächst im Magdeburger Modehaus Bormann in die Lehre und kommt für 18 Monate zur Nationalen Volksarmee, nach der obligatorischen Grundausbildung in eine Kulturbatterie. Er gilt als politisch unzuverlässig, wird Grabredner und hält Tausende von privaten Abschiedsreden. Und er gründet schließlich seine eigene Ein-Mann-Agentur. „Wenn mich Leute fragen, was ich beruflich mache, sage ich Blödsinn: Ein bisschen blöd, ein bisschen Sinn“, sagt Degner, der zeitlebens im Leipziger Osten wohnt, später einmal im Interview. Zu diesem Zeitpunkt hat der waschechte Leipziger schon einige Erfolge kreiert. 

Die Bühnen-Laufbahn beginnt in den frühen 1990er-Jahren mit der Veranstaltungsreihe „Treff mit P.D.“. Die Idee ist aus der Not geboren. Für einen Gastronomenball verpflichtet der Konzertmanager die Sängerin und Schauspielerin Evelyn Künneke, doch die Veranstalter sagen kurz vorher ab. Ein Abend mit ihr im Restaurant Falstaff, den er kurzerhand als Ersatz organisiert, wird trotz üppiger Eintrittspreise ein Riesenerfolg. Es folgen Treffs mit vielen anderem bekannten Künstlern, darunter Hildegard Knef, Caterina Valente, Fips Fleischer, Maximilian Schell, Gisela May.

Classic Open wird sein Durchbruch


23-mal präsentiert er schließlich im Sommer seine erfolgreiche Reihe „Classic Open“ auf dem
Markt sowie als Ausweichort auf dem Augustusplatz. „Classic Open“ ist eine mehrtägige Open-Air-Veranstaltung bei freiem Eintritt mit klassischer Livemusik sowie DVD-Aufführungen, bei der die Gäste gepflegt speisen und guter Musik lauschen können. Diesen Sommerhit hebt er 1995 aus der Taufe und betreut ihn als künstlerischer Leiter. Durch diese Veranstaltung wird er einem größeren Publikum bekannt. Als Classic Open Extra gibt es die Reihe auch am Silvesterabend. Dann wird Beethovens IX. Sinfonie live aus dem Gewandhaus zu Leipzig auf den Markt übertragen.

Legendärer Auftritt als Pavarotti


Peter Degner liebt die Selbstinszenierung. Hat immer einen Witz auf den Lippen, den er gelegentlich mehrmals erzählt. Zur Begrüßung des Publikums singt er manchmal selbst. Und er stellt es vor ein Rätsel, als bei den „Classic Open“ 1996 plötzlich Luciano Pavarotti auf dem Balkon des 
Alten Rathauses erscheint. Dass er sich selbst als Pavarotti in Szene setzt, gibt er erst viele Jahre später zu. Es sind wohl die persönlichen Gesten, auch zu den Gästen, die den Charme seiner Veranstaltungen ausmachen. Der Impresario hat viele Ideen, die sich allerdings nicht alle umsetzen lassen. In Erinnerung bleibt auch ein Konzert auf dem Alten Johannisfriedhof am Grassimuseum.

Peter Degner ist durchaus ein Lebemann. Er liebt Zigarren und nimmt kaum Rücksicht auf seinen Körper. Er mag ebenfalls einfache Kost. Und sein Spruch „Man kann nur eine Bockwurst am Tag essen“ bleibt mir in Erinnerung. Eine Bäckerei benennt sogar eine Brezel nach ihm. Degner ist auf Du und Du mit den Stars und doch am liebsten volksverbunden. Seinen Fans gibt er den Rat: „Besinnt Euch auf die wirklichen Werte des Lebens“. Reich zu werden, war nie seine Motivation, schreibt er in seiner Autobiographie „… und ich dreh mich noch mal um – Vom Grabredner zum Impresario“, die 2018 im Verlag Neues Leben erschien.

In seinen letzten Lebensjahren muss er sich mit schweren gesundheitlichen Problemen herumschlagen. 2015 wird ihm ein Fuß amputiert. Es gibt zudem Streit mit der Stadt Leipzig. 2017 bezuschusst diese die Reihe, die Degner bislang auf eigenes Risiko finanziert, erstmals mit 50.000 Euro. Der Streit entzündet sich an Abrechnungsmodalitäten mit der Stadt und einem Geschäftspartner. Die Peter-Degner-Stiftung zahlt schließlich die Fördermittel zurück. Degner beteuert immer wieder, er habe niemanden betrogen. Was die Leipziger Staatsanwaltschaft schließlich bestätigt. Doch bei einer Neuausschreibung der Reihe „Classic Open“ kommt er ab 2018 nicht mehr zum Zug. „Sein Baby“ verloren zu haben, setzt ihm schwer zu. 

Rote Rosen für ein Leipziger Original


Bis an sein Lebensende bleibt er der Kulturszene der Messestadt Leipzig treu und kreiert auch neue Angebote wie „P.D. Spotlights“ im Jahr 2017. Peter Degner verstirbt am 15. Januar 2020 sieben Tage vor seinem 66. Geburtstag im thüringischen Bad Klosterlausnitz, wo er zu einer Reha-Behandlung weilt, an Herzversagen. Mit dem Chanson „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ von Hildegard Knef, mit der er befreundet war und die er schon als junger Mann verehrte, wird der Sarg aus der Kapelle getragen. Leipzigs Stadtgesellschaft erweist in bunter Zusammensetzung ihrem Original die Ehre. Fast 1.000 Menschen sind gekommen.

Sein Grab befindet sich keineswegs in der „Künstlerecke“ des Südfriedhofs. Er ist auf dem Ostfriedhof beerdigt, wo auch schon seine Mutter Gertrud liegt. Mit ihr hat er bis zu ihrem Tod 2005 zusammengewohnt. Zudem war er zeitlebens im Leipziger Osten zu Hause. Sein Grab besteht aus einem gewaltigen weißen Marmorstein inmitten von roten Rosen. „Ich habe mich bemüht“ steht auf dem Stein. Umgeben ist es von 42 kleineren Gedenksteinen mit Namen von Künstlern und Prominenten, die er nach Leipzig geholt hat. Das ist schon etwas befremdlich, zumal dort auch Namen von Lebenden zu finden sind. Seine Eigentumswohnung in der Kreuzstraße 19 vererbte er an die Peter-Degner-Stiftung. Sie ist jetzt offizieller Stiftungssitz. Ihr Stiftungszweck ist die Förderung von Kunst und Kultur in Leipzig.

Stand: 29.11.2023

Kothe, Michél

Lehrer, Politik- und Erziehungswissenschaftler, Verbandschef Völkerschlacht | geb. am 18. August 1975 in Leipzig

Hin und wieder geht er mit einem „mobilen Museum“ auf Tour in sächsische Schulen: „Geschichte muss lebendig vermittelt werden“, sagt Michél Kothe. Er ist Vorsitzender des Verbandes Jahrfeier Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und brennt voller Leidenschaft für die Historie. Mit ihr müsse man sich kontinuierlich auseinandersetzen, um die Ereignisse zu verstehen und einordnen zu können, meint er. Erinnerungen an das blutige Gemetzel der Napoleon-Zeit werden im Torhaus Dölitz, das der Verband seit 2014 in Regie hat, wachgehalten. Im dortigen Zinnfigurenmuseum sind Dioramen zu sehen, die historische Szenen mittels Zinnfiguren zeigen.

Lebendig Geschichte vermitteln


Kothe und seine Mitstreiter organisieren ebenfalls historische Biwaks sowie Gefechtsdarstellungen auf den ehemaligen Schlachtfeldern im Süden der Messestadt. An den Lagerfeuern des Biwaks sitzen Gäste aus ganz Europa, die friedlich miteinander durch „Living History“ lebendig Geschichte vermitteln wollen. Über Ländergrenzen hinweg sind da viele Freundschaften entstanden, sagt Kothe. Neben Museen und Gedenkstätten, Büchern, Filmen und literarischen Aufarbeitungen in Romanen könne jenes Reenactment – also die möglichst authentische Inszenierung konkreter geschichtlicher Ereignisse – viel zum Gedenken und zur Versöhnung beitragen. „Die Kritik, dass wir Krieg spielen, ist vollkommen ungerechtfertigt“, sagt er. Kritikern entgegnet er immer, dass beispielsweise das Mittelalter und die Römerzeit völlig romantisiert seien. Auch da habe es immer wieder Kämpfe gegeben, „heute wird das Mittelalter in Form von hübschen Mittelaltermärkten und die Römerzeit mit Asterix und Obelix gezeigt“. 

Es geht dem Verband darum, Menschen für Geschichte zu begeistern und überlieferte Berichte durch das eigene Nacherleben zu überprüfen. Das Sammeln ist ein ebenso wichtiger Aspekt, werden dadurch doch historische Artefakte vor der Vernichtung und damit dem Vergessen bewahrt.

Michél Kothe ist beim Verein Preußische Infanterie 1813 dabei. „Ich bin ein Sachse in preußischer Uniform und mit französischem Vornamen“, sagt der gebürtige Leipziger, der in Alt-Paunsdorf aufgewachsen ist. Nach der Schule und Lehre als Industriekaufmann studiert er an der Universität Leipzig Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Journalistik. Mittlerweile unterrichtet er an der Leipziger Semper Fachoberschule in der Hohen Straße Geschichte und Ethik in den Klassen 11 und 12.

Ein Hobby für die ganze Familie


Zu seinem Hobby ist er über den Vater Siegfried, einen Geschichtslehrer, gekommen. Von ihm sei er quasi „rekrutiert“ worden und wie von selbst reingewachsen in die napoleonische Zeit. Am Torhaus Dölitz finden 1991 Dreharbeiten zu einem Film über die historische Stätte und die Gefechte statt. Da sieht er das Torhaus das erste Mal von innen. Im Mai 1992 entschließt er sich, aktiv mitzuwirken. Michél landet ebenfalls bei den Preußen, wie sein Vater, ein Infanterist. Der Senior hat sich inzwischen aus den aktiven Darstellungen zurückgezogen.

Michél Kothe trägt die preußische Uniform eines Premierleutnants – heute würde man Oberleutnant sagen. Dabei wird viel Wert auf eine detailgetreue Uniform gelegt. Bis zum Abstand der Knöpfe muss alles historisch korrekt sein. Als Kopfbedeckung hat er Feldmütze, Tschako oder Zweispitz zur Auswahl. Der Degen in der Lederscheide – ein Nachbau – ist natürlich nicht scharf. Kothe hat zudem die Uniform eines preußischen Unteroffiziers, eines Krankenträgers und historische Zivilkleidung in Schrank.

Mehrmals im Jahr ist er an Stätten der Napoleonischen Zeit unterwegs. Das sind meist verlängerte Wochenenden. Kothes Frau Anja und Tochter Lara sind dabei, teilen das Hobby. Seine Frau, im Biwak meist Marketenderin, lernt er bei den Darstellungen in Großgörschen kennen. Sie heiraten in Uniform nach einer Fahrt mit der historischen Kutsche von Paunsdorf zum Schloss Machern. In gewisser Weise lebt die Familie ein Abenteuerleben: Sie reisen durch ganz Europa an die geschichtsträchtigen Orte, übernachten oft in Burgen oder im Zelt. Oft sind es sieben, acht Reisen im Jahr. Alle fünf Jahre geht es ins belgische Waterloo. In dem kleinen Dorf in der Nähe von Brüssel findet am 18. Juni 1815 die letzte Schlacht Napoleon Bonapartes statt, die zu dessen Abdankung führt.

Dass die Völkerschlacht bei Leipzig eine so große Faszination auf Kothe hat, erklärt er mit der für ihn „spannenden Epoche“. Napoleon sei nicht nur Kriegsherr, auf ihn sind auch im Alltag viele Neuerungen zurückzuführen. Ein Beispiel: Die Konservierung von Nahrungsmitteln geht von Napoleon aus, der einen Wettbewerb zur Haltbarmachung von Lebensmitteln entfachte.

Unterwegs mit dem „Museum mobil“


Seit 2002 ist Kothe im Vorstand des Verbandes, seit 2007 Vorsitzender. Nach wie vor ist das „wandelnde Geschichtsbuch“ mit seinem „Museum mobil“ unterwegs, besucht Schulen und Fortbildungseinrichtungen, um die Völkerschlacht erlebbar zu machen. Er schreibt Beiträge für Bücher, darunter fürs Postkartenbuch zur Völkerschlacht vom Verein Pro Leipzig oder für einen Fotoband des Sax-Verlages. Von seiner Wohnung in Paunsdorf aus kann er abends aufs schön beleuchtete 
Völkerschlachtdenkmal in der Ferne gucken.

Er wünscht sich, dass es mehr gemeinsame Veranstaltungen und Aktivitäten des Verbandes Jahrfeier Völkerschlacht bei Leipzig 1813 mit den Akteuren des Fördervereins Völkerschlachtdenkmal e.V. gibt. Militär und Denkmal seien zwar ein schwieriges Feld. Die Uniformierten wollen aber nicht nur für gelegentliche Fotos mit Touristen herhalten, sondern auch in inhaltliche Debatten einbezogen werden.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Kothe, Michél

Paul, Alfred E. Otto

Friedhofsforscher, Spezialist für Begräbniskultur, Autor, Publizist | geb. am 27. September 1952 in Kleve

Es ist schon eine kleine Sensation, die zu großer Aufmerksamkeit und Diskussionsstoff in vielen Medien führt. Am 25. Januar 2023 öffnet Alfred E. Otto Paul, der Vorsitzende der Paul-Benndorf-Gesellschaft zu Leipzig, das Grab von Marinus van der Lubbe auf dem Leipziger Südfriedhof.  Ziel ist es, die Identität des Leichnams van der Lubbes zweifelsfrei zu klären und mögliche Spuren zu finden, ob der mutmaßliche Reichstagsbrandstifter von den Nationalsozialisten ermordet worden ist.

Mit dabei ist neben Vertretern des Friedhofs Dr. Carsten Babian, Leitender Oberarzt am Institut für Rechtsmedizin der Universität Leipzig, der das noch immer gut erhaltene Hirn und einige Skelettteile entfernt und zur weiteren toxikologischen Untersuchung mitnimmt. Knapp fünf Monate später liegt ein Gutachten vor. Daraus geht eindeutig hervor, dass die sich im Grab befindenden Gebeine tatsächlich die sterblichen Überreste des Niederländers sind, der 1933 wegen der Brandstiftung des Reichstags in Berlin zum Tode verurteilt worden war. Spuren einer Vergiftung können allerdings nicht nachgewiesen werden. Alfred E. Otto Paul arbeitet die Spurensuche nun auf, wird die Ergebnisse in einem Buch veröffentlichen.

Der Friedhof als Lebenselixier


Der Friedhof ist zum Lebensmittelpunkt Pauls geworden, der in Kleve am unteren Niederrhein geboren wird. 1955 siedeln die Eltern in die Prignitz in Brandenburg um, wo er Kindheit und Jugend verbringt. Nach einer Handelslehre und einem Bauwesen-Studium arbeitet er als Bauingenieur. Die Liebe führt ihn nach Leipzig. Im Jahr 1985 übernimmt er die Leitung des Bestattungs- und Friedhofswesens Leipzig als Technischer Direktor. Verantwortlich für Bauwerke auf allen städtischen Friedhöfen Leipzigs erlebt er, wie viele Grabmale und Gebäude verfallen. Das tut ihm im Herzen weh. Vor allem an der Achse, die vom Eingang am 
Völkerschlachtdenkmal bis zum Krematorium des Südfriedhofes führt.

Paul interessiert sich für die Geschichte des Leipziger Südfriedhofes, die er wissenschaftlich erforscht. Und erweitert diese Forschungen später auf den Alten Johannisfriedhof sowie den Neuen Johannisfriedhof. Letzterer wird 1950 für Bestattungen gesperrt. Ab 1973 werden die Gruftanlagen beseitigt, Gräber geräumt und eingeebnet. Das Areal wird schließlich als öffentliche Parkanlage umgestaltet und 1983 als Friedenspark unweit der Russischen Gedächtniskirche eröffnet.

Aus Protest, weil zu wenig für die Rettung der Kunstdenkmale auf den Friedhöfen der Stadt getan wird, legt Paul 1997 sein Amt als Technischer Direktor des Südfriedhofes nieder. Er wechselt in die Selbstständigkeit und gründet ein Büro für Sepulkralkultur in Leipzig. Paul recherchiert und publiziert eifrig, um die Öffentlichkeit für Friedhöfe und Grabkunst zu sensibilisieren. Ab 2007 bietet er regelmäßig Führungen auf dem Südfriedhof an, bei denen er oft von einem interessierten Publikum regelrecht überrannt wird. Die Leute lieben es, ihm zu lauschen, wenn er sein vielfältiges Wissen rund um die Historie des Leipziger Begräbniswesens weitergibt. Da kann es schnell passieren, dass 125 Leute erscheinen, die Führung mehrere Stunden dauert. Seine Begabung, unterhaltsam zu erklären, spricht sich herum. Die Führungen werden zum Kult. Selbst beim Wave-Gotik-Treffen, zu dem Anhänger der schwarzen Szene alljährlich an Pfingsten nach Leipzig reisen, ist er anzutreffen.

„Ein Benndorf“ der Neuzeit


Um Grabmale vor dem Verfall zu retten und zu restaurieren, gründet Paul mit einigen Mitstreitern und viel Enthusiasmus im Jahr 2008 die Paul-Benndorf-Gesellschaft zu Leipzig. Die widmet sich der Förderung und Pflege von Kulturwerten im Bereich des Friedhofs- und Denkmalwesens.

Studienrat Paul Benndorf (1859–1926) hat in akribischer Fleißarbeit die Geschichte des Alten Johannisfriedhofes erforscht und gilt als der Friedhofsexperte. „Ein Benndorf“ der Neuzeit ist Paul mittlerweile selbst geworden. Sein umfangreiches Wissen über Leipzigs Friedhofswesen schreibt er in etlichen Büchern nieder. Dazu gehört die Reihe „Kunst im Stillen“, die sich mit den Grabmalen auf dem Südfriedhof beschäftigt. Darin beschreibt er, in welchen oft kunstvoll gestalteten Grabmalen bekannte Persönlichkeiten ihre letzte Ruhe finden.

Er forscht weiter, will beispielsweise Kirchenbegräbnisse und ihre regionalen Besonderheiten und Rituale aufarbeiten. Paul vertieft sich wieder in Archiven, bis hin nach Holland und Belgien. Paul möchte – analog zum „Neuen Johannisfriedhof“ (erschienen 2012) – ebenfalls noch ein Buch über den Südfriedhof verfassen. „Das wird mein Hauptwerk, der Südfriedhof ist schließlich meine Domäne“, sagt der Forscher, der auch häufig im Stadtarchiv auf der Alten Messe anzutreffen ist.

Stolz auf Benndorf-Gesellschaft


Stolz ist Paul, dass die Paul-Benndorf-Gesellschaft die zweitgrößte ihrer Art in Deutschland geworden ist. Sie pflegt eine eigene Grabstätte, um ihre verstorbenen Mitglieder zu bestatten. In Zeiten, in denen viele in namenlosen Urnenanlagen „verschwinden“, soll die Grabstätte ein Beispiel sein, wie zeitgenössische Bestattungskultur funktionieren kann. Paul weiß, dass seine Arbeit oftmals kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann. Viele der Kulturdenkmale sind in einem maroden Zustand. Es kostet viel Geld und guten Willen, sie zu retten. Doch unermüdlich machen er und seine Mitstreiter weiter, um „im kollektiven Schulterschluss mit der Stadt dieses Flächendenkmal Südfriedhof zu retten“, wie er in Gesprächen immer wieder sagt.

Ein Friedhofsmuseum als Vision


Eine Vision bleibt, an der Prager Straße ein Friedhofsmuseum zu eröffnen. Ab und an hält er auch Grabreden wie bei Aktfotograf
Günter Rössler oder Heimatforscher Claus Uhlrich. Die Paul-Benndorf-Gesellschaft betreibt ein Trauer-Café. Paul selbst ist gemeinsam mit Michael Schaaf einer der Gesellschafter der Firma Leipzig Details, die ein breites Spektrum an Stadtführungen anbietet.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Paul, Alfred E. Otto

Pester, Nora

Verlegerin, Politikwissenschaftlerin | geb. am 3. Mai 1977 in Leipzig

Sie ist Verlegerin des einzigen Verlages, der sich auf jüdische Kultur und Zeitgeschichte spezialisiert hat: Die gebürtige Leipzigerin Nora Pester hat den Verlag Hentrich & Hentrich für jüdische Kultur und Zeitgeschichte gekauft. Der hat seinen Sitz seit 2023 an einem geschichtsträchtigen Ort: Im Leipziger Capa-Haus in der Jahnallee 61, dem sie mit ihrem Engagement dazu verhilft, wieder ein öffentlich zugänglicher Erinnerungsort zu sein. Als Mieterin betreut Pester mit ihrem Verlagsteam den städtischen Capa-Gedenkraum, der dadurch wieder regelmäßig öffnen kann.

Viel Herzblut fürs Capa-Haus


Zu diesem Zweck haben das 
Stadtgeschichtliche Museum Leipzig, die Bürgerinitiative Capa-Haus sowie der Verlag Hentrich & Hentrich ihre Netzwerke vereint sowie eigens die gemeinnützige Firma Capa Culture gGmbH gegründet. Der Verlag ist vom Haus des Buches im Gerichtsweg nach Lindenau gezogen. Nora Pester steht bei Veranstaltungen gemeinsam mit ihren Mitarbeitern auch mal an der Theke des ehemaligen Cafés Eigler, um Getränke auszuschenken. Das einstige Kuchenbuffet eignet sich hervorragend, um für die Bücher des Verlages zu werben. Der bietet ein breites Spektrum, gibt Jahr für Jahr um die 50 bis 70 Titel heraus. Ihr Wunsch ist es, dass sich das Capa-Haus als fester Veranstaltungsort in Leipzig etabliert. Da steckt sie viel Herzblut hinein.

Den Verlag gibt es seit 1982. Damals wird er als Edition Hentrich in West-Berlin gegründet. Doch dort kann er sich die hohen Mieten nicht mehr leisten. Die neue Inhaberin Nora Pester siedelt 2018 in ihre Geburtsstadt Leipzig über. Gründer Gerhard Hentrich hat die promovierte Politikwissenschaftlerin, die zuvor unter anderem für den Wiener Passagen Verlag und Matthes & Seitz arbeitet, als Nachfolgerin auserkoren. Ihre Karriere beginnt mit einem Praktikum beim 1989 gegründeten Forum Verlag. In Leipzig und in Wien studiert sie Hispanistik, Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre.

Aufgewachsen im Waldstraßenviertel


Sie ist im
Waldstraßenviertel aufgewachsen, wo sie schon in der Kindheit mit geheimnisvollen jüdischen Spuren oder was davon übriggeblieben ist, in Berührung kommt. Dort gibt es das ehemalige jüdische Eitingon-Krankenhaus sowie ein Altersheim, das inzwischen als Ariowitsch-Haus zur Begegnungsstätte geworden ist. Im Jahr 1988 hat Pester gemeinsam mit ihrer Schulklasse die vielbeachtete Ausstellung „Juden in Leipzig“ besucht, die erstmals in der DDR die reichhaltigen Traditionen des Judentums sowie den Holocaust thematisiert. „Plötzlich hatten die Menschen Namen und Gesichter“, erinnert sie sich. Weil sie das bei den Jungen Pionieren in der DDR übliche Gruppenbuch führt und die Mitschüler zur rechtzeitigen Abgabe drängt, sei sie im Grunde genommen schon in der Grundschule Verlegerin gewesen, sagt sie lächelnd.

Jüdische Wurzeln hat Nora Pester selbst nicht. „Manche sagen, dass es sogar von Vorteil ist, dass ich keine Jüdin sei: Weil ich viele Dinge tatsächlich etwas neutraler betrachten und auch vermitteln kann bei all dem, was Konflikte birgt“, erklärt Pester.

Durch das neue Domizil im Capa-Haus arbeitet der Verlag sehr transparent. Besucher können ihr und ihren drei Mitarbeitern während der Öffnungszeiten durchaus mal über die Schulter schauen. Ziel des Verlages ist es, jüdisches Leben in all seinen Facetten abzubilden. Dazu gehören auch die ständige Gefährdung und Anfeindungen, die mit dem brutalen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 eine neue Dimension erreichten. Bestürzend aktuell ist das Buch über den Dichter und Sänger Leonard Cohen von Matti Friedmans geworden, dessen Tournee im Oktober 1973 plötzlich Teil des Jom-Kippur-Krieges wird. 50 Jahre vor dem gewalttätigen Angriff der Hamas, der zu einem neuen Krieg im Nahen Osten führt.

Die Rolle des Verlags hat sich gewandelt. Zunächst legt dieser den Fokus auf Biografien, historische Studien und die Aufarbeitung des Holocaust. Für Nora Pester bringt der 9. Oktober 2019, der Tag des Anschlages auf die Synagoge in Halle, einen Bruch in ihrer Arbeit. Seitdem ist es ihr wichtiger geworden, „nicht nur von nicht mehr lebenden, sondern auch von jetzt lebenden Juden zu erzählen.“ Vom Kochbuch bis zum Gebetsbuch, von Zeitgeschichte und Biografien (etwa über „Juden in der DDR“) bis zum politischen Sachbuch bietet der Verlag vieles an, um zum öffentlichen Diskurs beizutragen. Sie thematisiert, wie Antisemitismus sich selbst in den progressiven Milieus in der Mitte der Gesellschaft breitmacht.

Aufklärung gegen Stereotypen des Antisemitismus


Der aktuelle
Bestseller des Verlages heißt „Judenhass Underground“. „Antisemitismus mit all seinen Stereotypen ist so tief und fest verankert in der Mitte der Gesellschaft. Dem muss ein jüdischer Verlag entgegenarbeiten, diesen Auftrag muss er erbringen und erfüllen“, sagt Pester. „Ich will vor allem Bücher machen, die wirken“, erklärt die Verlegerin, die natürlich auch Unternehmerin ist. Es sei ihr wichtig, Diskussionen anzustoßen. Sie widmet sich aber auch koscherem Humor, etwa in einem Kalender. Ben Gershon hat die Comicfigur Jewy Louis entwickelt, mit der er lustige Situationen und die Absurditäten des jüdischen Lebens in einer nichtjüdischen Gesellschaft schildert. Mittlerweile gibt es auch Kinderbücher im Verlag. Derzeit sind mehr als 700 Titel lieferbar. Für diese „lebendige, anschauliche Enzyklopädie jüdischer Kultur und Zeitgeschichte“ erhielt der Verlag den Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung. Nora Pester ist erstmals selbst unter die Autoren gegangen. „Jüdisches Leipzig“ heißt ihr praktischer Stadtführer, der „Menschen – Orte – Geschichte“, wie es im Untertitel heißt, vorstellt. Sie möchte, dass Menschen das jüdische Leipzig selbst entdecken können.

Der Verlag organisiert viele Veranstaltungen, darunter im Ariowitsch-Haus. Es gibt aber kaum klassische Lesungen. „Ich finde es interessanter, wenn Themen in Gespräche verpackt sind und eine Interaktion mit dem Publikum stattfindet“, so Pester.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Pester, Nora

Rohrwacher, Klaus-Michael

Steinmetzmeister, Restaurator | geb. am 4. April 1953 in Leipzig

Als die Einladung ins Schloss Bellevue nach Berlin kommt, hält er es zunächst für einen Scherz: Klaus-Michael Rohrwacher bekommt am 4. Dezember 2015 von Bundespräsident Joachim Gauck das Bundesverdienstkreuz verliehen. Geehrt wird Rohrwacher für seine ehrenamtliche Arbeit als Vorsitzender des Fördervereins Völkerschlachtdenkmal e.V., der 1998 mit dem Ziel gegründet wird, den fortschreitenden Verfall des Leipziger Wahrzeichens aufzuhalten und es ebenso wie die Außenanlagen instand zu setzen. „Ich fühle mich überglücklich. So einen Festakt erlebt man nur einmal im Leben“, sagt der Steinmetzmeister damals und erklärt, dass sich „eine große Familie an Mitstreitern“ um das Völkerschlachtdenkmal kümmert. Und macht als „oberster Spendeneintreiber“ mit seinem Förderverein unermüdlich weiter, um möglichst viele Leipziger und Auswärtige als Stifter für das Denkmal zu begeistern. Als Mann vom Fach und begnadeter Kommunikator erweist er sich schnell als Richtiger an der Spitze des Vereins. Im November 2023 wird der Förderverein Völkerschlachtdenkmal e.V. für sein engagiertes Wirken mit dem Leipziger Tourismuspreis ausgezeichnet, den die Leipzig Tourismus und Marketing GmbH seit 2002 jährlich vergibt. 

Schon immer mit Völkerschlachtdenkmal verbunden


Rohrwacher ist seit frühester Jugend mit dem Denkmal verbunden. Wahrscheinlich hat er es schon im Kinderwagen besucht. Großvater Walter ist als Steinmetz und Steinbildhauer zu Kaiser Wilhelms Zeiten beim Bau des Kolosses dabei. Vater Hans-Joachim hilft zu DDR-Zeiten in den 1960er Jahren, das Denkmal notdürftig zu sanieren. „Mit dem Essgeschirr haben wir dann als Kinder das Mittagessen in die Bauhütte gebracht und dort auch herumgetobt“, erinnert sich Rohrwacher, der schon immer im Südosten Leipzigs wohnt.

1987 übernimmt er den elterlichen Betrieb und betreibt als Steinmetzmeister eine eigene Firma mit 15 Angestellten, die es inzwischen allerdings nicht mehr gibt. Der Naturstein- und Steinmetzbetrieb stellt im September 2019 den Betrieb ein, weil kein Nachfolger gefunden wird. Sohn Lars betreibt als Steinmetzmeister und Techniker seit Jahren die eigene Firma „Stein und Design“ (Denkmalpflege, Bildhauerei, Grabmalkunst), die ihr Domizil direkt am Ostfriedhof hat.

Eins ist Rohrwacher immer wichtig: An der Sanierung des Denkmals hat sich seine Firma nie beteiligt, um Konflikte zu vermeiden. Die hat dennoch viele Spuren bei zahlreichen Bau- und Restaurierungsobjekten hinterlassen, ob nun beim Dorint Hotel Alter Wall in Hamburg, beim Potsdamer Stadtschloss und vielen Objekten in Dresden und Leipzig. Ein Beispiel sind die Höfe am Brühl.

Fördervereinschef macht Führungen für Stifter


Der Förderverein Völkerschlachtdenkmal, der im Oktober 2023 bei einem Festakt im 
Alten Rathaus seinen 25. Geburtstag feierte kann, hat viele Erfolge vorzuweisen. Mehr als 3,5 Millionen Euro hat er seither für die Sanierung des Denkmals eingeworben. 

In den 1990er Jahren wurde erwogen, das Denkmal kontrolliert verfallen zu lassen – schwarz, hässlich und bröckelig, wie es zu diesem Zeitpunkt keineswegs würdig für Leipzig war. Dem zu begegnen, gründete sich 1998 der Förderverein. Anfangs wurden einfach Spenden gesammelt für die Instandsetzung des Denkmalkörpers. Zunächst wurden acht Bänke für Besucher aufgestellt. Für die Finanzierung der Außenanlagen entwickelt der Verein im Jahr 2009 den Stifterbrief, der bisher an fast 1.000 Stifter übergeben wurde. Rohrwacher nimmt sich auch die Zeit, den Stiftern bei Führungen „sein Denkmal“ nahezubringen.

Der Förderverein hat inzwischen fast 300 Mitglieder: Bürger, Unternehmen, Institutionen, Verbände. Sie setzen sich – wie einst der Patriotenbund vor dem Bau des Denkmals – mit bürgerschaftlichem Engagement für dessen Sanierung ein. Die Instandsetzung der Haupttreppe vom Wasserbecken bis zum Eingangsplateau sowie die Erneuerung des Wasserbeckens sind wohl die größten Brocken. Ob Völkerbrot, Völkersalami oder Völkereis – Rohrwacher und seine Mitstreiter sprudeln voller Ideen. Nach vielen Arbeiten am Denkmal, die Bund, Land und Stadt in einem Kraftakt geschafft haben, ist nun die Wiederherstellung der Außenanlagen fast abgeschlossen.

Am Denkmal muss immer etwas repariert werden


„Aber ein Denkmal dieser Größe ist niemals fertig“, sagt Rohrwacher. Die ersten Erhaltungsmaßnahmen an Fugen und Bodenplatten haben schon vor vielen Jahren begonnen. Der kluge Vereinschef, der den Ehrenamtsjob noch eine Weile machen will, baut vor. „Bitte nicht innehalten!“ ist dabei einer seiner Lieblingssprüche geworden. Am Denkmal wird immer etwas zu reparieren und sanieren sein. Ein nächstes Projekt gibt es bereits: Die LED-Leuchten sollen erneuert werden. Damit Energie gespart wird und trotzdem Strahlkraft erhalten bleibt. „Das Denkmal muss beleuchtet werden“, betont Rohrwacher, „wenigstens bis Mitternacht.

Wirtschaftsarchiv benötigt neues Domizil

Der rührige „Südostler“, wie er sich manchmal selbst bezeichnet, hat noch weitere Ehrenämter: So ist er Vorstandesvorsitzender des Vereins Sächsisches Wirtschaftsarchiv, das derzeit in der Industriestraße in Plagwitz in der Konsumzentrale untergebracht ist. Das Sächsische Wirtschaftsarchiv wird im April 1993 durch die drei sächsischen Industrie- und Handelskammern als regionales Wirtschaftsarchiv für Sachsen gegründet. Doch in den Plagwitzer Räumen hat es keine Zukunft. Geplant ist, bis 2026 gemeinsam mit dem Landkreis Leipzig sowie dem Förderverein zum Aufbau des Dokumentationszentrums IndustrieKulturlandschaft Mitteldeutschland Dokmitt einen Neubau für die Sammlung in Borna zu errichten.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Rohrwacher, Klaus-Michael

Weinkauf, Bernd

Schriftsteller, Kunsthistoriker | geb. am 26. Februar 1943 in Küstrin

Vor der Faust- und Mephisto-Statue mit dem goldenen Schuh von Mathieu Molitor – immerhin eines der beliebtesten Fotomotive für Touristen in Leipzig – möchte Bernd Weinkauf diesmal nicht abgelichtet werden. Er ist zwar seit 1996 der Haushistoriker vom Auerbachs Keller in der Mädler Passage. Doch im inzwischen zweiten Buch „Leipziger Merkwürdigkeiten“, welches im Sax-Verlag erschienen ist, tauchen die beiden Gesellen eben nicht auf. Schriftsteller Weinkauf kommt es auf jedes Detail an. Er liebt es, fragile Fakten zu recherchieren und unbekannte Dinge zu hinterfragen. Mit seinem Spürsinn ist es dem Kunsthistoriker mehrfach gelungen, in seinen Büchern mit liebgewonnen Missverständnissen aufzuräumen und unbekannte Kapitel in der Leipziger Geschichte zu beleuchten. Wie jüngst die Momente aus der jüngeren Geschichte der Stadt Leipzig, die eben „des Merkens würdig sind“, wie der Verlag schreibt. Im kurzweiligen Band, der mit einem antiquarischen Outfit daherkommt, klärt er beispielsweise über die (hierzulande längst vergessenen) Trinkhallen auf, die hier einst ebenso wie die weitaus bekannteren „Büdchen“ in Düsseldorf oder Köln ihre Genießer finden.

Ein bekennender Leipziger mit Faible für Historie


Weinkauf ist ein bekennender Leipziger, seit er als junger Mann zugewandert ist. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird seine Familie von Küstrin nach Hettstedt vertrieben. Der junge Mann macht das Abitur, studiert danach Deutsche Sprache, Literatur und Kunsterziehung am Pädagogischen Institut in Erfurt. Nach einigen Jahren als Lehrer und Truppenbibliothekar verschlägt es ihn 1973 ans Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ nach Leipzig, wo er bis 1976 lehrt. Es folgt die Arbeit als Dramaturg am
Theater der Jungen Welt (bis 1979). Seitdem ist er als freier Autor und Werbetexter tätig und begeistert durch seine Neugier auf Themen ein geschichtsbegeistertes Publikum. Und er gehört zur illustren Runde am Stammtisch „Goglmohsch“, den der Leipziger Kabarettist und Schriftsteller Bernd Lutz-Lange im Jahre 1984 in der Gaststätte Boccaccio in der Kurt-Eisner-Straße in der Südvorstadt gründet. 

Nach der Friedlichen Revolution folgt ein kurzes Intermezzo im Leipziger Rathaus als Stadtrat für Kultur, das aber am 9. Mai 1991 beendet wird, als eine Zusammenarbeit als informeller Mitarbeiter für die DDR-Staatssicherheit publik wird. Dennoch kann er im Rathaus einige Weichen stellen, etwa den Neustart der Stadtbibliothek im ehemaligen Gebäude des VEB Chemieanlagenkombinates Leipzig beflügeln, das einst als Grassi-Museum gebaut worden war. Seitdem ist er als freier Autor tätig. Und legt 1999 ein bemerkenswertes Buch vor, in welchem er Leipzig mit Goethes Augen sieht.

Der Haushistoriker von Auerbachs Keller


Zum Haushistoriker von Auerbachs Keller ist er ernannt worden. 1998 ist er beteiligt, die Feierlichkeiten zu 450 Jahre Weinausschank im Traditionslokal vorzubereiten. Er richtet ein „Faustseminar“ ein und braucht eine Visitenkarte. Doch was darauf schreiben? Haushistoriker eben. Sein Meisterwerk wird dann 2015 die „Chronik von Auerbachs Keller“.

Zuvor hat er schon die Gästebücher ausgewertet und muss dafür wahre Detektivarbeit leisten. Die Idee dafür entsteht, als jemand den damaligen Wirt Bernhard Rothenberger fragt, ob Adolf Hitler jemals Gast im Auerbachs Keller war? War er nicht, dafür viele andere Persönlichkeiten. Dazu gehört beispielsweise auch Bismarck. Die Recherche ergibt, dass es keineswegs der Reichskanzler ist, sondern jemand aus dessen Familie. Wer genau, kann allerdings nicht exakt geklärt werden.

Nur wenige Gästebucheinträge sind bei null Promille geschrieben worden, auf einigen Seiten hat auch der Rotwein seine Spuren hinterlassen. Es ist schwierig, die alten Handschriften zu entziffern. Sogar Hieroglyphen müssen gelesen werden, wobei Weinkauf dabei auf Experten zurückgreift. Dutzende Napoleons haben sich in den Büchern der Traditionsgaststätte verewigt. Wobei der echte Franzosenkaiser, so der Autor, niemals in Auerbachs Keller eingekehrt ist. Was auf der Flucht nach der Völkerschlacht 1813 wohl auch etwas schwierig gewesen wäre.

Leipziger Geheimnisse


Weinkauf ist auch vielen anderen „Leipziger Geheimnissen“ auf der Spur. So erklärt er in einem gleichnamigen im Bast Medien Verlag erschienen Buch, warum es sich beim Hufeisen an der 
Nikolaikirche um ein echtes Leipziger Wahrzeichen handelt. Und warum an den Klinken der Eingangstüren vom Neuen Rathaus Schnecken aus Eisen zu finden sind. Das sind liebenswerte Relikte, die an die Entstehungsjahre des Verwaltungssitzes erinnern. Die sollen sicherlich keine Konkurrenz für den Leipziger Löwen sein. Das langsam kriechende Weichtier ist nur ein hübscher Schmuck. Es weist darauf hin, wie sehr sich der Bau des Neuen Rathauses in die Länge gezogen hat.

Regelmäßig publiziert Bernd Weinkauf in den „Leipziger Blättern“.

Stand: 29.11.2023

Bildergalerie - Weinkauf, Bernd

Wolff, Ann-Elisabeth

Festivalleiterin der euro-scene Leipzig | geb. am 14. März 1953 in Halle (Saale)

Theater, Theater – auch das ist Leipzig. Große Spielstätten und kleine Bühnen. Bekannte Stücke und experimentelle Performances. Immer aber: Leidenschaft und brennendes Engagement. So wie bei Ann-Elisabeth Wolff. Sie hat dem Festival euro-scene Leipzig ihren Stempel aufgedrückt. Entschlussbereit, hartnäckig, strahlkräftig.

Künstlerisch ambitioniert, von Anfang an


Die familiäre Herkunft von Ann-Elisabeth Wolff war prägend. Sie wuchs in Leipzig in einer künstlerisch ambitionierten Familie auf. Von 1971 bis 1975 studierte sie Musikwissenschaften an der damaligen
Karl-Marx-Universität. Ihren Berufseinstieg vollzog sie 1975 beim weltberühmten Leipziger Musikverlag Edition Peters. Lektorin blieb sie dort bis 1990. An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass auch die Edition Peters der gewundenen, teils erratischen Geschichte vieler Leipziger Verlage folgte. Unerschütterlich Geglaubtes galt ab 1990 in der unverhofft wiedererlangten deutschen Einheits-Verlagslandschaft plötzlich nicht mehr. 

Ausgerüstet mit jeder Menge Fachwissen und professioneller, publizistischer Neugier und ausgestattet mit der nötigen Änderungsbereitschaft stieg Ann-Elisabeth Wolff um und gelangte als Stellvertreterin des Theaterwissenschaftlers und Schauspielregisseurs Matthias Renner ab 1991 an die Spitze der neu etablierten euro-scene, eines Leipziger Theaterfestivals. Mitten in den allgegenwärtigen Umbrüchen der Jahre 1990 und 1991 ging die euro-scene als Neugründung aus der Leipziger Schauspielwerkstatt hervor und nannte sich im Untertitel unmissverständlich gleich selbst Festival der europäischen Avantgarde.

Prägende Leiterin der euro-scene Leipzig


Später nahm die euro-scene explizit Bezug auf zeitgenössisches europäisches Theater und Tanz. Da war das experimentierfreudige Treffen unkonventionell agierender Bühnenschaffender längst eine bekannte Marke in der Szene in Europa, Euro-Scene eben. 

Nach dem frühen Tod von Matthias Renner im Jahre 1993 regte der damalige Leipziger Kulturbürgermeister Georg Girardet an, Ann-Elisabeth Wolff solle die Leitung des Festivals übernehmen. Im Leitungskollektiv hatte sie längst die erforderlichen Erfahrungen gesammelt. Und damit bekam die euro-scene in ihrem dritten und den folgenden fast 30 Jahren eine resolute Chefin.

Ann-Elisabeth Wolff ist keine Leiterin vom Büro aus. Sie muss raus, viel unterwegs sein, andere Festivals kennenlernen, Eintrittskarten für Aufführungen ergattern, für die es monatelang schon keine Karten mehr gibt, Kontakte knüpfen, Avantgardisten nach Leipzig locken. Und damit hatte jeder Leipziger Kulturherbst eine Konstante mit enormer Ausstrahlung, die euro-scene. Der europäische Gedanke ist ihr fest eingepflanzt. Als sich immer mehr mittel- und osteuropäische Länder anschickten, Mitglieder der Europäischen Union zu werden, gingen Einladungen nach Leipzig gezielt dorthin. Das Festival und seine Leiterin wirkten als Brückenbauer in Europa, und es gelang ihnen, viele kulturvolle Konstruktionselemente in die verbindenden symbolischen Bauwerke einzufügen.

„Ein Festival ist kein Supermarkt. Es ist ein Rausch“, versuchte Ann-Elisabeth Wolff einem auf unsicherem Terrain wandelndem Nachfrager das Geheimnis der alljährlichen Leipziger Avantgarde-Zusammenkunft zu erschließen. 

Mediale Aufmerksamkeit war dem Theater- und Tanz-Treffen und seiner Leiterin stets sicher. Die euro-scene sei eines der schrillsten europäischen Festivals, befand die Hamburger „Zeit“ und lobte – üblicherweise mit höchster Anerkennung eher geizend – die besondere Qualität der sechs besonderen Leipziger Performance-Tage in jedem November. Da war die euro-scene sehr zur Freude des aufgeschlossenen Publikums längst in der Spitzengruppe der deutschen Theater- und Tanzfestivals angekommen. Das Experimentelle, die kühne Ästhetik waren gefragt und wurden mit Beifall goutiert.

Drei markante Festival-Jahrzehnte


Festivalleiterin Wolff fand im Autokonzern
BMW, der in Leipzig ab dem Jahr 2001 mit einem neuen Werk intensiv Wurzeln zu schlagen begann und Unternehmens-Kultur besonders hochhielt, einen potenten Förderer der euro-scene. Mit diesem Engagement schmückten sich beide Seiten über zehn Jahre hinweg. Doch irgendwann fällt jeder Vorhang. 

Ein Autokonzern greift dem Festival längst nicht mehr als finanzieller Förderer unter die Arme. Diese Aufgabe müssen die Stadt Leipzig und das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus inzwischen allein stemmen.

Wichtiger noch: Im Jahr 2020 sollte Festivalleiterin Wolff den Staffelstab nach dem 30. Jahrgang der euro-scene planmäßig an Christian Watty übergeben. „Planmäßig“ bekam wegen Corona allerdings einen unverschuldet herben Beigeschmack. Festivals waren von den verordneten Einschränkungen öffentlicher Auftritte und Begegnungen mit am härtesten betroffen. Die 30. euro-scene musste abgesagt werden. Auch wenn Ann-Elisabeth Wolff ein öffentlich wirksamerer beruflicher Abschied als vor dem Start der 31. euro-scene unbedingt zu gönnen gewesen wäre, bleibt als ihr finales, fortwirkendes Verdienst doch bestehen, dass sie diesem Festival ein Gesicht, eine klare Handschrift und einen europäischen Zuschnitt gegeben hat. Nachhaltigkeit und die Arbeitswelt umschreiben den inhaltlichen und ästhetischen Kosmos, in dem das Festival weiterhin verortet werden soll.

Ann-Elisabeth Wolff und die euro-scene Leipzig nicht in einem Atemzug zu nennen, das wäre drei Jahrzehnte lang nicht gegangen. Das Festival wird deshalb wohl noch geraume Zeit vom Wirken und den Impulsen seiner langjährigen Leiterin profitieren. Sie wohnt ja mitten in der Stadt und hat es nicht weit bis zu den 12 bis 14 Theater- und Tanzstücken an den sechs Festivaltagen jedes Herbstes.

Stand: 01.04.2022

Bildergalerie - Wolff, Ann-Elisabeth

Schneider, Werner

Physiker, Gründer der Leipziger Notenspur | geb. 1951

Fünf Minuten Dialog mit Werner Schneider überzeugen jeden Gesprächspartner, es mit einem ausgewiesenen Spezialisten für klassische Musik zu tun zu haben. Dieses Wissen über den Leitstern der Musikstadt Leipzig, Johann Sebastian Bach! Soviel exzellente, detaillierte Kenntnisse über all die anderen Komponisten und Orchesterleiter und Musikverlage! Werner Schneider muss ein Musikwissenschaftler sein. Das mit dem Wissenschaftler stimmt. Gleichwohl ist sein Fach die Physik. Die wissenschaftliche Akkuratesse dehnte Werner Schneider dann auf seine Leidenschaft, die Musik, aus, und davon profitiert die gesamte Stadt.

Beharrlich in der Spur für die Musikstadt Leipzig


Werner Schneider spricht leise, vollkommen unaufgeregt. Die hastige, gar aufdringliche Rede ist ihm fremd. Er überzeugt mit Wissen und versteht es, Interessenten für das Thema klassische Musik zu gewinnen.

Der Physiker Werner Schneider arbeitet seit 1992 an der Universität Leipzig, seit dem Jahr 2008 hat er eine Professur an der TU Dresden. Schon immer zogen sich das Interesse an der Musik und die Begeisterung für die Musik durch sein Leben. Was als privater Genuss begann, sollte spürbar auf die gesamte Stadt ausstrahlen. So entstand – inspiriert und bestärkt durch seine Ehefrau – die Idee, aus der teils hervorstechenden, teils ein wenig versteckt schlummernden Präsenz von Stätten der Musikkultur in Leipzig ein sichtbares und hörbares Ganzes zu formen, das allen Interessenten eben wie ein urbanes Gesamtkunstwerk begegnet und Zusammenhänge erschließt, Genuss mit Erkenntnis verbindet.

Die Idee der Leipziger Notenspur war geboren. Der geniale Thomaskantor Bach steht selbstverständlich weit vorn. Richard Wagner wird gewürdigt, ebenso Felix Mendelssohn Bartholdy, Clara Schumann und Robert Schumann, Edvard Grieg und viele andere. Komponistenhäuser, Ausbildungszentren, Musikverlage und Aufführungsstätten erstrecken sich über nahezu das gesamte Leipziger Stadtgebiet. In der Innenstadt sind sie nicht zu übersehen, wenige hundert Meter darüber hinaus sollen Hinweise helfen, Kulturpfade zu weisen und Interessenten behutsam zu führen.

Klassische Wegweiser würden das schaffen, doch so besonders, wie die Notenspur ihren hohen Anspruch pflegt, so ästhetisch soll die räumliche Wegweisung durch eine klangvolle Welt auf sich aufmerksam machen. Dies geschieht mit einer sanft geschwungenen Edelstahl-Intarsie, die in das Pflaster der Fußwege eingelassen ist und deren Spitze die Richtung bis zum nächsten authentischen, kulturellen Leuchtturm entlang der Notenspur anzeigt – von der Thomaskirche zum Gewandhaus, an den erhaltenen Gebäuden weltbekannter Musikverlage in Zentrumsnähe vorbei zum Schumann-Haus und wieder zurück in Richtung City mit ihren Denkmalen für berühmte Persönlichkeiten der Musikstadt Leipzig.

So wird eine beschwingte Verbindung zwischen 23 Orten hergestellt. Ein Audio-Guide unterstützt als klangvoller und hervorragend informierter Begleiter alle, die sich auf den Weg machen, also auf die Spur begeben. Die wunderbare Notenspur-Idee von Werner Schneider überzeugte rasch, doch ihre Umsetzung erforderte einen langen Atem. Mitstreiter mussten gefunden werden, Verstärker und Bekräftiger der Idee und natürlich Ermöglicher in der öffentlichen Verwaltung. Mit nimmermüder Energie, die auf den ersten Blick dem sanft auftretenden und mit wohl gesetzten Worten argumentierenden Werner Schneider vielleicht gar nicht zugetraut wird, wurde der Kampf um die Umsetzung der Notenspur-Idee geführt. Beharrlichkeit nennt Werner Schneider denn auch als die unverzichtbare Grundkonstante beim Werben und Erschließen der Lebenskraft „seiner“ Notenspur. Von seiner imaginären Vorderbühne eines Botschafters des Genusses von Klangfülle ließ er sich nicht vertreiben. Musikalisch übersetzt: Auf den Resonanzboden kommt es an.

Einer Idee Klangfülle verliehen


Eine Bürgerinitiative, die engagiert hinter der Notenspur-Idee steht, gibt es seit 2005. Vier Jahre später stellte die Stadt Leipzig erstmals Mittel für die Notenspur in ihren Haushalt ein, und seit dem Jahr 2011 schwingen sich die metallenen Notenspur-Symbole auf insgesamt fünf Kilometern Wegstrecke durch den traditionsgesättigten Leipziger Straßenraum und 300 Jahre Musikgeschichte dieser einzigartigen Kulturmetropole, die ihre Qualitäten durchaus ebenbürtig mit Wien und Paris zum Klingen bringt. Zum Starttermin waren schon mehr als 100 Mitstreiter für die Notenspur aktiv.

Längst freut sich die Stadtverwaltung, dass es die Notenspur gibt und dass die Bürgerstadt Leipzig auf herausragende Akteure wie Werner Schneider zählen kann. Großes Finale also, Tusch, Verneigung vor dem Arrangeur des musikalisch-architektonisch-historischen Kunstgenusses und – Vorhang? Mitnichten. Beseelt vom Gedanken, eine zündende Idee fortzuschreiben und ihre Wirkmächtigkeit zu steigern, ersann Werner Schneider die Folgeprojekte NotenBogen (weiter nach draußen gehen und weniger spektakuläre, aber wichtige Schaffensorte der Musikkultur erkunden), NotenRad (auf Radwegen Melodie und Rhythmus von Orten der Musikgeschichte erfahren) und NotenWeg (wandernd eine Kulturspur aufnehmen, die sich überzeugend verorten lässt). Immer wieder bedarf es des besonderen Engagements von Werner Schneider, der Stadtgesellschaft und ihren zahlreichen Besuchern etwas anzubieten und zurückzugeben. Vielleicht würde er während der ganzen Zeit lieber zu Hause sitzen und entspannt klassischer Musik lauschen? Diesem Genuss frönt Werner Schneider sowieso, steckt parallel jedoch nimmermüde Energie in seine zu einem großen Kunststück verflochtenen Projekte. Denn seit 2015 gibt es zusätzlich noch die Notenspur-Nacht der Hausmusik. Sie begann mit 60 Spielstätten und über 400 Musikern. So viele Spielstätten an einem Abend? Na klar. Die Idee dahinter: Gut bürgerlich wird in vielen Leipziger Wohnungen Hausmusik gepflegt. Warum nicht zu diesen Treffen engagierter Musikliebhaber eine jeweils überschaubare Gästeschar einladen, die sich in recht kleinen, aber kultivierten privaten Räumen ebenso am Wohlklang erfreuen können?

Europaweit gehört werden


Erstmals 2018 lud darüber hinaus das
Festival Europäische Notenspuren ein. Es trägt den Gedanken der Notenspur weit nach vorn in die Konzertsäle.

Werner Schneider einen begnadeten Netzwerker zu nennen, wäre eindeutig zu wenig. Netzwerken können auch blanke Organisationstalente. Doch ambitioniert konzipierte Strukturen mit einem künstlerischen Anspruch anzureichern und ihnen einen Klang einzupflanzen – das gelingt nur wenigen. Am 13. Juni 2018 wurde das angesehene Europäische Kulturerbe-Siegel an herausragende Leipziger Institutionen verliehen. Eine der begehrten Hinweistafeln hielt Werner Schneider in seinen Händen. Wer sonst?

Für sein Engagement für das Gemeinwohl wurde er am 4. Juli 2020 mit dem Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Den Orden überreichte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer im Auftrag des Bundespräsidenten.

Stand: 30.03.2022

Bildergalerie - Schneider, Werner

Magirius, Friedrich

Theologe, Kommunalpolitiker | geb. am 2. Juni 1930 in Dresden

Friedrich Magirius ist einer der prominentesten evangelisch-lutherischen Theologen, die im Zuge des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs im Herbst 1989 in ein direktes politisches Engagement geradezu hineingezogen wurden und als besonnene Moderatoren der aufgeheizten, meinungsstarken Diskussion breiter bürgerschaftlicher Kreise besonders gefragt waren. Bis heute müsste sich jeder Veranstalter eines einigermaßen gewichtigen Dialogs in Leipzig die Frage gefallen lassen, wo denn Friedrich Magirius sei, falls er im Teilnehmerkreis nicht gleich entdeckt würde.

Karriere in der evangelischen Kirche


Friedrich Magirius kommt aus der Generation, die im jugendlichen Alter das Ende der NS-Diktatur und der Schrecken des Zweiten Weltkriegs miterlebt hat. Aufgewachsen in Radebeul in der bürgerlichen Familie eines Amtsgerichtsrats, erlebte Magirius im Februar 1945 den Untergang seiner Geburtsstadt Dresden im Bombenkrieg mit. 

Auf das Abitur folgte das Theologiestudium von 1948 bis 1950 an der Kirchlichen Hochschule Berlin-Zehlendorf in der Vier-Mächte-Stadt Berlin und von 1950 bis 1953 an der Universität Greifswald. Es folgten erste berufliche Positionen in Einrichtungen der evangelischen Kirche in Sachsen. In der weiteren Karriere des Theologen stehen seine Pfarrstellen zunächst ab 1958 in Einsiedel und anschließend an der Kreuzkirche in Dresden. Einfluss und Anerkennung erwarb sich Magirius in besonderer Weise als Leiter der Aktion Sühnezeichen in der DDR. Dieses Engagement wird bei den polnischen Nachbarn bis heute registriert und geschätzt.

1982 folgte der Wechsel nach Leipzig. Bis zum Erreichen des Pensionsalters 1995 wirkte Magirius als Superintendent des Kirchenbezirks Leipzig Ost. Von seiner Wohnung im Haus der Kirche am Nikolaikirchhof aus fiel sein Blick nicht nur ständig auf dieses Gotteshaus – Magirius nahm als Pfarrer der Nikolaikirche zusammen mit Christian Führer vor allem Einfluss auf die montäglichen Friedensgebete, die seit den frühen 1980er Jahren einen ständig steigenden Zustrom von Leipzigern erfuhren. Die aus heutiger Sicht völlig unspektakuläre Aufforderung „Nikolaikirche – offen für alle“, die als Blechschild an den Fahrradständer der Kirche montiert war, entfaltete damals eine außerordentlich mobilisierende Wirkung.

Die frühen 1980er Jahre waren eine aufgewühlte Zeit. Der Warschauer Vertrag im Osten und die NATO im Westen überboten sich als Speerspitzen der Systemkonfrontation beim Aufstellen von Mittelstreckenraketen, die atomar bestückt werden konnten und im Falle einer militärischen Auseinandersetzung von beiden deutschen Staaten nichts übriggelassen hätten. Vernunft war gefragt – ebenso wie das Herunterkühlen der politischen Temperatur.

Diplomatischer Theologe in der Nikolaikirche


Aus der konkreten Situation heraus, nahmen die Diskussionen in der Nikolaikirche im Verlauf der 1980er Jahre einen immer politischeren Charakter an. Oppositionelle, die gegen die verknöcherten Zustände in der DDR aufbegehrten, fanden hier den Diskussionsort, den sie sich wünschten und der sie in ihren Ansichten weiter bestärkte. Magirius, der zu den publizistisch immer wieder so titulierten „Kirchenoberen“ gehörte, war angesichts der aufgeheizten Situation ein gesuchter Ansprechpartner für diejenigen, die damals in Leipzig die Staatsmacht verkörperten und die aufflammenden Proteste immer weniger bändigen konnten. Ganz Theologe setzte Magirius auf Friedfertigkeit und Ausgleich, auf Diplomatie statt Konfrontation. Damit erzeugte er zugleich Widerspruch bei denjenigen Oppositionellen, die sich einen fordernderen Auftritt gegenüber den offiziellen Stellen wünschten. Denn, dass es weniger das Interesse am Gebet und theologischen Argument als vielmehr der hochkochende Hang zum Protest oder zur beabsichtigten Ausreise aus der DDR war, der montags die Nikolaikirche immer mehr füllte, sahen alle Beteiligten und Beobachter sehr schnell und eindringlich.

Aus dem Abstand von inzwischen über 30 Jahren und nach einem Sturzbach politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen ist die Unerbittlichkeit der Diskussion, die weiterhin anhält, erstaunlich. Immerhin war es Magirius‘ Diplomatie, die der Kirche Spielräume verschaffte und bewahrte, während die Frage spekulativ bleiben muss, ob eine härtere Konfrontation zwischen Oppositionellen und Staatsmacht den widerständigen Anliegen dienlicher gewesen wäre und zeitiger zu einem Umbruch wie dem Herbst 1989 geführt hätte. Es ist wohl eher so, dass Magirius viele derjenigen schützte, die ihn bis heute mehr oder weniger hart kritisieren. Magirius selbst äußerte öffentlich: „Als Christ sitzt man immer zwischen den Stühlen“.

Die Nikolaikirche als Institution und die beiden Pfarrer Magirius und Führer als Personen gerieten 1989 immer mehr in den Strudel des Umbruchs. Aus der Forderung „Wir wollen raus“ wurde das trotzige „Wir bleiben hier“, als sich kommende Veränderungen allmählich andeuteten. Zur Herbstmesse Anfang September 1989 bekamen die in Leipzig versammelten West-Korrespondenten diejenigen Aktionen und Motive vor die Linse, die einem staunenden Publikum in West und Ost verblüffende Eindrücke vermittelten: „Da braut sich was zusammen“.

Stadtpräsident in den Jahren des Umbruchs


Als der Umbruch bereits volle Fahrt aufgenommen hatte, stieg Friedrich Magirius zum Moderator des Leipziger Runden Tisches und damit zum Steuerer des Dialogs und des Verwaltungshandelns zwischen zurückweichenden alten und den drängenden neuen Kräften auf. Die Kommunalwahl im Mai 1990 brachte ein weiteres neues Amt für ihn. Er wurde Stadtpräsident, wie das die demokratische Kommunalverfassung damals vorsah, und damit für weitere vier Jahre der diplomatisch ausgleichende Steuerer der Stadtverordnetenversammlung mit ihren aufwallenden politischen Emotionen, während der neue Oberbürgermeister 
Hinrich Lehmann-Grube von Amts wegen die Stadtverwaltung führte. Beide – der Theologe aus dem Osten und der versierte Verwaltungsjurist aus dem Westen – bildeten ein nahezu ideales Gespann, um die Geschicke der gesamten Stadt in dieser aufwühlenden Zeit ausgleichend zu lenken. 

Nach dem Ausscheiden von Friedrich Magirius entfiel das Amt des Stadtpräsidenten. Geblieben ist das Engagement des Hochbetagten. Der Ausgleich mit Polen in einem nimmermüden Dialog der gegenseitigen Verständigung ist ihm eine Herzensangelegenheit. In Leipzigs Partnerstadt Krakow genießt Magirius höchstes Ansehen. Daneben kümmert er sich engagiert um das Andenken ehemaliger jüdischer Bürger der Stadt Leipzig, die in den NS-Vernichtungslagern ermordet wurden. Wenn anlässlich des jährlichen Gedenktages an die Reichspogromnacht Stolpersteine vor ehemaligen Wohnstätten Leipziger Juden geputzt werden, ist Friedrich Magirius dabei.

Die Stadt Leipzig verleiht im Mai 2022 ihrem hochverdienten Bürger Friedrich Magirius die Ehrenbürgerwürde. Sie gilt einer Jahrhundertleistung.

Stand: 15.02.2022

Bildergalerie - Magirius, Friedrich

Kaufmann, Küf

Regisseur, Kabarettist, Schriftsteller | geb. am 6. Mai 1947 in Marx (Russische Föderation)

Küf Kaufmann ist ein Multitalent. Leitmotiv seines Wirkens ist die starke kulturelle Neigung. Richtschnur seines Handelns ist die Verankerung des jüdischen Lebens in der deutschen Gesellschaft. Ausrufezeichen seiner öffentlichen Äußerungen sind die Positionen in verschiedenen jüdischen Organisationen. Wenn es darauf ankam, hat er sich notgedrungen auch mit profanen Geschäften durchgeschlagen und seinen Lebensunterhalt verdient, um anschließend mit frischer Kraft durchzustarten und seinen wahren Ambitionen nachzugehen. Als Jude aus dem untergegangenen deutschen Siedlungsgebiet an der Wolga, der seit 1990 in der vereinigten Bundesrepublik lebt und wirkt, vereint Küf Kaufmann in seiner Persönlichkeit verschiedene jüdisch-russisch-deutsch-europäische Züge. Sie wirken integrierend, nie verwirrend.

Unterhaltsamer Realsozialismus


Als jungen Mann zog es Küf Kaufmann 1966 aus dem südukrainischen Melitopol, wo seine Familie inzwischen lebte, zum Regiestudium nach Leningrad an eine Fachhochschule für Kultur. Nach dem erfolgreichen Abschluss hieß seine erste berufliche Station Petrosawodsk, eine der unzähligen, mittelgroßen russischen Industriestädte, die aus der Perspektive der Metropolen immer nur als „Provinz“ durchgehen.

Doch dann folgte die Einberufung zum Wehrdienst. Weil der nicht-militärische Auftritt durch die Truppe stets einen wichtigen Teil ihres beflissen gepflegten Wahrnehmungs-Spektrums nach außen bildete, gab und gibt es dort manche kulturelle Aktivitäten. Für den nicht besonders groß gewachsenen Küf eine willkommene Gelegenheit, seine Neigungen auch als Uniformträger zu pflegen. 1971 avancierte er dank seines beruflichen Hintergrunds zum Regisseur des Gesangs- und Tanzensembles der Sowjetarmee in Leningrad. Viele, die zum Wehrdienst verpflichtet waren, können gut nachvollziehen, welchen Vorzug es bedeutete, eine kleine interne Flucht anzutreten und dem Dienst mit der Knarre durch einen Dienst mit der Gitarre auszuweichen.

Nach seinem Wehrdienst blieb Küf Kaufmann in Leningrad, wo er seinen Lebensunterhalt als freiberuflicher Mitarbeiter verschiedener Medien im Bereich Kultur verdiente. 1980 stieg er zum Regisseur der Leningrad Music Hall auf, der er zehn Jahre lang treu blieb. Da fanden sich zwei, die gut zusammenpassten. Küf Kaufmann ist ein Unikum, die Leningrad Music Hall nicht minder. Das Revuetheater in der liberaler wirkenden, „eigentlichen“ russischen Hauptstadt bot ständig jene Portion lässiger Unterhaltung, die Moskau oft schmerzlich vermissen ließ. Kein Wunder, dass sich Talente davon angezogen fühlten. Doch in jenen Jahren begann die Sowjetunion zu beben. Nicht genug damit, dass „Piter“, wie seine Einwohner stets liebevoll schwärmten, beim Namen in die Rolle rückwärts zu St. Petersburg einschwang, brachten die unruhigen Zeiten neben zarten fortschrittlichen Pflänzchen auch allerlei Reaktionäres und Chauvinistisches hervor. Menschen wie Küf Kaufmann drohte Gefahr.

Ausweg und Hoffnungspfad Bundesrepublik


Der Antisemitismus erlebte in der russischen Geschichte mehrere Konjunkturen – wiederkehrende beschämende Aufschwünge ebenso wie einigermaßen beschwichtigende Abschwünge. Als sich die Situation in der chaotischen Niedergangsphase der Perestroika am Übergang zu den 1990er Jahren wieder einmal gefährlich zuspitzte, kam Küf Kaufmann eine Verpflichtung nach Berlin, wo im Friedrichstadtpalast einen gemeinsame Revue einstudiert werden sollte, gerade recht. Nur ging ausgerechnet in dieser Zeit auch die Berechenbarkeit mancher Entwicklung im umbrechenden deutschen und Berliner Ostteil verloren. Während sich also Küf Kaufmann gerade hoffnungsvoll auf dem Weg an seinen neuen Wirkungsort befand, wurde der Intendant des Friedrichstadtpalastes, der ihn engagiert hatte, entlassen. Damit war zugleich die Neu-Anstellung des Regisseurs, der soeben seine Leningrader Verankerung gekappt hatte, hinfällig. 

Es soll ein wohlgemeinter Ratschlag während eines Ost-Berliner Barbesuchs in gedrückter Stimmung gewesen sein, der Kaufmann einen Ausweg und ein leidliches Auskommen als Handelsvertreter wies: Der just im deutschen Einheitsjahr 1990 aus Russland Eingetroffene schickte sich an, bald darauf unspektakuläre Lebensmittel an die eigenen Landsleute zu verkaufen, die sich per Vertrag in der Gegenrichtung, also nach Hause, aufmachen mussten. Ohne Käse, Wurst und Bier lief auch bei den illusionslos heimkehrenden Kriegern nichts.

Im Jahr darauf zog Küf Kaufmann nach Leipzig. Er versuchte sein Glück in der Gastronomie, verlor aber nie die Kultur aus dem Blick. 1997 – da war Küf Kaufmann längst ein überzeugter Leipziger – kam die Zeit für neue Regieaktivitäten. Sie prägten seine Arbeit sechs Jahre lang und sorgten für reichlich Publizität. Die profunde Kenntnis kultureller Themen, das apart rollende „R“ in jedem mündlichen Vortrag und selbstironisch eingestreuter jüdischer Humor formten eine Marke und eine feste Größe im reichlich gefüllten Leipziger Kulturkalender. Zusammen mit Bernd-Lutz Lange spielte Küf Kaufmann ab dem Jahr 2000 Kabarett. Das Programm „Fröhlich und meschugge“ schlug einen unterhaltsamen deutsch-jüdischen Bogen, nahm Eigenheiten und Befindlichkeiten auf’s Korn und schaffte den Spagat, einem historisch schwierigen Thema den wohl dosierten Witz abzugewinnen, ohne den gebotenen Ernst einer belastenden Vergangenheit zu übertünchen.

Aktiv für die Präsenz des jüdischen Lebens


Bei all dem gezeigten Talent zum ausgewogenen öffentlichen Auftritt lag es nahe, Küf Kaufmann im Jahre 2005 den Vorsitz der
Israelitischen Religionsgemeinde zu übertragen. Immer öfter war er im Ariowitsch-Haus, dem Leipziger Zentrum der jüdischen Kultur, anzutreffen. Lesungen und Diskussionen galt es, zu einem wirkungsvollen Programm zusammenzufügen. Für unersetzliche, teils stimmungsvolle, teils bedrückende Archivbestände mussten Wege in eine gesicherte Zukunft gefunden werden. Küf Kaufmann, der Rastlose, brachte sich überall im Geiste bestandskräftiger Lösungen ein.

Damit strahlt er seit Langem weit über Leipzig hinaus aus. Die Wahl zum Mitglied des Präsidiums des Zentralrats der Juden in Deutschland im Jahr 2010 war folgerichtig. Und über Küf Kaufmann als 209. Mitglied konnte sich der Richard-Wagner-Verband Leipzig freuen. Mitglied in diesem Verband trotz Wagners Schmähschrift „Das Judentum in der Musik“? Kaufmann ist ganz Diplomat; das Elaborat nennt er „blöd“, aber Wagners Musik findet er klasse.

Jüdisches Leben ist für Küf Kaufmann kein Museum, sondern „ein lebendiger und wachsender Teil der Gesellschaft“. Hinein ins jüdische Leben und hinaus in die Gesellschaft beschreibt eine erfolgreiche Doppelstrategie.

Nicht ignorieren lässt sich das fortgeschrittene Lebensalter vieler Gemeindemitglieder. Für das Fundament einer guten Zukunft gewann deshalb der Umgang mit dem Archivbestand der Israelitischen Religionsgemeinde besondere Bedeutung. Um den Verbleib im Keller des Ariowitsch-Hauses wurde fünf Jahre lang leidenschaftlich gerungen. Anfang 2022 setzte sich Küf Kaufmann mit seiner Lösung durch: Die Akten, Urkunden, Fotos und Pläne gelangten als Depositum in das Stadtarchiv Leipzig. Die Israelitische Religionsgemeinde behält die Verfügung darüber. Worüber er sich nach der gelungenen Übergabe der kostbaren Unterlagen an das Leipziger Stadtarchiv am meisten freuen würde, beantwortet Küf Kaufmann auf seine unnachahmliche Weise: „Wenn es gelänge, endlich den Krieg ins Archiv zu verbannen“.

Stand: 10.03.2022

Bildergalerie - Kaufmann, Küf

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