In Leipzig bricht er wahrhaftig zu „neuen Ufern“ auf: Für Niels Gormsen ist nicht nur die von der Bürgerschaft initiierte Freilegung von Pleißemühlgraben und Elstermühlgraben eine Herzensangelegenheit. Schon im reifen Alter von 63 Jahren kommt der Stadtplaner von Mannheim an die Pleiße. Er folgt 1990 einer Bitte des neuen Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube, weil in Leipzig ein Dezernent für Stadtentwicklung gesucht wird. Nach seinen Ausscheiden aus der Stadtverwaltung bleibt Gormsen hier und vor allem aktiv. Bis ins hohe Alter hinein und allen körperlichen Einschränkungen zum Trotz nimmt er als wacher Zeitgenosse am städtischen Leben teil. Selbst im Krankenbett greift er noch zum Telefonhörer, um seine Meinung kundzutun. Viele Leipziger haben ihn in Erinnerung, wie er mit über 90 Jahren im „Rolli“ zu Veranstaltungen kommt. Und dort ab und an ein „Nickerchen“ macht.
Aus Niederlage wird eine Chance
Geboren wird der deutsche Architekt und Städteplaner in Rottweil. In Königsfeld im Schwarzwald besucht er das Gymnasium. Von 1951 bis 1958 studiert Gormsen Architektur an der Technischen Hochschule Stuttgart sowie an der Königlich-Technischen Hochschule Stockholm. In Stuttgart arbeitet er als Assistent am Lehrstuhl für Städtebau. Von 1962 bis 1972 leitet er das Stadtplanungsamt von Bietigheim/Württemberg. 1973 wechselt er zur Stadt Mannheim und übernimmt dort das Amt eines Baubürgermeisters. Er gilt als anerkannter Fachmann, die Kompetenz des Parteilosen ist über alle Parteigrenzen hinweg unbestritten. Oft wird er als „Baubürgermeister mit dem grünen Herzen“ bezeichnet. Dennoch wird er 1988 nicht wiedergewählt. Die SPD erhebt Anspruch auf den Posten, um ein Parteimitglied unterzubringen.
Doch aus dieser Niederlage wird eine Chance. Der neue Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube erfährt, dass in Mannheim ein fähiger Stadtplaner nach einer neuen Tätigkeit sucht und holt Gormsen 1990 an die Pleiße. Das wird zwar keine leichte Aufgabe. Gerade lief der legendäre Dokumentarfilm „Ist Leipzig noch zu retten?“ im DDR-Fernsehen, der ein eher düsteres Bild von der Messestadt mit vielen zum Teil unbewohnbaren Gründerzeithäusern und vielen maroden Bauten zeichnet. An der Rettung Leipzigs mitzuwirken, wird für Gormsen sowohl Herausforderung als auch ein großes Lebensglück. Mit seiner Erfahrung und viel Geschick versucht er Förderprogramme anzuzapfen, die in den Folgejahren die Sanierung eines Großteils des Denkmalbestands ermöglichen. Investoren geben sich in diesen Jahren im Neuen Rathaus buchstäblich die Klinke in die Hand, um beim Aufbau Ost mitzuwirken und freilich daran zu verdienen. Zu ihnen gehört auch ein gewisser Jürgen Schneider. Der Baulöwe, der später wegen seiner kriminellen Energie verurteilt wird, hat dennoch die Sanierung vieler Gebäude in Leipzig auf den Weg gebracht.
Gormsen ist stolz auf Projekte, die mit seiner Hilfe angeschoben und realisiert werden können. Etwa auf die neue Leipziger Messe, den Umbau des Hauptbahnhofs, das Paunsdorf-Center sowie die Initiative „Pleiße ans Licht“ mit seiner ehrenamtlichen Tätigkeit für den Neue-Ufer-Verein. Natürlich macht er sich in Leipzig nicht nur Freunde: Für „Keksrollen“-Eckhäuser und den Umbau des Hauptbahnhofs wird er damals von einigen beschimpft.
Der Höhepunkt eines Berufslebens
In seiner Amtszeit schafft er mit seinen Mitarbeitern wesentliche Grundlagen für eine geordnete städtebauliche Entwicklung der alten Messestadt nach der Friedlichen Revolution. Leipzig beschert ihm, wie er einmal in einem Interview sagt, „den Höhepunkt des Berufslebens“. Die Stadt nennt er ein bisschen euphorisch „eine späte Liebe“.
Nach der Pensionierung 1995 engagiert er sich für das Leipziger Neuseenland, eine Seenlandschaft, die anstelle früherer Tagebaue entsteht. Oft genug erhebt er seine Stimme, wenn wieder einmal in seinen Augen falsche Weichenstellungen im Städtebau gemacht werden. Und engagiert sich in durchaus spektakulären Aktionen, etwa um die Sprengung der Abraumförderbrücke im Tagebau Zwenkau zu verhindern und diese als Denkmal zu retten. Das klappt zwar ebenso wenig, wie der Erhalt der Kleinen Funkenburg. Interne Aufforderungen, sich als Ex-Stadtbaurat nicht öffentlich in Belange der Stadtentwicklung einzumischen, weist er zurück. „Ich bin ein freier Bürger“, sagt er. 2017 kritisiert er das Verfahren zur künftigen Gestaltung des Wilhelm-Leuschner-Platzes. In einem offenen Brief an Oberbürgermeister Burkhard Jung wirft er der Stadtverwaltung eine Missachtung des bürgerschaftlichen Engagements vor.
Bücher über den Wandel Leipzigs
Gemeinsam mit dem Fotografen Armin Kühne publiziert er Bücher über den Wandel Leipzigs. Gormsen hat die Idee, die sanierte Stadt, mit dem Zustand der Stadt zu seiner Amtsübernahme 1990 zu vergleichen. Kühne, der Leipzig seit Jahrzehnten fotografisch detailreich dokumentiert, hat dafür genau die geeigneten Bilder. Weil sich für den Erstling kein Verlag interessiert, finanziert Gormsen die erste Auflage des Buches privat. Später werden seine Bücher zum Verkaufsschlager des Verlages Edition Leipzig.
Gormsen selbst veröffentlicht ebenfalls Skizzenbücher. Seine künstlerische Ader als Architekt verwirklicht er in unzähligen Zeichnungen. Eine von der Kongresshalle am Zoo wird sogar das Logo des gleichnamigen Fördervereins. Und er organisiert „mit Schlips und Kragen“ Radtouren, die nahezu legendär werden. Nach dem Tod seiner Frau Traute, die in Mannheim lebte, heiratet er im Januar 2017 seine langjährige Leipziger Weggefährtin Hella Müller. Er ist Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender und Ehrenvorsitzender des Fördervereins Neue Ufer. Außerdem engagiert er sich als Ehrenvorsitzender der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung. Geehrt wird er sowohl mit dem Bundesverdienstkreuz als auch dem Verdienstkreuz des Freistaates Sachsen.
Vier Wochen vor seinem 91. Geburtstag stirbt er bei einem Krankenhausaufenthalt in Borna. Sein Nachlass befindet sich heute im Stadtarchiv Leipzig. Dabei handelt es sich um Skizzenbücher, Aufsätze, Vorträge, Briefe und Fotos, die von seiner Kreativität und seinem Engagement für die Stadt zeugen. Mit der Schenkungsurkunde wurde geregelt, dass der Nachlass erst nach dem 1. Januar 2029 öffentlich zugänglich und nutzbar sein wird, um private Belange der Familie und anderer Weggefährten zu schützen.
Stand: 17.12.2023