Es ist schon eine kleine Sensation, die zu großer Aufmerksamkeit und Diskussionsstoff in vielen Medien führt. Am 25. Januar 2023 öffnet Alfred E. Otto Paul, der Vorsitzende der Paul-Benndorf-Gesellschaft zu Leipzig, das Grab von Marinus van der Lubbe auf dem Leipziger Südfriedhof. Ziel ist es, die Identität des Leichnams van der Lubbes zweifelsfrei zu klären und mögliche Spuren zu finden, ob der mutmaßliche Reichstagsbrandstifter von den Nationalsozialisten ermordet worden ist.
Mit dabei ist neben Vertretern des Friedhofs Dr. Carsten Babian, Leitender Oberarzt am Institut für Rechtsmedizin der Universität Leipzig, der das noch immer gut erhaltene Hirn und einige Skelettteile entfernt und zur weiteren toxikologischen Untersuchung mitnimmt. Knapp fünf Monate später liegt ein Gutachten vor. Daraus geht eindeutig hervor, dass die sich im Grab befindenden Gebeine tatsächlich die sterblichen Überreste des Niederländers sind, der 1933 wegen der Brandstiftung des Reichstags in Berlin zum Tode verurteilt worden war. Spuren einer Vergiftung können allerdings nicht nachgewiesen werden. Alfred E. Otto Paul arbeitet die Spurensuche nun auf, wird die Ergebnisse in einem Buch veröffentlichen.
Der Friedhof als Lebenselixier
Der Friedhof ist zum Lebensmittelpunkt Pauls geworden, der in Kleve am unteren Niederrhein geboren wird. 1955 siedeln die Eltern in die Prignitz in Brandenburg um, wo er Kindheit und Jugend verbringt. Nach einer Handelslehre und einem Bauwesen-Studium arbeitet er als Bauingenieur. Die Liebe führt ihn nach Leipzig. Im Jahr 1985 übernimmt er die Leitung des Bestattungs- und Friedhofswesens Leipzig als Technischer Direktor. Verantwortlich für Bauwerke auf allen städtischen Friedhöfen Leipzigs erlebt er, wie viele Grabmale und Gebäude verfallen. Das tut ihm im Herzen weh. Vor allem an der Achse, die vom Eingang am Völkerschlachtdenkmal bis zum Krematorium des Südfriedhofes führt.
Paul interessiert sich für die Geschichte des Leipziger Südfriedhofes, die er wissenschaftlich erforscht. Und erweitert diese Forschungen später auf den Alten Johannisfriedhof sowie den Neuen Johannisfriedhof. Letzterer wird 1950 für Bestattungen gesperrt. Ab 1973 werden die Gruftanlagen beseitigt, Gräber geräumt und eingeebnet. Das Areal wird schließlich als öffentliche Parkanlage umgestaltet und 1983 als Friedenspark unweit der Russischen Gedächtniskirche eröffnet.
Aus Protest, weil zu wenig für die Rettung der Kunstdenkmale auf den Friedhöfen der Stadt getan wird, legt Paul 1997 sein Amt als Technischer Direktor des Südfriedhofes nieder. Er wechselt in die Selbstständigkeit und gründet ein Büro für Sepulkralkultur in Leipzig. Paul recherchiert und publiziert eifrig, um die Öffentlichkeit für Friedhöfe und Grabkunst zu sensibilisieren. Ab 2007 bietet er regelmäßig Führungen auf dem Südfriedhof an, bei denen er oft von einem interessierten Publikum regelrecht überrannt wird. Die Leute lieben es, ihm zu lauschen, wenn er sein vielfältiges Wissen rund um die Historie des Leipziger Begräbniswesens weitergibt. Da kann es schnell passieren, dass 125 Leute erscheinen, die Führung mehrere Stunden dauert. Seine Begabung, unterhaltsam zu erklären, spricht sich herum. Die Führungen werden zum Kult. Selbst beim Wave-Gotik-Treffen, zu dem Anhänger der schwarzen Szene alljährlich an Pfingsten nach Leipzig reisen, ist er anzutreffen.
„Ein Benndorf“ der Neuzeit
Um Grabmale vor dem Verfall zu retten und zu restaurieren, gründet Paul mit einigen Mitstreitern und viel Enthusiasmus im Jahr 2008 die Paul-Benndorf-Gesellschaft zu Leipzig. Die widmet sich der Förderung und Pflege von Kulturwerten im Bereich des Friedhofs- und Denkmalwesens.
Studienrat Paul Benndorf (1859–1926) hat in akribischer Fleißarbeit die Geschichte des Alten Johannisfriedhofes erforscht und gilt als der Friedhofsexperte. „Ein Benndorf“ der Neuzeit ist Paul mittlerweile selbst geworden. Sein umfangreiches Wissen über Leipzigs Friedhofswesen schreibt er in etlichen Büchern nieder. Dazu gehört die Reihe „Kunst im Stillen“, die sich mit den Grabmalen auf dem Südfriedhof beschäftigt. Darin beschreibt er, in welchen oft kunstvoll gestalteten Grabmalen bekannte Persönlichkeiten ihre letzte Ruhe finden.
Er forscht weiter, will beispielsweise Kirchenbegräbnisse und ihre regionalen Besonderheiten und Rituale aufarbeiten. Paul vertieft sich wieder in Archiven, bis hin nach Holland und Belgien. Paul möchte – analog zum „Neuen Johannisfriedhof“ (erschienen 2012) – ebenfalls noch ein Buch über den Südfriedhof verfassen. „Das wird mein Hauptwerk, der Südfriedhof ist schließlich meine Domäne“, sagt der Forscher, der auch häufig im Stadtarchiv auf der Alten Messe anzutreffen ist.
Stolz auf Benndorf-Gesellschaft
Stolz ist Paul, dass die Paul-Benndorf-Gesellschaft die zweitgrößte ihrer Art in Deutschland geworden ist. Sie pflegt eine eigene Grabstätte, um ihre verstorbenen Mitglieder zu bestatten. In Zeiten, in denen viele in namenlosen Urnenanlagen „verschwinden“, soll die Grabstätte ein Beispiel sein, wie zeitgenössische Bestattungskultur funktionieren kann. Paul weiß, dass seine Arbeit oftmals kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann. Viele der Kulturdenkmale sind in einem maroden Zustand. Es kostet viel Geld und guten Willen, sie zu retten. Doch unermüdlich machen er und seine Mitstreiter weiter, um „im kollektiven Schulterschluss mit der Stadt dieses Flächendenkmal Südfriedhof zu retten“, wie er in Gesprächen immer wieder sagt.
Ein Friedhofsmuseum als Vision
Eine Vision bleibt, an der Prager Straße ein Friedhofsmuseum zu eröffnen. Ab und an hält er auch Grabreden wie bei Aktfotograf Günter Rössler oder Heimatforscher Claus Uhlrich. Die Paul-Benndorf-Gesellschaft betreibt ein Trauer-Café. Paul selbst ist gemeinsam mit Michael Schaaf einer der Gesellschafter der Firma Leipzig Details, die ein breites Spektrum an Stadtführungen anbietet.
Stand: 29.11.2023