Wermsdorf

Wermsdorf (Sachsen) | PLZ 04779

Jenseits des Muldentals wird die Landschaft welliger. Wer auf der Autobahn nach Dresden unterwegs ist, spürt, wie das auf Beschleunigung getrimmte Betonband Platz in einem ruhigen ländlichen Raum beansprucht. Doch wer dann – kurz nach der Muldebrücke bei Grimma – einfach an Wermsdorf vorbeirollt, der verpasst etwas. Der Charme der ländlichen Gemeinde entspringt der enormen Spannweite aus bürgerlicher Kleinteiligkeit und aristokratischem Gepräge. Denn Wermsdorf zählt gleich zwei Schlösser – eines davon, Schloss Hubertusburg, hält sogar einen Europarekord.

Ein Schloss für adliges Jagdvergnügen


Am Anfang stand der Forst. Rund um Wermsdorf war er so wildreich, dass er sich der Aufmerksamkeit des sächsischen Hofes nicht entziehen konnte. Der dichte, gleichwohl lichte Wermsdorfer Forst avancierte zum Jagdrevier der Landesherren. Rückten sie hier zur Parforcejagd an, brauchte es vor allem Raum für all die Herrschaften und die Gerätschaften, um dem edlen Wild nachzustellen, für Kutschen und Pferde. Ein Rittergut mitten in Wermsdorf stieg zum ersten Jagdschloss auf. 

Ihm sieht jeder Besucher den ursprünglichen Zweck an. Ländliches Bauen bedeutete zweckmäßiges Bauen. Symmetrie war nachrangig. Deshalb weist das „Gesicht“ des ersten Wermsdorfer Jagdschlosses – heutzutage vor allem Sitz der Gemeindeverwaltung – unregelmäßige Gebäudeflügel auf. Pragmatismus galt als Leitmotiv: Hier die Gutsverwaltung, da der Pferdestall, dort der Speicher zum Einlagern der Ernte. Eine unprätentiöse, ländliche Idylle.

Dessen ungeachtet zog hier der Dresdner Hofstaat vor allem zur Jagd in den Wäldern ein. Ja, über das bucklige Pflaster des Torweges holperte die Kutsche sogar des sächsischen Kurfürsten. Ja, hinter dem prächtigsten Giebel des Vorderhauses (wo in unseren Tagen der Bürgermeister sein Amtszimmer genießt) befand sich das Schlafgemach, in dem August der Starke sein Haupt zur Nachtruhe bettete und von dem er tagsüber den Blick in Richtung Forst wandte. Ortsgeschichte und Landesgeschichte formen in Wermsdorf eine traute Einheit.

Mitten auf dem Lande ein großartiges Barockschloss


Symbolträchtig an einem 3. November, dem Hubertustag, der an den Schutzpatron der Jagd erinnert, genügte August dem Starken das vorgefundene bescheidene Jagdschloss dann aber doch nicht mehr. Der Landesherr dachte anno 1721 nicht zuletzt an seinen Sohn, der auf Jahre hinaus seine Wermsdorfer Jagdleidenschaft von einer wahrhaft aristokratischen Basis aus pflegen sollte. Der Blick fiel auf den sanft ansteigenden Hügel im Südosten. Dort sollte es entstehen, das neue, repräsentative, überragende, alle bisherigen Maßstäbe sprengende Jagdschloss des sächsischen Adels. Den Namen Hubertusburg kann jedermann mühelos entschlüsseln, der sich auch nur ansatzweise dem Thema Jagd zuwendet. 

Gebaut wurde recht zügig. Nach zwölf Jahren stand 1733 das größte europäische Landschloss, und diesen Spitzenplatz sollte die barocke, dem symmetrischen Zeitgeist des Bauens und Schauens verpflichtete Anlage nie wieder hergeben. Wermsdorf schrieb sich mit einem Gebäudekomplex der Superlative für immer in die europäische Adelsgeschichte ein.

Wechselnde Nutzungen des grandiosen Anwesens


Die Säle sind prächtig, der Ovalsaal ragt noch einmal besonders aus dem Reigen der Gemächer heraus. Die Räume sind beeindruckend hoch. Der Schlosshof gibt sich als Klein-Versailles (oder Loire-Schloss) mitten in Mittelsachsen. Kenner wissen, welches ausgreifende Kleinod sie hier vorfinden. Wer es noch nicht gesehen hat oder gar den Superlativen misstraut, dem sei ein Besuch dringend empfohlen. 

Eingeschrieben in die verworrenen Zeitläufe hat sich das Jagdschloss Hubertusburg allerdings weniger mit seiner faszinierenden Architektur denn vielmehr als erstrangiger Geschichtsort. Zunächst diente der ausgedehnte Gebäudekomplex mit angeschlossenem Park natürlich seinem Bestimmungszweck, der Jagd im Wermsdorfer Forst. Im Laufe der Zeit kreuzten sich hier aber sehr verschiedene Ereignisstränge. Da war zunächst der Siebenjährige Krieg. Als Knotenpunkt sächsisch-preußischer Rivalität löste er tiefe Rachegelüste aus. Die siegreichen Preußen schleppten aus dem Jagdschloss alle beweglichen Gegenstände und Pretiosen weg, derer sie habhaft werden konnten. Verschont blieb einzig und allein die katholische Schlosskapelle, und dieser Glücksfall schmückt die gesamte Anlage bis heute. Raumgestalt und Spitzenakustik fügen sich zusammen mit der original erhaltenen Balustrade für den Landesherrn zu einem beeindruckenden Ganzen. Die Kapelle entging der Plünderung, doch zum Schluss mussten die Ergebnisse des militärischen Ringens besiegelt werden. Es kam 1763 zum Frieden von Hubertusburg, geschlossen in einem Seitenflügel des Jagdschlosses, weil der arg geplünderte zentrale Teil des herrschaftlichen Anwesens dafür nicht mehr geeignet war. Immerhin, Frieden zog ein.

Doch seinen einstigen Spitzenrang hatte das ausgedehnte, aber entleerte Landschloss eingebüßt. Die sich ablösenden Folgenutzungen fielen deshalb eher banal aus: Lager für Landesvorräte, Lazarett für tausende Verwundete der Völkerschlacht bei Leipzig 1813, Gefängnis, Fliegerschule der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, psychiatrisches Fachkrankenhaus. Sogar ein Mythos rankte sich um Gebäudeflügel und Gewölbe: Schloss Hubertusburg stieg zeitweise zu einem der vermuteten Verstecke für das von den Nazis geraubte und danach verschollene, sagenhafte Bernsteinzimmer aus Zarskoje Selo bei St. Petersburg in Russland auf. Eine äußerst blasse Spur.

Sanierung eines Kleinods von Landesbedeutung


Mit der deutschen Einheit änderte sich auch auf Jagdschloss Hubertusburg alles. Das Fachkrankenhaus verließ seine dafür nicht geschaffenen Räume. Die Dächer und Fassaden mussten restauriert werden. Letztere Mammutaufgabe wurde mit Millioneninvestitionen des Freistaates Sachsen geschafft. Damit bietet sich vom Schlosshof auf der östlichen Seite aus wieder der grandiose, majestätische Anblick. Eine Fachmesse für
Jagd & Angeln ist immer im Herbst zu den Nutzungswurzeln des Schlosses zurückgekehrt. Überhaupt bietet der Herbst einen wahrhaft überwältigenden Anblick von Hubertusburg inmitten der bunt gefärbten Natur der Wermsdorfer Forst- und Teichlandschaft. Derweil finden im restaurierten zentralen Gebäudeteil des Schlosses wechselnde Kunst- und Geschichtsausstellungen in Regie der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden statt. 

Und das erste, kleine ländliche Jagdschloss? Die letzten sächsischen Könige haben es noch einmal für ihre Jagden genutzt, ehe 1918 die staatspolitische Einflusslinie der Wettiner gekappt wurde. An König Albert erinnern sich die Wermsdorfer aber gern. Sie haben ihm am Eingang zum ersten, aber auch finalen Wermsdorfer Jagdschloss ein Denkmal gesetzt. 

Die Landschaft rund um den Collm stellt eine Besonderheit dar. Wermsdorf ist von ca. 4.000 Hektar Wald und einer großen Anzahl Seen und Teiche umgeben. Die bekanntesten davon sind der Horstsee und der Döllnitzsee. Eine Besucherattraktion ist das Horstseefischen. Das große Wermsdorfer Fischfest findet jährlich im Oktober statt.

Stand: 06.08.2023

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Dr. Helge-Heinz Heinker
Der in Leipzig-Connewitz geborene habilitierte Ökonom ist bekennender Eisenbahn- und Flugzeugfan. Er arbeitet als Wirtschaftsjournalist und ist (Mit)Autor von über 70 Publikationen, darunter eine Vielzahl von Abschnitten zur Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung seit dem 19. Jahrhundert in der wissenschaftlichen Stadtgeschichte der Stadt Leipzig (Band 3 und 4), „Leipzig Hauptbahnhof. Eine Zeitreise“, „Boomtown Leipzig. Anspruch und Wirklichkeit“, „Wolfgang Tiefensee: Eine Biographie“ und „150 Jahre Straßenbahn für Leipzig“. Seit Mai 1999 moderiert er die Veranstaltungsreihe „Tourismusfrühstück“ sowie Kongresse, Tagungen und Fachveranstaltungen. An den Wochenenden tourt er öfters mit Touristen durch die Stadt und stellt ihnen bei der Stadtrundfahrt Leipzigs Attraktionen vor.
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