Theater, Theater – auch das ist Leipzig. Große Spielstätten und kleine Bühnen. Bekannte Stücke und experimentelle Performances. Immer aber: Leidenschaft und brennendes Engagement. So wie bei Ann-Elisabeth Wolff. Sie hat dem Festival euro-scene Leipzig ihren Stempel aufgedrückt. Entschlussbereit, hartnäckig, strahlkräftig.
Künstlerisch ambitioniert, von Anfang an
Die familiäre Herkunft von Ann-Elisabeth Wolff war prägend. Sie wuchs in Leipzig in einer künstlerisch ambitionierten Familie auf. Von 1971 bis 1975 studierte sie Musikwissenschaften an der damaligen Karl-Marx-Universität. Ihren Berufseinstieg vollzog sie 1975 beim weltberühmten Leipziger Musikverlag Edition Peters. Lektorin blieb sie dort bis 1990. An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass auch die Edition Peters der gewundenen, teils erratischen Geschichte vieler Leipziger Verlage folgte. Unerschütterlich Geglaubtes galt ab 1990 in der unverhofft wiedererlangten deutschen Einheits-Verlagslandschaft plötzlich nicht mehr.
Ausgerüstet mit jeder Menge Fachwissen und professioneller, publizistischer Neugier und ausgestattet mit der nötigen Änderungsbereitschaft stieg Ann-Elisabeth Wolff um und gelangte als Stellvertreterin des Theaterwissenschaftlers und Schauspielregisseurs Matthias Renner ab 1991 an die Spitze der neu etablierten euro-scene, eines Leipziger Theaterfestivals. Mitten in den allgegenwärtigen Umbrüchen der Jahre 1990 und 1991 ging die euro-scene als Neugründung aus der Leipziger Schauspielwerkstatt hervor und nannte sich im Untertitel unmissverständlich gleich selbst Festival der europäischen Avantgarde.
Prägende Leiterin der euro-scene Leipzig
Später nahm die euro-scene explizit Bezug auf zeitgenössisches europäisches Theater und Tanz. Da war das experimentierfreudige Treffen unkonventionell agierender Bühnenschaffender längst eine bekannte Marke in der Szene in Europa, Euro-Scene eben.
Nach dem frühen Tod von Matthias Renner im Jahre 1993 regte der damalige Leipziger Kulturbürgermeister Georg Girardet an, Ann-Elisabeth Wolff solle die Leitung des Festivals übernehmen. Im Leitungskollektiv hatte sie längst die erforderlichen Erfahrungen gesammelt. Und damit bekam die euro-scene in ihrem dritten und den folgenden fast 30 Jahren eine resolute Chefin.
Ann-Elisabeth Wolff ist keine Leiterin vom Büro aus. Sie muss raus, viel unterwegs sein, andere Festivals kennenlernen, Eintrittskarten für Aufführungen ergattern, für die es monatelang schon keine Karten mehr gibt, Kontakte knüpfen, Avantgardisten nach Leipzig locken. Und damit hatte jeder Leipziger Kulturherbst eine Konstante mit enormer Ausstrahlung, die euro-scene. Der europäische Gedanke ist ihr fest eingepflanzt. Als sich immer mehr mittel- und osteuropäische Länder anschickten, Mitglieder der Europäischen Union zu werden, gingen Einladungen nach Leipzig gezielt dorthin. Das Festival und seine Leiterin wirkten als Brückenbauer in Europa, und es gelang ihnen, viele kulturvolle Konstruktionselemente in die verbindenden symbolischen Bauwerke einzufügen.
„Ein Festival ist kein Supermarkt. Es ist ein Rausch“, versuchte Ann-Elisabeth Wolff einem auf unsicherem Terrain wandelndem Nachfrager das Geheimnis der alljährlichen Leipziger Avantgarde-Zusammenkunft zu erschließen.
Mediale Aufmerksamkeit war dem Theater- und Tanz-Treffen und seiner Leiterin stets sicher. Die euro-scene sei eines der schrillsten europäischen Festivals, befand die Hamburger „Zeit“ und lobte – üblicherweise mit höchster Anerkennung eher geizend – die besondere Qualität der sechs besonderen Leipziger Performance-Tage in jedem November. Da war die euro-scene sehr zur Freude des aufgeschlossenen Publikums längst in der Spitzengruppe der deutschen Theater- und Tanzfestivals angekommen. Das Experimentelle, die kühne Ästhetik waren gefragt und wurden mit Beifall goutiert.
Drei markante Festival-Jahrzehnte
Festivalleiterin Wolff fand im Autokonzern BMW, der in Leipzig ab dem Jahr 2001 mit einem neuen Werk intensiv Wurzeln zu schlagen begann und Unternehmens-Kultur besonders hochhielt, einen potenten Förderer der euro-scene. Mit diesem Engagement schmückten sich beide Seiten über zehn Jahre hinweg. Doch irgendwann fällt jeder Vorhang.
Ein Autokonzern greift dem Festival längst nicht mehr als finanzieller Förderer unter die Arme. Diese Aufgabe müssen die Stadt Leipzig und das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus inzwischen allein stemmen.
Wichtiger noch: Im Jahr 2020 sollte Festivalleiterin Wolff den Staffelstab nach dem 30. Jahrgang der euro-scene planmäßig an Christian Watty übergeben. „Planmäßig“ bekam wegen Corona allerdings einen unverschuldet herben Beigeschmack. Festivals waren von den verordneten Einschränkungen öffentlicher Auftritte und Begegnungen mit am härtesten betroffen. Die 30. euro-scene musste abgesagt werden. Auch wenn Ann-Elisabeth Wolff ein öffentlich wirksamerer beruflicher Abschied als vor dem Start der 31. euro-scene unbedingt zu gönnen gewesen wäre, bleibt als ihr finales, fortwirkendes Verdienst doch bestehen, dass sie diesem Festival ein Gesicht, eine klare Handschrift und einen europäischen Zuschnitt gegeben hat. Nachhaltigkeit und die Arbeitswelt umschreiben den inhaltlichen und ästhetischen Kosmos, in dem das Festival weiterhin verortet werden soll.
Ann-Elisabeth Wolff und die euro-scene Leipzig nicht in einem Atemzug zu nennen, das wäre drei Jahrzehnte lang nicht gegangen. Das Festival wird deshalb wohl noch geraume Zeit vom Wirken und den Impulsen seiner langjährigen Leiterin profitieren. Sie wohnt ja mitten in der Stadt und hat es nicht weit bis zu den 12 bis 14 Theater- und Tanzstücken an den sechs Festivaltagen jedes Herbstes.
Stand: 01.04.2022