Friedrich Magirius ist einer der prominentesten evangelisch-lutherischen Theologen, die im Zuge des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs im Herbst 1989 in ein direktes politisches Engagement geradezu hineingezogen wurden und als besonnene Moderatoren der aufgeheizten, meinungsstarken Diskussion breiter bürgerschaftlicher Kreise besonders gefragt waren. Bis heute müsste sich jeder Veranstalter eines einigermaßen gewichtigen Dialogs in Leipzig die Frage gefallen lassen, wo denn Friedrich Magirius sei, falls er im Teilnehmerkreis nicht gleich entdeckt würde.
Karriere in der evangelischen Kirche
Friedrich Magirius kommt aus der Generation, die im jugendlichen Alter das Ende der NS-Diktatur und der Schrecken des Zweiten Weltkriegs miterlebt hat. Aufgewachsen in Radebeul in der bürgerlichen Familie eines Amtsgerichtsrats, erlebte Magirius im Februar 1945 den Untergang seiner Geburtsstadt Dresden im Bombenkrieg mit.
Auf das Abitur folgte das Theologiestudium von 1948 bis 1950 an der Kirchlichen Hochschule Berlin-Zehlendorf in der Vier-Mächte-Stadt Berlin und von 1950 bis 1953 an der Universität Greifswald. Es folgten erste berufliche Positionen in Einrichtungen der evangelischen Kirche in Sachsen. In der weiteren Karriere des Theologen stehen seine Pfarrstellen zunächst ab 1958 in Einsiedel und anschließend an der Kreuzkirche in Dresden. Einfluss und Anerkennung erwarb sich Magirius in besonderer Weise als Leiter der Aktion Sühnezeichen in der DDR. Dieses Engagement wird bei den polnischen Nachbarn bis heute registriert und geschätzt.
1982 folgte der Wechsel nach Leipzig. Bis zum Erreichen des Pensionsalters 1995 wirkte Magirius als Superintendent des Kirchenbezirks Leipzig Ost. Von seiner Wohnung im Haus der Kirche am Nikolaikirchhof aus fiel sein Blick nicht nur ständig auf dieses Gotteshaus – Magirius nahm als Pfarrer der Nikolaikirche zusammen mit Christian Führer vor allem Einfluss auf die montäglichen Friedensgebete, die seit den frühen 1980er Jahren einen ständig steigenden Zustrom von Leipzigern erfuhren. Die aus heutiger Sicht völlig unspektakuläre Aufforderung „Nikolaikirche – offen für alle“, die als Blechschild an den Fahrradständer der Kirche montiert war, entfaltete damals eine außerordentlich mobilisierende Wirkung.
Die frühen 1980er Jahre waren eine aufgewühlte Zeit. Der Warschauer Vertrag im Osten und die NATO im Westen überboten sich als Speerspitzen der Systemkonfrontation beim Aufstellen von Mittelstreckenraketen, die atomar bestückt werden konnten und im Falle einer militärischen Auseinandersetzung von beiden deutschen Staaten nichts übriggelassen hätten. Vernunft war gefragt – ebenso wie das Herunterkühlen der politischen Temperatur.
Diplomatischer Theologe in der Nikolaikirche
Aus der konkreten Situation heraus, nahmen die Diskussionen in der Nikolaikirche im Verlauf der 1980er Jahre einen immer politischeren Charakter an. Oppositionelle, die gegen die verknöcherten Zustände in der DDR aufbegehrten, fanden hier den Diskussionsort, den sie sich wünschten und der sie in ihren Ansichten weiter bestärkte. Magirius, der zu den publizistisch immer wieder so titulierten „Kirchenoberen“ gehörte, war angesichts der aufgeheizten Situation ein gesuchter Ansprechpartner für diejenigen, die damals in Leipzig die Staatsmacht verkörperten und die aufflammenden Proteste immer weniger bändigen konnten. Ganz Theologe setzte Magirius auf Friedfertigkeit und Ausgleich, auf Diplomatie statt Konfrontation. Damit erzeugte er zugleich Widerspruch bei denjenigen Oppositionellen, die sich einen fordernderen Auftritt gegenüber den offiziellen Stellen wünschten. Denn, dass es weniger das Interesse am Gebet und theologischen Argument als vielmehr der hochkochende Hang zum Protest oder zur beabsichtigten Ausreise aus der DDR war, der montags die Nikolaikirche immer mehr füllte, sahen alle Beteiligten und Beobachter sehr schnell und eindringlich.
Aus dem Abstand von inzwischen über 30 Jahren und nach einem Sturzbach politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen ist die Unerbittlichkeit der Diskussion, die weiterhin anhält, erstaunlich. Immerhin war es Magirius‘ Diplomatie, die der Kirche Spielräume verschaffte und bewahrte, während die Frage spekulativ bleiben muss, ob eine härtere Konfrontation zwischen Oppositionellen und Staatsmacht den widerständigen Anliegen dienlicher gewesen wäre und zeitiger zu einem Umbruch wie dem Herbst 1989 geführt hätte. Es ist wohl eher so, dass Magirius viele derjenigen schützte, die ihn bis heute mehr oder weniger hart kritisieren. Magirius selbst äußerte öffentlich: „Als Christ sitzt man immer zwischen den Stühlen“.
Die Nikolaikirche als Institution und die beiden Pfarrer Magirius und Führer als Personen gerieten 1989 immer mehr in den Strudel des Umbruchs. Aus der Forderung „Wir wollen raus“ wurde das trotzige „Wir bleiben hier“, als sich kommende Veränderungen allmählich andeuteten. Zur Herbstmesse Anfang September 1989 bekamen die in Leipzig versammelten West-Korrespondenten diejenigen Aktionen und Motive vor die Linse, die einem staunenden Publikum in West und Ost verblüffende Eindrücke vermittelten: „Da braut sich was zusammen“.
Stadtpräsident in den Jahren des Umbruchs
Als der Umbruch bereits volle Fahrt aufgenommen hatte, stieg Friedrich Magirius zum Moderator des Leipziger Runden Tisches und damit zum Steuerer des Dialogs und des Verwaltungshandelns zwischen zurückweichenden alten und den drängenden neuen Kräften auf. Die Kommunalwahl im Mai 1990 brachte ein weiteres neues Amt für ihn. Er wurde Stadtpräsident, wie das die demokratische Kommunalverfassung damals vorsah, und damit für weitere vier Jahre der diplomatisch ausgleichende Steuerer der Stadtverordnetenversammlung mit ihren aufwallenden politischen Emotionen, während der neue Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube von Amts wegen die Stadtverwaltung führte. Beide – der Theologe aus dem Osten und der versierte Verwaltungsjurist aus dem Westen – bildeten ein nahezu ideales Gespann, um die Geschicke der gesamten Stadt in dieser aufwühlenden Zeit ausgleichend zu lenken.
Nach dem Ausscheiden von Friedrich Magirius entfiel das Amt des Stadtpräsidenten. Geblieben ist das Engagement des Hochbetagten. Der Ausgleich mit Polen in einem nimmermüden Dialog der gegenseitigen Verständigung ist ihm eine Herzensangelegenheit. In Leipzigs Partnerstadt Krakow genießt Magirius höchstes Ansehen. Daneben kümmert er sich engagiert um das Andenken ehemaliger jüdischer Bürger der Stadt Leipzig, die in den NS-Vernichtungslagern ermordet wurden. Wenn anlässlich des jährlichen Gedenktages an die Reichspogromnacht Stolpersteine vor ehemaligen Wohnstätten Leipziger Juden geputzt werden, ist Friedrich Magirius dabei.
Die Stadt Leipzig verleiht im Mai 2022 ihrem hochverdienten Bürger Friedrich Magirius die Ehrenbürgerwürde. Sie gilt einer Jahrhundertleistung.
Stand: 15.02.2022