Er hat ein Herz für Leipzigs Stadtgeschichte. Das beweist Mark Lehmstedt nicht nur mit seinem Verlag, der sich auf die Kulturgeschichte Mitteldeutschlands, (Schwarzweiß-)Fotografie sowie Reiseführer spezialisiert hat. Seit 2019 leitet er als Vorsitzender den Leipziger Geschichtsverein. Lehmstedt – dieser Name steht für eine Leipziger Erfolgsgeschichte, seit der gebürtige Berliner seinen Verlag hier am 1. März 2003 gründet. Dieser hat sein Domizil seit 2021 in Barthels Hof unweit des Markts.
Zur Bewährung in der Braunkohle
Geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen ist Mark Lehmstedt in Ost-Berlin. Dort besucht der Sohn einer Professorin für Klavierpädagogik zunächst eine Russisch-Schule, später die 2. Erweiterte Oberschule, bekannt als Gymnasium „Graues Kloster“. Vier Wochen vor den Abiturprüfungen wird er im Jahre 1979 allerdings relegiert. Der Grund: Er hat eine Kulturwoche organisiert und in der Schülerzeitung einen Artikel geschrieben, der sich gegen Missstände im Bildungssystem der DDR wendet. Er fliegt, ohne dass sich jemand um seine Zukunft kümmert. Es gibt aber eine Patenbrigade im Braunkohlenkombinat Bitterfeld, die Arbeitskräfte sucht. Der junge Mann steigt in den Zug nach Bitterfeld und landet noch am gleichen Tag als Hilfskraft „zur Bewährung“ für gut anderthalb Jahre in der Produktion. Dort schließt er eine Ausbildung zum Facharbeiter für Anlagen und Geräte, Spezialisierungsrichtung Tagebaugroßgeräte, ab. Er darf schließlich an der Volkshochschule das Abitur machen. Es folgt der Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee.
Der Meister aus der Braunkohle schreibt ihm eine Super-Beurteilung, deshalb klappt danach das Studium der Germanistik an der Karl-Marx-Universität in Leipzig sowie der Humboldt-Universität in Berlin. Von 1987 bis 1991 unterrichtet Lehmstedt als Assistent am Lehrstuhl für deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts in Leipzig. Dort kann er 1990 mit einer Studie über den Verleger Philipp Erasmus Reich promovieren. Sein Zeitvertrag an der Universität Leipzig endet. Die Deutsche Nationalbibliothek will ihn übernehmen. Doch das funktioniert nicht, da die beiden Nationalbibliotheken in Leipzig und Frankfurt/Main fusionieren und daher Einstellungsstopp herrscht. In den folgenden Jahren ist er bei verschiedenen Forschungsprojekten tätig, darunter als Fellow des Wissenschaftskollegszu Berlin. Von 1999 bis 2002 arbeitet er als Lektor bei Directmedia Publishing in Berlin. Dort wird eine „Digitale Bibliothek“ aufgebaut.
Ein erstes Buch über Hungerjahre in Leipzig
Doch auch diese Tätigkeit endet. Er besinnt sich auf Leipzig, das er gut kennt. Schon der Großvater betreibt im nahen Weißenfels ein Schreibwarengeschäft. Von dort fährt er regelmäßig mit dem Auto in die Messestadt zum Einkauf beim Großhändler. In den Ferien durfte Enkel Mark mit und ist schon damals von der Stadt begeistert. Prägend ist für den Schüler 1978 der FDJ-Studentensommer in Leipzig. Er konnte an Lesungen in der noch nicht fertig gestellten Moritzbastei teilnehmen, im Innenhof der Universität als Liedermacher auftreten und Diskussionsrunden lauschen.
2003 gründet Mark Lehmstedt schließlich seinen eigenen Verlag. Sein erstes Buch ist „Hungerjahre in Leipzig“ mit Briefen des Studenten Jean Paul. „Als Unternehmer habe ich es immer in der Hand, was ich mache. Das kann zwar schiefgehen. Aber dann bin ich daran selbst schuld“, sagt er im Interview. „Diese Freiheit schätze ich.“ Viel ist nicht schiefgegangen, obwohl nicht jedes Buch ein wirtschaftlicher Erfolg wird.
Knapp 350 Titel sind seitdem im Lehmstedt-Verlag erschienen. Mittlerweile beschäftigt der Verlag, der 2019 mit dem Deutschen und 2020 mit dem Sächsischen Verlagspreis ausgezeichnet wurde, eine Grafikerin und Gestalterin sowie eine Lektorin. Die künstlerische Leitung verantwortet der Berliner Buchgestalter und Publizist Mathias Bertram, der auch zahlreiche Fotobücher für den Verlag herausgegeben hat.
Ein führender Verlag für Reiseführer
Mit mehr als 100 Reiseführern wird Lehmstedt zugleich der führende Reisebuchverlag Ostdeutschlands. Er veröffentlicht nicht nur Bücher zu den Touristenzentren, sondern auch zu kleineren Städten. Sein bisher erfolgreichstes und wichtigstes Buch heißt „Leipzig an einem Tag“ von Doris Mundus. Mittlerweile gibt es einen „Stadtführer für einen Tag“ für mehr als 110 Städte in ganz Deutschland. Das sind von Flensburg über Zittau, Kamenz, Freiberg, Quedlinburg bis Konstanz beliebte Reiseziele, die bei den großen Verlagen keine Chance haben. „Das war so nicht geplant. Es ist die unerwartete Wirkung des Leipzig-Buches“, sagt Lehmstedt. Für Leipzig kommen noch einige Stadtteilführer sowie Spezialführer zur Musikstadt Leipzig oder zum Südfriedhof hinzu, die sich vor allem ans heimische Lesepublikum wenden.
Lehmstedt hat ein Gespür für Themen, die die Leute interessieren. Ein Spitzentitel ist auch „Das ungebaute Leipzig“ von Arnold Bartetzky, das auf der Leipziger Buchmesse 2024 präsentiert wird. Darin geht es um architektonische Pläne, kühne Visionen und Luftschlösser rund um Messetürme, Wolkenkratzer und Flugplätze, die in Leipzig nicht verwirklicht wurden.
Ganz nebenbei gönnt er sich „Herzensprojekte“. Oft weiß er von vornherein, dass die Erlöse alles andere als üppig sind. Dazu gehört sein geplantes sechsbändiges Lexikon zur „Buchstadt Leipzig“. Dafür forscht er in vielen Archiven. Erschienen ist derzeit ein Band, der den Zeitraum 1420–1539 behandelt. Der Wissenschaftler hat sich 1825 als Grenze seiner Forschungen gesetzt, da in jenem Jahr in Leipzig der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gegründet wurde. Weil die Corona-Pandemie ihn ausbremst, Archive viele Monate nicht zugänglich sind, wird das Lexikon bis zum Themenjahr Buchstadt Leipzig 2025 allerdings nicht komplett fertig, wie einst gehofft. Im Herbst 2024 erscheint zunächst der zweite Band. Nebenbei arbeitet er an einem Projekt, bei dem er als Autor die Entstehung des Gebrauchtbuchhandels und der Antiquariate im 17./18. Jahrhundert thematisiert.
Lehmstedt ist es wichtig, sein Wissen weiterzugeben. An der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz habilitierte er 2012 über „Comics und Zensur in der DDR“. Eine Weile unterrichtete er dort am Institut für Buchwissenschaft. 2019 wurde er als Privatdozent für Buch- und Mediengeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig tätig.
Die Industriegeschichte Leipzigs als Wunschprojekt
Wünsche für künftige Publikationen hat der rührige Verleger noch viele. Ein großer Traum wäre ein wissenschaftlicher Abriss zur Industriegeschichte Leipzigs von den Anfängen bis hin zum Porsche Werk und BMW Werk in Leipzig. „Da gibt es eine Fülle von Betrieben, die letztlich zur Basis vieler Unternehmen geworden sind, die wie die Bleichert Werke zu Weltkonzernen werden“, erklärt er. Diese Vielfalt sei nur wenigen bewusst. So ein Projekt sei aber nur mit einer Gruppe interessierter Leute sowie Forschungen der Universität Leipzig möglich. Auch eine gut recherchierte und erzählte Biografie über Karl Heine schwebt Mark Lehmstedt vor. Wichtig ist ihm auch der Leipziger Geschichtsverein. Hier fördert er ebenso eigene Forschungen und Tagungen, wie in verschiedenen anderen Arbeitskreisen rund ums Buch und die Buchwissenschaft.
Stand: 29.01.2024