Das Bachstübl am Thomaskirchhof ist eines seiner Lieblingslokale. Dort ist der begnadete Künstler zu Lebzeiten oft anzutreffen. 23 Jahre lang leitet Georg Christoph Biller den Leipziger Thomanerchor, dessen Wirkungsstätte gleich gegenüber in der Thomaskirche ist. Diesen Knabenchor, in dem er in jungen Jahren einst selbst gesungen hat, führt er wieder enger an die Kirchenmusik und vor allem an die Weltspitze heran. Er gehört zu den geistigen Vätern, die das Forum Thomanum ins Leben rufen, um mehr Nachwuchs für den Chor zu gewinnen. Georg Christoph Biller ist tief in der Musikgeschichte Leipzigs verankert. Schwer erkrankt muss der Thomaskantor sein Amt 2015 wegen eines Nervenleidens aufgeben. Er stirbt schließlich mit 66 Jahren am 27. Januar 2022 in Leipzig.
Ein hochmusikalischer Junge
Geboren wird Georg Christoph Biller am 20. September 1955 als Pfarrerssohn in Nebra an der Unstrut. Die Gegend mit Weinbergen ist idyllisch, das große Pfarrhaus mit Hof und Garten einladend und eine kleine Welt für sich. Er wächst mit drei Geschwistern behütet auf, obwohl der Vater streng ist. Georg Christoph Biller ist ein hochmusikalischer Junge, singt früh im Gottesdienst und spielt an der Orgel. Schon zeitig verspürt er den Wunsch, unbedingt Thomaner zu werden. Das erfüllt sich im Alter von knapp zehn Jahren, als ihn Thomaskantor Erhard Mauersberger in den Chor aufnimmt. Wie ihn das beflügelt, beschreibt er später in seinen Memoiren „Die Jungs vom hohen C“. Die sind von Thomas Bickelhaupt aufgeschrieben im Mitteldeutschen Verlag 2017 erschienen.
Als Chorpräfekt kann Biller erste Erfahrungen im Dirigieren sammeln. Hautnah erlebt er da auch 1972 den Wechsel von Mauersberger zum neuen Thomaskantor Hans-Joachim Rotzsch. 1974 legt er das Abitur in der Thomasschule ab, absolviert danach den 18-monatigen Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Anschließend beginnt das Studium an der Hochschule für Musik „Felix Mendelssohn Bartholdy“ mit Gesang und Orchesterdirigieren. Dort trifft er erstmals auf den Gewandhauskapellmeister Kurt Masur. Bereits im letzten Studienjahr beruft dieser Biller im Jahr 1980 zum Chordirektor des Gewandhauses zu Leipzig. Er wird außerdem Dozent für Chorleitung an der Kirchenmusikschule Halle/Saale. Chordirigieren unterrichtet er später an den Musikhochschulen in Detmold und Frankfurt/Main. Als Gesangssolist ist er ebenfalls unterwegs. Und er leitet das Leipziger Vocalensemble, das er 1976 gründete.
Thomaskantor als Lebenstraum
Mit der Berufung zum Thomaskantor am 1. August 1992 erfüllt sich für Biller „ein Lebenstraum“, wie er selbst sagt. Die Amtszeit beginnt allerdings im Krankenbett, da er auf der Fahrt nach Leipzig einen Autounfall hat. Zwei Jahre später wird er Professor für Chordirigieren an der Hochschule für Musik, ab 2009 lehrt er dort selbst. Ein Höhepunkt der Karriere ist sicherlich das große Bachfest Leipzig 2000, das er konzipiert und künstlerisch leitet. Anlass ist der 250. Todestag des „größten aller Thomaskantoren“ Johann Sebastian Bach.
Der Traum vom Forum Thomanum
Ebenso wichtig: 800 Jahre Thomana im Jahr 2012. Das ist die gemeinsame 800-Jahr-Feier von Thomanerchor, Thomaskirche und Thomasschule. Dabei etabliert sich der Bildungscampus Forum Thomanum, zu dessen Initiatoren Biller gehört und für den er viele Jahre unermüdlich gekämpft hat. Denn Biller erkennt, dass der Thomanerchor nur dann in der neuen Zeit bestehen kann, wenn die Nachwuchspflege professionalisiert wird. Schon 1998 verfasst er eine Denkschrift „Wohlbestallte Kirchenmusik“, die diese Vision beschreibt. Den Titel lehnt er bewusst an Bachs berühmte Eingabe von 1730 an, der damals eine Mindestzahl von 12 bis 16 Sängern für den Chor einfordert.
Der Thomaskantor ist ein Angestellter der Stadt Leipzig, der Chor ebenfalls in städtischer Trägerschaft. Biller muss daher für sich und seinen inzwischen viel größeren Thomanerchor einen Platz zwischen weltlichem Dienstherrn und geistlichen Aufgaben finden. Mit dem Stadtrat muss Biller einige Konflikte austragen, etwa als es Versuche gibt, das musikalische Profil des Thomasgymnasiums abzuschaffen. Das scheitert am Protest der Eltern. „Er war kein pflegeleichter Partner, er war streitbar – nie in eigener Sache, immer für den Chor“, sagt Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung später auf dem Trauergottesdienst.
Ein Verein Forum Thomanum Leipzig wird schließlich am 28. August 2002 gegründet, um die Vision eines musikalischen Bildungscampus für die Bachstadt Leipzig Wirklichkeit werden zu lassen. Die Eröffnung erfolgt mit einem Festakt am 20. März 2012. „Ich wünsche mir, dass sich mehr Menschen für eine musische Ausbildung begeistern lassen“, sagt Biller damals gegenüber der Leipziger Volkszeitung: „Denn leider gibt es zu viele, die Musik nur noch konsumieren und nicht wissen, wie wertvoll es ist, sie selbst zu pflegen.“
Eine Zukunft für den Thomanerchor
Als Pädagoge liegt Biller die Zukunftsfähigkeit des Thomanerchores sehr am Herzen, den er als Künstler auf höchstes musikalisches Niveau bringt. Da er selbst Thomaner war, besitzt er die Gabe, sich in die Welt der Jungs hineinzuversetzen. Und er bemüht sich auch, sich selbst vom Sockel des Kantors zu holen. Dabei prägt er viele junge Menschen, die bei ihm nicht nur das Singen lernen, sondern auch erfahren, was es bedeutet, als Gemeinschaft zu funktionieren. Er lässt die Tradition der wöchentlichen Kantaten und Motetten in der Thomaskirche wieder aufleben – jene musikalischen Andachten sind begehrt. Bei Tourneen und Auftritten ist der Thomanerchor in Asien, Australien, Südamerika, in den USA sowie in vielen europäischen Ländern zu Gast. 2014 wird Biller für seine Verdienste mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Er ist mit der Schauspielerin Ute Loeck verheiratet.
Die tägliche Arbeit mit dem Chor ist ein Fulltime-Job. Dennoch findet Biller Zeit, weiter eigene Werke zu komponieren. Wegen depressiver Störungen fällt er 2014 längere Zeit aus. 2015 zieht sich Biller wegen einer neurologischen Erkrankung aus dem Amt zurück, Sprechen und Gehen werden mühsam. Am 18. Juni 2015 wird der 16. Thomaskantor nach Bach in einem Festakt verabschiedet. Die Musik hilft ihm, das eigene Leiden auszuhalten. Inzwischen ist er auf den Rollstuhl angewiesen.
Er stirbt am 27. Januar 2022 im Alter von 66 Jahren in Leipzig. Nach einem Trauergottesdienst in der Thomaskirche wird er am 10. Februar 2022 auf dem Südfriedhof beigesetzt. Sein Grab ist unweit der Grabstätte seines Lehrers Kurt Masur. „Mit Georg Christoph Biller verliert die Stadt einen Ausnahmemusiker, der dem Thomanerchor in schwieriger Zeit nach 1990 ein solides Fundament gegeben hat“, würdigt Oberbürgermeister Burkhard Jung das Wirken des Thomaskantors.
Stand: 16.01.2025