Bei jeder Fahrt mit der S-Bahn oder dem RegionalExpress vom Hauptbahnhof in Richtung Leipzig-Gohlis taucht kurz vor der Station auf der rechten Seite ein langgestrecktes weißes Bauwerk auf. Die Anmutung von Industriearchitektur wird durch die Metallskulptur einer Schwebebahn-Kabine und einen Schriftzug in rostroter Stahl-Optik unterstrichen: Bleichert-Werke. Indes, gefertigt wird schon lange nichts mehr in der einstigen Weltmarktfabrik. Bleichert-Werke – das ist nach Jahren des intensiven Umbaus heutzutage einer der größten Leipziger Loft-Komplexe.
Schwebend auf den Weltmarkt
Die boomende Industrie des späten 19. Jahrhunderts plagte ein schwer stillbarer Rohstoffhunger. Lagerstätten seltener Metalle und Energieträger ebenso wie die Plantagen exotischer Früchte gab es in vielen entfernten Weltteilen. Problematisch war vor allem der Transport. Eisenbahnen an die Fund- und Förderorte heranzubauen war kostspielig, und Lastkraftwagen gab es noch nicht. Seilbahnen für den Materialtransport blühten auf, denn dafür hatte der erfindungsreiche Leipziger Unternehmer Adolf Bleichert die passende Idee: An dem kontinuierlich umlaufenden Seil hängen die Loren für den Materialtransport. Gelangen sie an den Entladeort, soll nicht der gesamte Mechanismus bis zum Abkippen des Ladeguts stoppen, sondern weiterlaufen. Mittels einer speziellen Kupplung, in die Bleicherts Ideen einflossen, wird die ankommende Lore kurzzeitig vom Seil ab- und anschließend sofort wieder eingekuppelt, so dass es zu keinen entladebedingten Unterbrechungen des Transportflusses kommt. Darauf hatten viele Transporteure, die Erze, Kohle, Holz und Baustoffe aus unwegsamen Gegenden holen wollten, nur gewartet. Bleichert begann, die Welt zu beliefern.
Ingenieurgeist und Stahlbaukompetenz
Seit 1874 dehnte sich die junge Fabrik in Gohlis, das damals noch ein Leipziger „Vorortdorf“ war, aus. Gezielt erwarb Adolf Bleichert benachbarte Gewerbegrundstücke und gliederte sie seinem expandierenden Werk an. Von der Lützowstraße und entlang der Wilhelm-Sammet-Straße sind an den früheren Fabrikhallen aufeinanderfolgende Bauetappen noch deutlich ablesbar, auch wenn die Werkhallen längst nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck dienen.
Eingezwängt zwischen immer großstädtischeren Wohnungsbau und die vorüberführende Linie der Thüringer Eisenbahn in Richtung Weißenfels und Erfurt arrangierte sich Bleichert mit seinem länglichen Grundstück. Für die entstehende Fließfertigung hatte es genau die richtige Form. In seiner Branche kam es auf zweierlei an – wachen Ingenieurgeist, gepaart mit Konstruktionsideen und maßgeschneiderten Fertigungen, denn allein schon die Masten der Seilbahnen hatten in der freien Landschaft unterschiedliche Höhen und Tragwerksanforderungen.
Es ist deshalb keineswegs übertrieben, in der Firma Bleichert ein frühes, hoch spezialisiertes Ingenieurbüro mit angegliederten Fertigungsbereichen zu sehen. Die wuchtigen Verwaltungsgebäude mit ihren hohen Fensterfronten, in denen auch die Zeichnungssäle und anderthalb Jahrhunderte vor einer digitalisierten Welt die penibel archivierten Pläne in Papierform untergebracht waren, zeigen bis heute das große Gewicht des Ideenvorlaufs mit maßgeschneiderten Einzellösungen aus vielerlei Komponenten im Bleichertschen Geschäftsfeld.
Villa Hilda – Refugium am Werk
Adolf Bleichert lebte mit seinem Werk und deshalb mit seiner Familie auch direkt am Werksgelände. Die Villa Hilda in der Lützowstraße 19 bildet die gegenüberliegende Straßenseite der Fabrik. Großbürgerliche Repräsentanz, Anlehnungen an die klassizistische Formensprache der Architektur und ein vorgelagerter Garten mit Springbrunnen standen für das Repräsentationsbedürfnis der bürgerlichen Aufsteiger in der Phase der Leipziger Hochindustrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die gesamte Kombination aus Fabrik und Fabrikantenvilla zu beiden Seiten der Lützowstraße ist vom westlichen Bahnsteigende des S-Bahn-Haltepunkts Leipzig-Gohlis weiterhin gut zu erkennen.
Dann schwebten die Menschen zu ihrem Vergnügen
Wer brauchte im 20. Jahrhundert noch Materialseilbahnen? Gewiss, die Seilbahn mit den Gesteinsquadern für das Völkerschlachtdenkmal war noch eine Bleichert-Konstruktion. Doch für den Massentransport industrieller Rohstoffe von den Abbauorten zu den Verladestellen standen immer mehr Güterstrecken der Eisenbahn und vor allem Lkw zur Verfügung. Deshalb verlagerte sich das Seilbahngeschäft seit den 1920er Jahren auf Personenschwebebahnen. Ob es um die erste deutsche Schwebebahn (auf den Fichtelberg), die Bahn auf die Zugspitze, auf die Rax in Niederösterreich oder den Tafelberg in Kapstadt geht – bei allen handelt es sich um Teil- oder Generallieferungen von Bleichert.
Unterschiedliche technische Lösungen für Förderanlagen, aber auch die erste Generation von Elektro-Lkw in den 1930er Jahren stehen exemplarisch für die Suche nach neuen Geschäftsfeldern. Als Sowjetische Aktiengesellschaft bis 1953 und als VEB Verlade- und Transportanlagen (VTA) ab 1954 durchlief das Werk unterschiedliche Phasen bis zum Wiedereinstieg in die Marktwirtschaft, der dem Traditionsunternehmen nach 1990 allerdings nicht gelang. Damit standen die einstigen massiven Werkhallen 23 Jahre lang leer.
Unter dem Dach der CG-Gruppe des Projektentwicklers Christoph Gröner wurde das Bleichert-Werk mit seinen 12 denkmalgeschützten Hallen – unter Hinzufügung eines neuen Gebäudeflügels längs der S-Bahn-Trasse – seit 2015 in hochwertige Lofts und Büros umgewandelt. 60 Millionen Euro wurden in 38.000 Quadratmeter Nutzfläche investiert. Ein spitzwinkliges gläsernes Shed-Dach über der früheren Montagehalle und der turmartige Bau, in dem einst der technische Zeichnungsschatz lagerte, zeigen am nachdrücklichsten die industrielle Vergangenheit des Gebäudeensembles.
Stand: 22.12.2021