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Hauptmann, Silvia

Fotografin, Chronistin | geb. am 9. Oktober 1957 in Leipzig

Sie ist die Fotochronistin, die jüdisches Leben in Leipzig und Sachsen in vielen Facetten festhält. Ihr Markenzeichen sind Porträts von Menschen, denen sie sich mit gebührendem Respekt nähert, sowie verschiedene Milieustudien. Dabei hat sie ein Faible für Langzeitprojekte.

Geboren wird Silvia Hauptmann am 9. Oktober 1957 in Leipzig. Sie wächst in Böhlen auf. Als sie zwölf Jahre alt wird, ziehen die Eltern in ein Haus in Großdeuben „am Grubenrandstreifen“ der Braunkohle. „Hinterm Haus quietschte der Bagger lang, die Grube wurde zugeschüttet“, sagt sie und erinnert sich an nicht ungefährliche Abenteuer beim Baden in den Restlöchern. Zur Polytechnischen Oberschule fährt sie nach Gaschwitz. Danach beginnt die Berufsausbildung mit Abitur zur Laborantin. Sie arbeitet im Betriebsteil Böhlen des Volkseigenen Betriebes Petrolchemisches Kombinat Schwedt.

Aufträge für Architekturbüro und Zeitschriften


Doch das Auswerten von Proben befriedigt sie nicht. Eigentlich will sie Sprachen studieren, doch nach der Geburt ihres Sohnes Paul im Jahre 1981 entscheidet sie sich anders. Sie beschäftigt sich mit Fotografie, wird später an der
Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig immatrikuliert. Als freiberufliche Fotografin übernimmt sie Aufträge für ein Architekturbüro und arbeitet auch fürs Zentralhaus für Kulturarbeit. Jene Leipziger Einrichtung widmet sich der Förderung der Laienkunst und Brauchtumspflege in der DDR und gibt auch eine eigene Zeitschrift „Kultur und Freizeit“ heraus. Sie fotografiert sorbische Frauen, die Ostereier bemalen, sowie viele Menschen mit ihren Hobbys. Doch die Unzufriedenheit wächst. Im August 1989 verlässt sie mit ihrem damaligen Ehemann über Ungarn die DDR.

Im Westen angekommen, studiert sie an der Fachhochschule in Bielefeld Fotografie. Ihr Schwerpunkt wird dabei Sozial-kritisches Porträt/Fotoessay. Zusätzlich belegt sie Psychologie, um sich für die Fotoarbeiten besser in Menschen hineinversetzen zu können. Für ihre Abschlussarbeit fotografiert Silvia Hauptmann Roma in Rumänien. Nebenbei arbeitet sie für die von Bodelschwinghsche Stiftung in Bielefeld. Die hat Kontakte bis nach Japan – Silvia Hauptmann kann bei einem Empfang sogar den Kaiser des Landes der aufgehenden Sonne fotografieren.

Eine zufällige Begegnung in der Synagoge


Nach dem Studium kehrt sie nach Leipzig zurück. 1994 reist sie für eine Zeitung nach Moskau. Ihr Auftrag: Sie soll Bilder im Milieu von Prostituierten aufnehmen. Doch irgendwie merkt sie, dass ihr dieses Thema, mit „jungen Mädels, die im mafiösen Milieu ihre Haut zu Markte tragen“, nicht liegt.

Sie bummelt im strömenden Regen durch die Straßen der russischen Hauptstadt und landet zufällig in einem riesigen Gebäude. Das ist die Choral-Synagoge Moskaus. Dort wird gerade Rosch Haschana, einer der Hohen Feiertage des Judentums, gefeiert. Sie zückt die Kamera und kehrt mit einer Reportage über den Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt und die Moskauer Synagoge zurück. Und schnell wird klar: Das ist ihr Thema. Sie besucht die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig, die gerade ein Jubiläum vorbereitet, und deren damaligen Vorsitzenden Aron Adlerstein. Für die Gemeinde lichtet sie „Channuka im Astoria“ ab. Das wird der Beginn einer langen Zusammenarbeit.

Die Fotografin der Religionsgemeinde


Durch eine Ausstellung in der
Alten Nikolaischule, bei der zur Leipziger Buchmesse jüdisches Leben in Leipzig vorgestellt wird, entstehen Mitte der 1990er-Jahre Kontakte zur Ephraim Carlebach Stiftung und ihrer Vorstandsvorsitzenden Renate Drucker. Gemeinsam wird das Langzeitprojekt „Jüdisches Leben in Sachsen“ aufgelegt. „Ich war auch in Dresden und Chemnitz, auf allen jüdischen Friedhöfen in Sachsen. Mein Schwerpunkt blieb aber immer In Leipzig“, erzählt Hauptmann. Seit 1997 lebt sie mit dem Grafiker, Musiker und Autor Jürgen B. Wolff zusammen.

Sie hält 1998 fest, wie der erste sächsische Landesrabbiner Salomon Almekias-Siegl ordiniert wird. Silvia Hauptmann ist mittlerweile die Fotografin, die das Leben der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig am längsten dokumentiert. „Ich durfte erleben, wie die Gemeinde wächst und sich verändert“, sagt sie. Etwa durch den Zuzug von jüdischen Menschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Ihre Bilder bieten Einblicke in die erste jüdische liberale Hochzeit in der Brodyer Synagoge nach der Wende. „Das hat mich damals sehr fasziniert.“ Weitere Fotos zeigen Rituale, wie die Beschneidungen der Kinder oder die Beerdigung von Torarollen auf dem Neuen Israelitischen Friedhof. Sie darf die orthodoxe Hochzeit des Rabbiners Zsolt Balla in Berlin begleiten. Und macht ein Fotoessay über ihn. Die Einweihung des Ariowitsch-Hauses dokumentiert sie ebenfalls.

Eine digitale Datenbank vom Friedhof


Eine Herausforderung für die Projektmitarbeiterin der Ephraim Carlebach Stiftung wird eine große Dokumentation. Sie fotografiert und erfasst über vier Jahre gemeinsam mit Jürgen B. Wolff alle der rund 5.500 Gräber auf dem
Alten Israelitischen Friedhof und bereitet sie für eine Datenbank digital auf. Das wird ziemlich anstrengend. Die Ephraim Carlebach Stiftung nutzt die Datenbank, um Anfragen, etwa nach Personen, zu beantworten. Silvia Hauptmann bietet auch Führungen auf den Friedhöfen an. Was sie noch reizt, ist es, jüdische Familien daheim bei Festen wie Sabbat zu fotografieren. Doch das zu realisieren, ist schwierig. Im Ehrenamt unterstützt sie ebenfalls die Aktion Stolpersteine.

Fotoessays über Obdachlose und junge Strafgefangene


Silvia Hauptmann widmet sich auch vielen anderen Themen. Mit ihrer Kamera arbeitet sie im Strafvollzug. „Zwischenzeit“ heißt ihr Fotoessay über eine zu lebenslanger Haft verurteilte Frau. Diese hat sie 15 Jahre lang begleitet. Und sie hat in den Haftanstalten Zeithain, Waldheim sowie Regis-Breitingen fotografiert. Auch junge Strafgefangene. „Das Thema Schuld und Sühne hat mich immer gefesselt.“ Seit 1993 fotografiert sie regelmäßig beim Rudolstadt-Festival. Für die Sächsische Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien übernimmt sie ein Projekt, um ankommende Flüchtlinge zu zeigen. 

„Mich interessieren Randgruppen, daher habe ich auch viel mit Obdachlosen gearbeitet.“ Derzeit widmet sie sich Habseligkeiten von Obdachlosen, die auf der Straße zu sehen sind. Die Menschen zeigt sie diesmal nicht. Wichtig ist ihr ein Projekt im Zoo Leipzig. „Tiere zu fotografieren, ist faszinierend. Nichts ist entspannter.“ Sie erinnert sich an einen Komodowaran im Gondwanaland, wo sie sogar für die richtige Perspektive an einem Seil heruntergelassen und schnell hochgezogen wurde. „Meine große Liebe sind Hunde.“ Stolz ist sie auf ihren Foxterrier, der „noch vom Wolf abstammt.“ Sie reist außerdem gern, darunter oft nach Wien. Ihr Archiv umfasst inzwischen mehr als 25.000 Fotos.

Stand: 26.08.2024

Bildergalerie - Hauptmann, Silvia

Gildoni, Channa

Ehrenbürgerin, Zeitzeugin | geb. am 28. Dezember 1923 in Leipzig, gest. am 9. Mai 2023 in Ramat Gan (Israel)

Sie ist die erste Frau in der langen Liste Leipziger Ehrenbürger: Channa Gildoni, die im Dezember 1923 als Anni Moronowicz in Leipzig geboren wird, erhält diese Ehrung für ihre Verdienste um Versöhnung und Erinnerungskultur. Auf Einladung der Stadt Leipzig besucht sie mit einer kleinen Gruppe im November 1992 erstmals wieder ihre Geburtsstadt. Ihr ist es wichtig, in Gesprächen daran zu erinnern, welche große Rolle die Juden vor der Nazi-Diktatur in Leipzig gespielt haben. 1995 wird sie Vorsitzende des Verbandes ehemaliger Leipziger in Israel. Als Zeitzeugin hat Channa Gildoni viel zur Verständigung beigetragen – bis zu ihrem Tod im Mai 2023.

Geboren wird Anni Moronowicz am 28. Dezember 1923 in der elterlichen Wohnung in der Promenadenstraße (heute Käthe-Kollwitz-Straße). Die Mutter ist Hausfrau, der 1909 aus Polen eingewanderte Vater betreibt ein Geschäft in der Elsterstraße, in dem er von Nähgarn bis zu Möbeln und Brillanten alles verkauft. In Channas Geburtsjahr gibt es in Leipzig eine sehr lebendige Jüdische Gemeinde, der etwa 13.000 Juden angehören. Die Familie ist gut betucht, kann sich ein Haus- und Kindermädchen leisten.

Eine friedliche Kindheit in Leipzig


Der Vater ist aktiv in der Gemeinde, besucht nahezu jeden Tag die
Ez-Chaim-Synagoge in der Otto-Schill-Straße. Als Sechsjährige wird sie in die 41. Volksschule in der Hillerstraße eingeschult. Ab der vierten Klasse wechselt sie auf die Höhere Israelitische Schule, nach ihrem Gründer auch Carlebach-Schule genannt. „Es war ein friedliches Leben, Antisemitismus habe ich nicht gespürt“, erinnert sie sich später. Der Leipziger Verlag Hentrich & Hentrich hat ihr in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ ein Buch gewidmet, in der Sven Trautmann, Gabriele Goldfuss und Andrea Lorz die Lebensgeschichte von Canna Gildoni erzählen.

Flucht über Ungarn nach Palästina


Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird das Leben für die jüdischen Mitbürger in Deutschland zunehmend schwieriger. Die Familie fühlt sich in Leipzig nicht mehr sicher, will nach Palästina auswandern. Doch eine Ausreiseerlaubnis zu bekommen, erweist sich als schwierig. Der Vater wird auch verhaftet, angeklagt wegen Landesverrates, sitzt zwei Jahre unschuldig in Berlin-Moabit und später im Konzentrationslager Oranienburg. Der Grund: Sein Name taucht im Notizbuch eines entlarvten Spions auf, von dem er sich Geld geborgt hat. Jacob Moronowicz kommt aber frei. Sein Geschäft hat er da längst aufgeben müssen.

Das Leben für die jüdische Bevölkerung wird immer unerträglicher. Schließlich kann Jacob Moronowicz im November 1939 aus Leipzig fliehen. Frau und Tochter folgen ihm im April 1940 – zuerst geht es nach Wien, dann nach Ungarn und schließlich nach Tel Aviv. Dort beginnt die Familie ein neues Leben. Vater Jacob handelt mit Textilien.

In Tel Aviv ändert Anni ihren Namen in die hebräische Form Channa. Eigentlich will sie Jura studieren, kann sich diesen Wunsch aber nicht erfüllen. Es fehlen die finanziellen Mittel, aber auch der Schulabschluss. Deshalb arbeitet sie als Krankenschwester. Gleichzeitig tritt sie der Hagna, einer Untergrundorganisation, als Sanitäterin bei. Dort lernt sie ihren Mann Menachem Gildoni kennen, den sie 1945 heiratet. Am 14. Mai 1948 erklärt Israel seine Unabhängigkeit. Das erlebt Channa als Sanitäterin bei der Hagna.

Mit Anfang 30 wird sie schon Witwe, da ihr Mann an einem Herzleiden stirbt, und zieht ihre beiden Kinder allein groß. Zunächst übernimmt sie das Juweliergeschäft ihres Mannes, das sie dann aber verkauft. Sie arbeitet für die Hilfsorganisation Magen David Adom, vergleichbar mit dem Deutschen Roten Kreuz hierzulande. Mehr als 60 Jahre lang ist sie für die Organisation, ebenso wie für die Hagana, im Einsatz.

Ab 1953 organisieren sich ehemalige Leipziger in Israel zu einem Verband, dem sich ebenfalls Menschen in den USA und Großbritannien anschließen. Viele spüren den Wunsch, die alte Heimat noch einmal zu besuchen. Das ist aber erst nach der Friedlichen Revolution möglich. 1992 lädt die Stadt Leipzig erstmals zehn ehemalige jüdische Leipziger samt Begleitperson zu einem Besuch ein. Das Interesse ist groß, die Plätze müssen in Israel sogar verlost werden. Chana Gildoni hat Glück und ist im November 1992 erstmals wieder in ihrer Geburtsstadt. „Leipzig ist unsere Geburtsstadt, aber nicht mehr unsere Heimat“, betont Channa Gildoni damals im Gespräch der LVZ.

Viel Engagement für Erinnern und Aussöhnen


Von da an kommt sie regelmäßig, wird 1995 Vorsitzende des Verbandes ehemaliger Leipziger in Israel. Sie engagiert sich für die deutsch-israelische Aussöhnung. Als Zeitzeugin, die die noch die lebendige jüdische Gemeinde der Zwanzigerjahre in Leipzig erlebt hat, spricht sie in Schulklassen über ihre Erlebnisse. Ihre Erinnerungen fließen in verschiedene Buchprojekte. Wichtig ist ihr, dass das Unrecht nicht in Vergessenheit gerät, wenn die Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind. Im Jahr 1999 erhält sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Für ihre Verdienste um Versöhnung und Erinnerungskultur bekommt sie das Bundesverdienstkreuz und die Ehrennadel der Stadt Leipzig verliehen.

2019 kommt sie das letzte Mal nach Leipzig, die Reise ein Jahr später muss aufgrund von Corona abgesagt werden. Sie bleibt im telefonischen Kontakt mit den Freunden aus Leipzig und fühlt sich hier willkommen. Ende Oktober 2022 reist Oberbürgermeister Burkhard Jung mit einer kleinen Delegation in die Partnerstadt Herzliya und überreicht der betagten Dame im Yitzhak Rabin Centre in Tel Aviv persönlich die Ehrenbürgerschaft – die höchste Auszeichnung der Stadt Leipzig. Am 9. Mai 2023 ist Channa Gildoni in Ramat Gan in der Nähe von Tel Aviv – dort lebte sie im betreuten Wohnen – gestorben.

„Channa Gildoni glaubte an das Gute im Menschen. Trotz aller Schrecken, die sie in den 1930er-Jahren in Leipzig erleben musste, setzte sie sich für die Aussöhnung mit Deutschland ein“, würdigt sie Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung: „Sie war eine große Brückenbauerin, die die Verbindung in ihre alte Heimatstadt nie abreißen ließ.“

Stand: 16.01.2025

Bildergalerie - Gildoni, Channa

Eisenbahnobelisk

Goethestraße / Oberer Park | Ortsteil: Zentrum

Der Eisenbahnobelisk befindet sich im Oberen Park am Schwanenteich hinter dem Opernhaus an der Goethestraße. Er erinnert an den Bau und die Eröffnung der Leipzig-Dresdner Eisenbahn im Jahr 1939 als erste deutsche Fern-Eisenbahnstrecke von Leipzig über Oschatz und Riesa nach Dresden. Das Denkmal wurde auf Initiative von Wilhelm Theodor Seyfferth und nach Entwürfen des Architekten Carl Gustav Aeckerlein aus Rochlitzer Porphyr errichtet und am 20. Oktober 1878 eingeweiht.

Von der Postkutsche zur Eisenbahn


Leipzig spielt eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Eisenbahn. Der Volkswirtschaftler
Friedrich List formulierte bereits im Jahr 1833 seine Pläne für ein sächsisches Eisenbahn-System und stellte Leipzig und die Region durch ihr flaches, festes Terrain als idealen Ausgangspunkt heraus. Inspiriert vom amerikanischen Eisenbahnwesen, gelang es List, den Leipziger Unternehmern und Kaufleuten die Bedeutung des Schienenverkehrs für die Entwicklung der Messe- und Handelsstadt näherzubringen. In Zusammenarbeit mit Carl Lampe, Gustav Harkort, Wilhelm Theodor Seyfferth und Albert Dufour-Feronce gründete Friedrich List die Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie. Der Startschuss für den Bau der Strecke Leipzig-Dresden fiel im Jahr 1936. Nur ein Jahr später, am 24. April 1837, legte die Lokomotive „Blitz“ mit insgesamt acht Wagen ihre Jungfernfahrt vom Dresdner Bahnhof in Leipzig bis nach Althen östlich der Stadt zurück. Der erste Meilenstein der Eisenbahn war gelegt. Der Ausbau der gesamten Strecke von Leipzig über Wurzen, Oschatz und Riesa nach Dresden war am 7. April 1839 beendet. Die Fahrtzeit auf der 116 Kilometer langen ersten deutschen Fern-Eisenbahnstrecke von Leipzig nach Dresden betrug nur noch drei Stunden und vierzig Minuten im Vergleich zur vorherigen zweitägigen Postkutschenfahrt.

Seit der Eröffnung der Leipzig-Dresdner Eisenbahn im Jahr 1839 wurde die Weiterentwicklung der Eisenbahn stetig vorangebracht. Dazu zählten die Inbetriebnahme des Bayerischen Bahnhofs 1842 als heute ältester erhaltener Kopfbahnhof der Welt sowie die feierliche Eröffnung des Leipziger Hauptbahnhofes von der Sächsisch-Königlichen Staatseisenbahn und der Preußischen Staatseisenbahn 1915. Noch heute prägen die Eisenbahnspuren auch abseits der Stationen und Bahndämme das Stadtbild. In der Eisenbahnstraße befand sich vor der Versetzung der Bahnanlagen in Richtung Norden einst der ursprüngliche Gleiskörper der Dresder Bahnstrecke. Heute rollen mehrere Straßenbahnlinien der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) durch die Straße. In die Fassade des Kosmoshauses in der Gottschedstraße eingelassen, befindet sich neben diversen Symbolen der Kommunikation und des Verkehrswesens eine Dampflok. Heute beherbergt das Kosmoshaus das Hotel INNSIDE by Meliá Leipzig. Oberhalb der Einfahrt in Oelßners Hof in der Ritterstraße ist in der unteren rechten Ecke innerhalb des prachtvollen Wappens ein Güterzug abgebildet, welcher durch einen Tunnel fährt.

Statt Riesaer Hügel Leipziger Schwanenteich: der Obelisk entsteht


An den Bau der ersten deutschen Fernbahnstrecke Dresden-Leipzig zwischen 1836 und 1839 erinnert in direkter Nachbarschaft zum Hauptbahnhof auch der Eisenbahnobelisk in der Schwanenteichanlage hinter dem Opernhaus. Das Denkmal entstand anlässlich des Übergangs der privat geführten Leipzig-Dresdner Eisenbahncompagnie in Staatshände im Jahr 1878. Der diesem Übergang zugrundeliegenden Bürgerinitiative sollte ein Denkmal gesetzt werden in Erinnerung daran, dass die Leipziger Bürger ohne fremde Unterstützung und aus eigener Kraft heraus den ersten großen Schienenweg Deutschlands eröffneten. Nach dem Wunsch des Bankiers und Mitglied des Eisenbahndirektoriums Wilhelm Theodor Seyfferth sollte dieses in Form eines Obelisken auf einem Hügel nahe Riesa in Erinnerung an die Eisenbahnstrecke entstehen. Der Rat zu Leipzig konnte Seyfferth stattdessen von einem Standort in Leipzig überzeugen. In der Folge erhielten der Architekt
Carl Gustav Aeckerlein und der Gartenbaudirektor Otto Carl Wittenberg von der Stadt den Auftrag zur Unterbreitung von Vorschlägen für einen geeigneten Standort. Neben der zwischen Bahnhof und Neuem Theater, heute Opernhaus, gelegenen Goethestraße standen auch der Roßplatz sowie der Platz vor dem Leipzig-Dresdner Bahnhof zur Debatte. Die Wahl fiel schließlich auf die Goethestraße. Begründet wurde diese Entscheidung mit der Nähe zum Bahnhof sowie der Tatsache, dass der Bahnhofsvorplatz kein städtisches Eigentum war und durch den anvisierten Bau der Staatsbahn ein möglicher Abbruch des Denkmals befürchtet wurde.

Das überlebensgroße Denkmal aus Rochlitzer Porphyr wurde nach Entwürfen auf einem runden Podest aus Beuchaer Granit errichet und am 20. Oktober 1878 eingeweiht. Die zur Goethestraße gerichtete Westseite trägt die Inschrift „Leipzig-Dresdner Eisenbahn“. Auf Bronzetafeln an allen vier Seiten des Obelisken befinden sich Inschriften zur Geschichte, wichtigen Initiatoren und Wegbereitern der Eisenbahnstrecke. Im Jahr 1966 musste der Eisenbahnobelisk im Zuge der Verbreiterung der Goethestraße auf eine weniger prominente Rasenfläche am Straßenrand versetzt werden. 2015 kehrte das Denkmal an seinen ursprünglichen Standort zurück.

Stand: 10.11.2024

Bildergalerie - Eisenbahnobelisk

Historisches Bildmaterial - Eisenbahnobelisk

Dittrich, Gotthard

Diplomökonom, Schulgründer, Stifter | geb. am 29. März 1954 in Nienburg/Weser

Leipzig ist die Wiege seiner Bildungsvisionen. Hier arbeitet Gotthard Dittrich, der Chef der Rahn Education, unermüdlich daran, die Idee weltoffener Bildungsprojekte zu verwirklichen und in andere Länder zu tragen. Am 16. März 1990 gründet Dittrich mit Partnern eine gemeinnützige Schulgesellschaft. Mittlerweile ist daraus ein mittelständisches Unternehmen geworden, das in der Messestadt Leipzig den Bildungscampus im Graphischen Viertel betreibt.

Geboren wird Gotthard Dittrich am 29. März 1954 in Nienburg an der Weser. Er wächst in einfachen Verhältnissen auf und besucht dort die Volksschule. Anschließend macht er eine Ausbildung zum Kaufmann an der Handelsschule Dr. Paul Rahn in Nienburg. In Hannover legt er schließlich am Wirtschaftsgymnasium das Abitur ab. In den 1970er Jahren studiert er an der Bremer Hochschule für Sozialpädagogik und Sozialökonomie. Er wählt das Fach Sozialökonomie, das sich allerdings als Studium der Ernährungswissenschaften erweist. Daher hängt er noch zwei Semester Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bremen an.

Ein Besuch auf der Leipziger Messe


Schon während des Studiums arbeitet er in einem Handelsunternehmen, das norwegische Produkte in Deutschland vertreibt. Das wird allerdings unrentabel, da Norwegen einen Beitritt zur Europäischen Union ablehnt. 1983 besucht er die
Leipziger Messe und findet einen Ausweg: Er vermittelt für die Firma Kompensationsgeschäfte mit der damaligen DDR. Dafür verlegt er 1984 sogar seinen Wohnsitz nach Altenburg bei Leipzig. Gemeldet ist er auch in Westberlin, da er dadurch unkomplizierter als ein Bundesbürger einreisen kann. Im Februar 1990 wird Dittrich Staatsbürger der DDR, damit er leichter eine Firma gründen und Kapital in DDR-Mark einbringen kann. Mit der Einheit Deutschlands erledigen sich die Kompensationsgeschäfte allerdings von selbst.

Der Aufbau der Wirtschaftsakademie


Dittrich hat immer Handel-Seminare an der Rahn-Schule in Nienburg gehalten. Nun beginnt er für diese mit dem Aufbau von privaten Handelsschulen in den neuen Bundesländern. Ziel ist es, den Bedarf nach kaufmännischem Wissen zu befriedigen. Los geht es 1990 zunächst mit einer Wirtschaftsakademie in Leipzig, die Umschulungen und berufliche Fortbildungen anbietet. Die gibt es heute noch ebenso wie die Schulgesellschaft, die mit einer berufsbildenden Schule in der Kochstraße startet. Daraus entwickelt sich schließlich die gemeinnützige Rahn Education, eine Unternehmensgruppe, mit Hauptsitz in Leipzig. Dazu gehören mehrere Firmen.

1995 entsteht die Idee, Pädagogen der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ zum Gespräch einzuladen, um über Konzepte für eine Schule mit musikalisch-künstlerischer Ausrichtung zu reden. Das Resultat: ein Konzept für die Freie Grundschule „Clara Schumann“ im historischen Schumann-Haus in der Inselstraße 18. Die Schulgründung wird nur möglich, da im Freistaat Sachsen von den staatlichen Schulbehörden nichts Vergleichbares angeboten wird. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet und auch vom damaligen Leipziger Opernintendanten Udo Zimmermann als Schirmherrn gefördert. Die Genehmigung erfolgt 1997.

Ein Bildungscampus im Graphischen Viertel


Mittlerweile ist die Grundschule „Clara ‚Schumann“ längst Teil eines Bildungscampus mit Musikschulen, Kindertagesstätten, Gymnasium sowie Oberschule. „Ich bin selbst manchmal überrascht, wie sich das alles entwickelt hat“, bekennt Diplomökonom Dittrich, der sich als Ideengeber sieht und den Bau neuer Häuser koordiniert. „Für die Bildungsprojekte hole ich mir Partner vom Fach.“ Der Bildungscampus zwischen Salomon- und Inselstraße im Graphischen Viertel mit rund 2.000 Kindern und Jugendlichen ist das Herzstück des Unternehmens geworden.

Ein außergewöhnliches Projekt wird ebenfalls das Gymnasium im brandenburgischen Stift Neuzelle (Landkreis Oder-Spree) an der polnischen Grenze. Das Besondere: An der Ganztagsschule wird bilingual Deutsch und Polnisch unterrichtet. Durch das zum Kloster gehörige Internat können dort auch Kinder lernen, deren Eltern nicht in Deutschland leben. Insgesamt werden Schüler aus 20 Nationen betreut.

Die ersten Auslandsaktivitäten der Rahn Education starten 1993 in Zielona Góra in Polen. Dort werden eine Grundschule mit musikalisch-künstlerischer Ausrichtung sowie ein Gymnasium eingerichtet, an dem die Schüler auch das deutsche Sprachdiplom ablegen können. Zu Neuzelle entsteht eine deutsch-polnische Bildungsbrücke.

Eine eigenständige Schule in Kairo


Ein besonderes Augenmerk legt Dittrich auf die ägyptische Hauptstadt Kairo. Dort gibt es die eigenständige Rahn-Schule Kairo, an der nach brandenburgischem Curriculum unterrichtet wird. Für ihre Absolventen besteht die Möglichkeit, in Neuzelle bei einer zweijährigen zusätzlichen Ausbildung das deutsche Abitur abzulegen. Seit 2003 existiert die Hotelfachschule Paul Rahn in El Gouna am Roten Meer. Dort fahren sogar Vertreter der Leipziger Industrie- und Handelskammer (IHK) hin, um Prüfungen abzunehmen. „Dadurch erwerben die Jugendlichen einen Abschluss, der auch in Deutschland anerkannt ist“, erläutert Dittrich. Aufgrund des Fachkräftemangels gewinnt das zusehends an Bedeutung. Einige kommen nach Leipzig, um hier in der Gastronomie zu arbeiten. Rahn Education betreibt auch im Auftrag der Schweiz eine Schule in Mailand sowie in Cadorago am Comer See.

Eine Herzensangelegenheit ist es für Dittrich, das Polnische Institut – seit 1969 fester Bestandteil der Leipziger Kulturszene – in Leipzig zu erhalten. Diesem droht die Schließung. Die Rettung ist nur möglich, weil die Europäische Stiftung der Rahn Dittrich Group für Bildung und Kultur das Institut als Untermieter beherbergt. In den Räumen der Stiftung am Markt 10 ist inzwischen ebenso das neue Partnerstadtquartier der Stadt Leipzig untergekommen.

An seinen Standorten beschäftigt das Unternehmen Rahn Education ca. 1.100 Mitarbeiter, die über 800 Lernende betreuen. Zum Portfolio gehören Kindertagesstätten, Grundschulen, Sekundar- und Oberschulen und Gymnasien, Fachoberschulen, Studienkollegs, Berufsbildungszentren sowie Musik- und Sprachschulen. Es gibt rund 40 Bildungseinrichtungen in Deutschland, Ägypten, Italien und Polen. 

Auf dem Bildungscampus in Leipzig entstand das Café Salomon, das ursprünglich koschere Küche nicht nur für jüdische Mitbürger anbot. Es musste aber schließen. Ende Februar 2025 eröffnete dort die Stullenfabrik, ebenfalls mit einem innovativen Konzept.

Stand: 13.01.2025

Bildergalerie - Dittrich, Gotthard

Deutsches Fotomuseum

Raschwitzer Straße 11-13 | Markkleeberg

Ob Hobby-Fotograf, Geschichtenliebhaber oder Wissbegieriger – im Deutschen Fotomuseum kommen alle ins Staunen. Im agra-Park in Markkleeberg gelegen, kann hier die faszinierende Entwicklung der Fotografie ab 1839 entdeckt werden.

Von den Anfängen in Mölkau


Seine Ursprünge findet das heutige Deutsche Fotomuseum im Leipziger Stadtteil
Mölkau. Hier erwarb der Gründer Peter Langner 1983 ein Grundstück, auf dem er mit seiner Frau am 19. August 1989 schließlich das sogenannte Fotokabinett eröffnete. Der Name war den DDR-Bedingungen geschuldet, die es ihnen verbat, ihre private Ausstellung „Museum“ zu nennen. Das Kabinett konnte die Wende überstehen, musste jedoch 1992 aufgrund von Krankheit schließen. Nur zwei Jahre später, nach dem Tod des Museumsgründers, eröffnete Kerstin Langner 1994 gemeinsam mit dem Kurator Andreas J. Mueller das Kamera- und Fotomuseum Mölkau. Ein neues Konzept verband Technik mit Historie und Kunst. Doch die beeindruckende historische Sammlung sprengt den Platz des Fachwerkhauses in Mölkau und es musste etwas Neues gefunden werden. Fündig wurde man schließlich in Markkleeberg.

Ein Bauwerk mit Geschichte


Doch nicht nur das Museum hat Geschichte, auch das Gebäude, das es heute sein Zuhause nennt. Es wurde Ende der 1990er Jahre im alten Herfurthschen Landschaftspark in Markkleeberg erbaut, wo sich heute der agra-Park befindet. Das Museumsgebäude zeichnet sich durch eine Fensterfront zum Park und eine riesige Rotunde aus, wodurch es an das New Yorker Guggenheim-Museum erinnert. Der Grund des Baus war eine Sammlung von Landwirtschaftsmaschinen, die hier als ein zweiter Teil des Deutschen Landwirtschaftsmuseums Stuttgart-Hohenheim gezeigt wurde. 2001 wurde die Sammlung jedoch geschlossen und sollte 2003 mit einem neuen Konzept wieder eröffnen. Doch durch Kürzungen der Gelder wurde das Vorhaben schließlich gestoppt.

Danach wurde es das Zuhause von Repliken der chinesischen Terrakotta-Krieger. Die Galeristen Hannelore und Roland Freyer eröffneten hier die Dauerausstellung „Center of Chinese Arts and Culture“ zu chinesischer Kulturgeschichte. Bis zum November 2005 verweilten die wertvollen Figuren hier, danach ging es für sie weiter auf Tournee durch Europa. Das hieß für das Gebäude allerdings auch Leerstand für einige Jahre. Doch 2013 schließlich zog das jetzige Museum ein. Die Eröffnung des Deutschen Fotomuseums fand am 27. August 2013 statt, bevor im November 2014 auch die neuen Räume für die Sonderausstellungen eröffnete.

Ein Rundgang durch das Museum


Betritt man das Foyer des Museums, steht man auch schon mittendrin in der Welt der Fotografie – alte Fotoalben hinter dem Ticketschalter, Vitrinen mit Technik und Diaprojektoren und alte Kameras. Geht man nach links weg, erschließt sich der Raum für Kabinettausstellungen. Rechter Hand befindet sich ein Café mit integriertem Shop für Fotobücher und -postkarten. Dahinter schließt sich der Raum für die jeweilige Sonderausstellung an.

Zurück im Foyer befindet sich die Dauerausstellung mit dem Namen „Fotofaszination“ in der nicht übersehbaren Rotunde. Dabei kommt man an einer Reprokamera aus dem Jahr 1895 vorbei. Daran schließt sich eine schiefe Ebene an, die sich spiralförmig nach oben windet und die Ausstellung über technische, kulturhistorische und künstlerische Entwicklung der Fotografie ab 1839 beherbergt.

Der Rundgang nach oben beginnt mit dem ersten Teil, in dem sich alles um das 19. Jahrhundert dreht. Hier werden frühe Portraits, alte Stadtansichten von Leipzig, Reisefotografien und Kunstfotografie gezeigt. Gelangt man in den 1. Stock, findet man sich in einer Ateliersituation um 1900 wieder. Neben Kameras und Portraits gibt es alte Dunkelkammerrequisiten und Kopierautomaten.

Weiter die Wendelstiege nach oben befindet sich der 2. Teil der Ausstellung, das 20. Jahrhundert. Neben Portraits folgen hier auch Bilder der Naziherrschaft, das kriegszerstörte Leipzig und Fotografien aus der DDR. Im 2. Stock befindet sich eine Hommage an den Gründer Peter Langner, aber auch Aktfotografien sowie Kameras und Fotozubehör.

Insgesamt umfasst die Sammlung ca. 5.000 Kameras und 70.000 Bilder. Die Schwerpunkte reichen von Fotografien aus dem 19. Jahrhundert, über Klassiker der Fotografiegeschichte und Fotografien aus der DDR, bis hin zu erotischer Fotografie und zeitgenössischer internationaler Fotokunst.

Mit seiner Kombination aus Technik und Kunst ist das Deutsche Fotomuseum das einzige seiner Art in Deutschland und darf sich demnach zu recht so nennen. Auch der Standort tut sein Übriges dazu, ist doch die Region rund um Leipzig ein historisches Zentrum der Kameraindustrie und Fotoverlage. Betreiber des Museums ist bereits seit 1994 der Kamera- und Fotomuseum Leipzig e.V., die Betreuung und Pflege übernehmen nach wie vor die Kuratorin Kerstin Langner und der Direktor Andreas J. Mueller.

Langner – Fotograf, Sammler, Museumsgründer


Peter Langner studierte von 1968 bis 1973 an der
Hochschule für Grafik und Buchkunst. Er war Diplomfotograf und Sammler und organisierte in den 1980er Jahren große Ausstellungen zur Geschichte der Fotografie in Leipzig, Berlin und Paris. Nebenher sammelte er über 20 Jahre historische Kameras und Zubehör. Mit der Eröffnung seines Kabinetts konnte er diese endlich der Öffentlichkeit zeigen. Jedoch erkrankte er 1992 schwer und starb schließlich 1994.

Stand: 18.01.2025

Der Jahrhundertschritt

Grimmaische Straße 6 | Ortsteil: Zentrum

Sie dient vielen als Fotomotiv. Die Bronzeplastik vor dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig in der Grimmaischen Straße 6 lässt darüber hinaus viel Raum für Diskussionen und Interpretationen. Das hat der Künstler Wolfgang Mattheuer beabsichtigt, der mit dem „Jahrhundertschritt“ ein Symbol für die Menschheit geschaffen hat, die zwischen den Ideologien zerrissen wird, und die versucht, daraus zu lernen und vorwärts zu kommen. Dabei tritt die Skulptur ihren Betrachtern durchaus aggressiv entgegen.

Die Skulptur zeigt eine gedrungene Gestalt, die einen ausladenden Schritt nach vorn macht. Mit einem Bein drängt die Figur vorwärts, das andere Bein steckt in einem schweren Soldatenstiefel, bremst sie förmlich ab. Die Gestalt hebt den rechten Arm zum Hitlergruß, während der linke Arm als Faust nach oben gereckt ist. Das erinnert an die Kommunistenfaust. Der Kopf hingegen ist in einer Art Uniformjacke verschwunden.

Ein Volk zwischen zwei Diktaturen


Die Plastik stammt aus dem Jahr 1984. Eine erste Präsentation der bemalten Gipsfassung erfolgt auf der 11. Bezirkskunstausstellung 1986 in Leipzig. Der „Jahrhundertschritt“ taucht jedoch schon früher in den Werken Mattheuers auf. Er ist wohl seine persönliche Bilanz des 20. Jahrhunderts: Ein Volk ist hin- und hergerissen zwischen zwei Diktaturen.

1987/88 wird das Werk bei der zehnten Kunstausstellung der DDR in Dresden gezeigt. Das Publikum kürt es zum wichtigsten Werk der DDR-Ausstellung, die durch die Friedliche Revolution die letzte sein wird. Ein Jahr davor, am 7. Oktober 1988, tritt Mattheuer aus der SED aus, der er seit 1958 angehört. Er ist ein aktiver Teilnehmer der Leipziger Montagsdemonstrationen. Gegen Ende der DDR wird Mattheuer, der von der DDR-Staatssicherheit seit den 1960er Jahren beobachtet wird, als Staatsfeind eingestuft.

Stiftung erinnert an Schaffen Mattheuers


Mattheuer ist ein Vertreter der Kunstrichtung Leipziger Schule. Die Plastik „Der Jahrhundertschritt“ ist das Hauptwerk des Künstlers, der 2004 in Leipzig verstorben ist. Weitere Abgüsse der Skulptur befinden sich in Oberhausen, in Halle sowie im Innenhof des Museums Barberini in Potsdam. Versionen stehen in Berlin sowie vor dem Haus der Geschichte in Bonn, zu dem das Leipziger Zeitgeschichtliche Forum gehört.

In Leipzig gibt es eine von seiner Ehefrau Ursula Mattheuer-Neustädt im Jahre 2006 geschaffene Stiftung. Ihr Anliegen und Zweck ist es, das künstlerische Werk beider Künstler zu bewahren, wissenschaftlich zu bearbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Stiftung befindet sich in der Hauptmannstraße 1. In ihrem Besitz befinden sich zahlreiche Gemälde, Plastiken, Zeichnungen und grafische Blätter aus dem Nachlass von Wolfgang Mattheuer sowie das gesamte künstlerische Schaffen von Ursula Mattheuer-Neustädt.

Am Postament der Bronzeplastik befindet sich eine Hinweistafel mit den folgenden Zeilen:

Der Jahrhundertschritt von Wolfgang Mattheuer
symbolisiert das Verhältnis der Deutschen
zu den beiden totalitären Systemen im 20. Jahrhundert.
Der Erwerb wurde möglich durch
durch die großzügige Unterstützung der DePfa Bank AG.
Zur Geschichte von Diktatur und Widerstand in der DDR
erfahren Sie Näheres in der Dauerausstellung
des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig.

Der Eintritt ist frei.

Stand: 16.12.2024

Bildergalerie - Der Jahrhundertschritt

Denkmal der Panzerspuren

Salzgässchen | Ortsteil: Zentrum

Das Denkmal der Panzerspuren befindet sich im Salzgässchen zwischen Riquet-Haus und Markt auf Höhe der Alten Handelsbörse. In den Boden sind unscheinbar und dezent jeweils zwei Meter lange und 40 Zentimeter breite Spuren des sowjetischen Panzers des Typs T-34 in Form von Bronzeplatten eingelassen. Das Mahnmal erinnert an den DDR-Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Bis zu 80.000 Demonstranten strömten an diesem Tag in Leipzig ins Stadtzentrum, wo sie für ihre demokratischen Freiheiten und bessere Lebensbedingungen gegen das Regime protestierten. Der Aufstand wurde von der Polizei und der Sowjetarmee gewaltsam niedergeschlagen. Das Denkmal der Panzerspuren wurde 50 Jahre später am 9. November 2003 von einem eigens für diesen Zweck gegründeten Verein eingeweiht. Seitdem erinnert es an den Mut der Aufbegehrenden von 1953 sowie an den Wert der Freiheit.

Panzerspuren aus Bronze am Alten Rathaus


Die in Bronze gegossenen und auf dem Fußweg in das Pflaster eingelassenen Abdrücke fallen nur bei genauerem Betrachten auf. Bei dem Denkmal der Panzerspuren handelt es sich um eines von Leipzigs unscheinbarsten Denkmälern. Als Mahnmal erinnern die Abdrücke der Panzerketten an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, bei welchem sowjetische Panzer des Typs T-34 durch die Leipziger Innenstadt rollten. An diesem Tag fanden in mehr als 700 Orten der DDR Protestaktionen gegen das Regime statt. Seit dem Morgen des 17. Juni 1953 strömten in Leipzig zehntausende Demonstranten aus allen Richtungen ins Stadtzentrum, wo sie für ihre demokratischen Freiheiten und bessere Lebensbedingungen protestierten. Das Aufbegehren richtete sich gegen die politische Organisation, welche als Teil des Machtapparats der SED fungierte. Die Demonstranten forderten unter anderem den Wegfall von Zollgrenzen, geheime und freie Wahlen, den Rücktritt
Walter Ulbrichts sowie die Freilassung aller politischen Häftlinge. Es wurden zentrale Verwaltungsgebäude besetzt, darunter die FDJ-Zentrale, einige zum Teil schwer beschädigt. Ein Teil der Demonstranten versuchte, in die Haftanstalt an der Beethovenstraße einzudringen. Der Aufstand fand – entgegen von Behauptungen der DDR-Machführer – ohne zentrale Führung statt und wurde erst in den Abendstunden durch die Präsenz der sowjetischen Panzer unterbunden. Allein in Leipzig kostete das brutale Vorgehen der Polizei und der Sowjetarmee gegen die bis zu 80.000 Demonstranten dreizehn Menschen das Leben, knapp 100 weitere wurden verletzt. Die Todesopfer wurden von der Stasi heimlich eingeäschert und die Urnen im hintersten Winkel des Südfriedhofs unauffällig bestattet.

Das Denkmal der Panzerspuren – auch Panzerkettendenkmal genannt – erinnert noch heute an den Mut der Aufbegehrenden. An der Stelle des Denkmals am Markt befand sich ein Pavillon der Nationalen Front auf einem kriegszerstörten Grundstück im Salzgässchen, welcher von Protestanten angezündet wurde.

Mit dem Ziel der Errichtung eines Denkmals in Erinnerung an den 17. Juni 1953 wurde ein Förderverein gegründet, welcher im Jahr 2003 ein solches Mahnmal installieren ließ: In den Boden gelassene Bronzeplatten symbolisieren seitdem die jeweils zwei Meter langen und 40 Zentimeter breiten Spuren der sowjetischen Panzer, welche das Rohr auf den Markt gerichtet hatten. Das Denkmal wurde 14 Jahre nach der Friedlichen Revolution und 50 Jahre nach dem Volksaufstand am 9. November 2003, dem Tag des Mauerfalls 1989, eingeweiht. Es wurde bewusst dezent gehalten und markiert vergangenes, aber nicht vergessenes Geschehen in Leipzig. Dem ebenerdigen Denkmal liegt der Gedanke zugrunde, dass darauf gesellschaftliches Leben stattfindet. Passanten laufen seither sinnbildlich als freie Menschen ungehindert über die Spuren der Gewalt hinweg. Während der Leipziger Markttage oder des Leipziger Weihnachtsmarktes fällt es zwischen den zahlreichen Hütten gar nicht auf. Die Panzerspur soll jedoch auch künftige Generationen an den Wert der Freiheit erinnern, in der sie heute leben.

Stand: 13.01.2025

Bildergalerie - Denkmal der Panzerspuren

Brodyer Synagoge

Keilstraße 4 | Ortsteil: Zentrum-Nord

Mit ihren bunt verglasten Fenstern und den geometrischen Davidstern-Mustern an der Decke ist sie eine Besonderheit. Die Brodyer Synagoge wird in der Pogromnacht 1938 nicht angezündet, weil sich die Gebetsräume in einem Wohnhaus befinden. Die Nationalsozialisten befürchten, dass das Feuer auf Wohnungen übergreifen könnte, in denen „Arier“ leben. Ein von SA-Leuten gelegter Brandherd kann von beherzten Anwohnern gelöscht werden. Gerettet hat das die Synagoge zwar nicht, denn der Innenraum wird demoliert und die Bleiglasfenster werden zerstört. Doch die Synagoge hat den Krieg überlebt und ist danach wieder hergerichtet worden. In altem Glanz erstrahlt sie seit 1993 – damals konnte sie mit Hilfe der Stadt Leipzig restauriert werden.

Ihr Name geht auf Kaufleute aus Brody (Galizien, heute Ukraine) zurück. Diese jüdischen Pelzhändler spielen auf den Leipziger Messen eine große Rolle. Bereits 1763/64 richten sie am Brühl einen eigenen Gebetsort ein, die sogenannte Brody Schul – nach einem jiddischen Wort für Synagoge.

Ende des 19. Jahrhunderts kommen immer mehr ostjüdische Einwanderer nach Leipzig, der Platz im Gebetsraum ist knapp. Der Wunsch, eine eigene, größere Synagoge zu bekommen, wächst bei den orthodoxen Juden. Das Platzangebot in der Großen Gemeindesynagoge an der Gottschedstraße, die es bereits seit 1855 gibt und die zudem liberal ausgerichtet ist, reicht ohnehin nicht mehr aus.

Talmud-Thora-Verein baut einen Betsaal


Ein Lichtblick kommt mit dem jüdischen Holzhändler
Friedrich Gutfreund. Der Plagwitzer Kaufmann erwirbt um 1900 das Doppelwohnhaus in der Keilstraße 4-6. Er möchte das Erdgeschoss zu einem Betsaal umbauen. Doch die Pläne scheitern. Erst der Talmud-Thora-Verein, den jüdische Wirtschaftsleute wie Samuel Kroch und Alexander Landau gründen, kann das Vorhaben umsetzen.

Der Verein erwirbt den Komplex im April 1903, schon zwei Monate später beginnen die Umbauarbeiten. Pläne dafür stammen vom Architekten Oscar Schade. Um eine ausreichende Raumgröße für die Synagoge zu schaffen, wird die Decke zwischen Erdgeschoss und erstem Obergeschoss entfernt. So können Emporen eingebaut werden. Der Fußboden wird abgesenkt, in der Vorhalle das rituelle Handwaschbecken eingebaut. Der Thoraschrein kommt an die Ostseite des Raumes, die Jerusalem zugewandt ist. In der Raummitte entsteht die Bima. Das ist eine Art Podium, auf dem das Pult für den Vorbeter und die Thoralesung steht.

In der zweiten Etage des Wohnhauses ist Platz für eine Bibliothek samt Lesezimmer. Dort entsteht die Dienstwohnung für Rabbiner Ephraim Carlebach. Im dritten Geschoss werden Unterrichtsräume eingerichtet. Schon im September 1903 gibt das Bauordnungsamt die Talmud-Thora-Synagoge zur Nutzung frei, damit jüdische Leipziger ihre hohen Feiertage begehen können. Offiziell eingeweiht wird das Gotteshaus dann im März 1904. Die Bezeichnung Brodyer Schul oder Brodyer Synagoge bleibt bei den Betenden aber weit verbreitet. Heute wird sie meist nur noch Gemeindesynagoge genannt.

Wohngebäude wird zwangsversteigert


Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ist das Schicksal der Synagoge besiegelt. Anders als andere jüdischen Gotteshäuser geht sie zwar nicht in Flammen auf. Doch da der Talmud-Thora-Verein eine Hypothek nicht bedienen kann, wird das Gebäude 1937 zwangsversteigert. Bereits am 30. Juni 1937 wird das Gebäude im Zuge der Arisierung von einer Grundstücksverwaltung-Treuhand-AG übernommen. Die steht allerdings dem jüdischen Bankhaus Kroch nahe, das seinen Sitz im
Krochhochhaus am Augustusplatz hat. Auf Druck der Gestapo muss die Firma im Juni 1942 daher den Mietvertrag kündigen. Die Immobilienfirma beauftragt das Versteigerungshaus Klemm, das noch vorhandene Inventar zu versteigern. Nach der Zerstörung des Betraums wird dieser bis 1945 als Lagerhalle für Lacke und Farben missbraucht. Der Leipziger Historiker Steffen Held hat die Geschichte der Synagoge näher erforscht.

Synagoge wird neu geweiht


Nach dem Zweiten Weltkrieg bekommen die sich neu konstituierenden Mitglieder der Israelitischen Religionsgemeinde ihre Synagoge zurück. Am 28. Oktober 1945 wird das Gotteshaus wieder geweiht. Die Gemeinde erhält als Leihgabe 250 Stühle aus dem
Gohliser Schlösschen. Barnet Licht gelingt es, einen Synagogenchor zu gründen. Einen Rabbiner kann die Gemeinde vorerst nicht verpflichten. Die Synagoge wird der Wirkungsort von Werner Sander, der 1950 als Kantor an die Israelitische Religionsgemeinde berufen wird und bis zu seinem Tod 1972 sowohl den Leipziger Synagogalchor als auch die Gottesdienste leitet.

Die Gemeinde leidet schon in den letzten Jahren der DDR an Überalterung – im Juni 1991 gibt es nur noch 35 Mitglieder. In den Jahren nach der Friedlichen Revolution ändert sich das. Ein Grund dafür ist die Einwanderung russischer Juden nach Leipzig, die als sogenannte Kontingentflüchtlinge kommen. In ihrer Heimat sind sie Repressionen und Verfolgungen ausgesetzt. 1993 kann die Originalfassung des Betsaal-Innenraums denkmalgerecht wiederhergestellt werden. Das gelingt mit Fördermitteln vom Bund und der Stadt Leipzig. Die Synagoge wird am 22. Mai 1993 zum dritten Mal geweiht.

Mit jüdischen Einwanderern wächst Raumbedarf


Doch durch den Zustrom jüdischer Einwanderer wird das Gotteshaus wiederum zu klein. Die Israelitische Religionsgemeinde erweitert die Empore ihrer Synagoge daher um etwa 100 Plätze auf insgesamt 320. Dadurch verbessern sich die Bedingungen für das religiöse Leben der Gemeinde spürbar. Hilfe für die Erweiterung im Jahre 2001 gibt es von der Stadt Leipzig sowie dem Förderverein Synagoge und Begegnungszentrum Leipzig. Sie fördern auch den Ausbau des
Ariowitsch-Hauses als jüdisches Kultur- und Begegnungszentrum. Im Jahr 2025 gehören der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig etwa 1.100 Mitglieder an. Gemeinderabbiner ist Zsolt Balla.

Stand: 16.01.2025

Bleichert-Werke

Lützowstraße 34 und Wilhelm-Sammet-Straße 17-29 und 91-93 | Ortsteil: Gohlis-Mitte

Bei jeder Fahrt mit der S-Bahn oder dem RegionalExpress vom Hauptbahnhof in Richtung Leipzig-Gohlis taucht kurz vor der Station auf der rechten Seite ein langgestrecktes weißes Bauwerk auf. Die Anmutung von Industriearchitektur wird durch die Metallskulptur einer Schwebebahn-Kabine und einen Schriftzug in rostroter Stahl-Optik unterstrichen: Bleichert-Werke. Indes, gefertigt wird schon lange nichts mehr in der einstigen Weltmarktfabrik. Bleichert-Werke – das ist nach Jahren des intensiven Umbaus heutzutage einer der größten Leipziger Loft-Komplexe.

Schwebend auf den Weltmarkt


Die boomende Industrie des späten 19. Jahrhunderts plagte ein schwer stillbarer Rohstoffhunger. Lagerstätten seltener Metalle und Energieträger ebenso wie die Plantagen exotischer Früchte gab es in vielen entfernten Weltteilen. Problematisch war vor allem der Transport. Eisenbahnen an die Fund- und Förderorte heranzubauen war kostspielig, und Lastkraftwagen gab es noch nicht. Seilbahnen für den Materialtransport blühten auf, denn dafür hatte der erfindungsreiche Leipziger Unternehmer
Adolf Bleichert die passende Idee: An dem kontinuierlich umlaufenden Seil hängen die Loren für den Materialtransport. Gelangen sie an den Entladeort, soll nicht der gesamte Mechanismus bis zum Abkippen des Ladeguts stoppen, sondern weiterlaufen. Mittels einer speziellen Kupplung, in die Bleicherts Ideen einflossen, wird die ankommende Lore kurzzeitig vom Seil ab- und anschließend sofort wieder eingekuppelt, so dass es zu keinen entladebedingten Unterbrechungen des Transportflusses kommt. Darauf hatten viele Transporteure, die Erze, Kohle, Holz und Baustoffe aus unwegsamen Gegenden holen wollten, nur gewartet. Bleichert begann, die Welt zu beliefern.

Ingenieurgeist und Stahlbaukompetenz


Seit 1874 dehnte sich die junge Fabrik in Gohlis, das damals noch ein Leipziger „Vorortdorf“ war, aus. Gezielt erwarb Adolf Bleichert benachbarte Gewerbegrundstücke und gliederte sie seinem expandierenden Werk an. Von der Lützowstraße und entlang der Wilhelm-Sammet-Straße sind an den früheren Fabrikhallen aufeinanderfolgende Bauetappen noch deutlich ablesbar, auch wenn die Werkhallen längst nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck dienen.

Eingezwängt zwischen immer großstädtischeren Wohnungsbau und die vorüberführende Linie der Thüringer Eisenbahn in Richtung Weißenfels und Erfurt arrangierte sich Bleichert mit seinem länglichen Grundstück. Für die entstehende Fließfertigung hatte es genau die richtige Form. In seiner Branche kam es auf zweierlei an – wachen Ingenieurgeist, gepaart mit Konstruktionsideen und maßgeschneiderten Fertigungen, denn allein schon die Masten der Seilbahnen hatten in der freien Landschaft unterschiedliche Höhen und Tragwerksanforderungen.

Es ist deshalb keineswegs übertrieben, in der Firma Bleichert ein frühes, hoch spezialisiertes Ingenieurbüro mit angegliederten Fertigungsbereichen zu sehen. Die wuchtigen Verwaltungsgebäude mit ihren hohen Fensterfronten, in denen auch die Zeichnungssäle und anderthalb Jahrhunderte vor einer digitalisierten Welt die penibel archivierten Pläne in Papierform untergebracht waren, zeigen bis heute das große Gewicht des Ideenvorlaufs mit maßgeschneiderten Einzellösungen aus vielerlei Komponenten im Bleichertschen Geschäftsfeld.

Villa Hilda – Refugium am Werk


Adolf Bleichert lebte mit seinem Werk und deshalb mit seiner Familie auch direkt am Werksgelände. Die
Villa Hilda in der Lützowstraße 19 bildet die gegenüberliegende Straßenseite der Fabrik. Großbürgerliche Repräsentanz, Anlehnungen an die klassizistische Formensprache der Architektur und ein vorgelagerter Garten mit Springbrunnen standen für das Repräsentationsbedürfnis der bürgerlichen Aufsteiger in der Phase der Leipziger Hochindustrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die gesamte Kombination aus Fabrik und Fabrikantenvilla zu beiden Seiten der Lützowstraße ist vom westlichen Bahnsteigende des S-Bahn-Haltepunkts Leipzig-Gohlis weiterhin gut zu erkennen.

Dann schwebten die Menschen zu ihrem Vergnügen


Wer brauchte im 20. Jahrhundert noch Materialseilbahnen? Gewiss, die Seilbahn mit den Gesteinsquadern für das
Völkerschlachtdenkmal war noch eine Bleichert-Konstruktion. Doch für den Massentransport industrieller Rohstoffe von den Abbauorten zu den Verladestellen standen immer mehr Güterstrecken der Eisenbahn und vor allem Lkw zur Verfügung. Deshalb verlagerte sich das Seilbahngeschäft seit den 1920er Jahren auf Personenschwebebahnen. Ob es um die erste deutsche Schwebebahn (auf den Fichtelberg), die Bahn auf die Zugspitze, auf die Rax in Niederösterreich oder den Tafelberg in Kapstadt geht – bei allen handelt es sich um Teil- oder Generallieferungen von Bleichert.

Unterschiedliche technische Lösungen für Förderanlagen, aber auch die erste Generation von Elektro-Lkw in den 1930er Jahren stehen exemplarisch für die Suche nach neuen Geschäftsfeldern. Als Sowjetische Aktiengesellschaft bis 1953 und als VEB Verlade- und Transportanlagen (VTA) ab 1954 durchlief das Werk unterschiedliche Phasen bis zum Wiedereinstieg in die Marktwirtschaft, der dem Traditionsunternehmen nach 1990 allerdings nicht gelang. Damit standen die einstigen massiven Werkhallen 23 Jahre lang leer.

Unter dem Dach der CG-Gruppe des Projektentwicklers Christoph Gröner wurde das Bleichert-Werk mit seinen 12 denkmalgeschützten Hallen – unter Hinzufügung eines neuen Gebäudeflügels längs der S-Bahn-Trasse – seit 2015 in hochwertige Lofts  und Büros umgewandelt. 60 Millionen Euro wurden in 38.000 Quadratmeter Nutzfläche investiert. Ein spitzwinkliges gläsernes Shed-Dach über der früheren Montagehalle und der turmartige Bau, in dem einst der technische Zeichnungsschatz lagerte, zeigen am nachdrücklichsten die industrielle Vergangenheit des Gebäudeensembles.

Stand: 22.12.2021

Bildergalerie - Bleichert-Werke

Historisches Bildmaterial - Bleichert-Werke

Biller, Georg Christoph

Thomaskantor, Sänger, Pädagoge | geb. am 20. September 1955 in Nebra/Unstrut, gest. am 27. Januar 2022 in Leipzig

Das Bachstübl am Thomaskirchhof ist eines seiner Lieblingslokale. Dort ist der begnadete Künstler zu Lebzeiten oft anzutreffen. 23 Jahre lang leitet Georg Christoph Biller den Leipziger Thomanerchor, dessen Wirkungsstätte gleich gegenüber in der Thomaskirche ist. Diesen Knabenchor, in dem er in jungen Jahren einst selbst gesungen hat, führt er wieder enger an die Kirchenmusik und vor allem an die Weltspitze heran. Er gehört zu den geistigen Vätern, die das Forum Thomanum ins Leben rufen, um mehr Nachwuchs für den Chor zu gewinnen. Georg Christoph Biller ist tief in der Musikgeschichte Leipzigs verankert. Schwer erkrankt muss der Thomaskantor sein Amt 2015 wegen eines Nervenleidens aufgeben. Er stirbt schließlich mit 66 Jahren am 27. Januar 2022 in Leipzig.

Ein hochmusikalischer Junge


Geboren wird Georg Christoph Biller am 20. September 1955 als Pfarrerssohn in Nebra an der Unstrut. Die Gegend mit Weinbergen ist idyllisch, das große Pfarrhaus mit Hof und Garten einladend und eine kleine Welt für sich. Er wächst mit drei Geschwistern behütet auf, obwohl der Vater streng ist. Georg Christoph Biller ist ein hochmusikalischer Junge, singt früh im Gottesdienst und spielt an der Orgel. Schon zeitig verspürt er den Wunsch, unbedingt Thomaner zu werden. Das erfüllt sich im Alter von knapp zehn Jahren, als ihn Thomaskantor
Erhard Mauersberger in den Chor aufnimmt. Wie ihn das beflügelt, beschreibt er später in seinen Memoiren „Die Jungs vom hohen C“. Die sind von Thomas Bickelhaupt aufgeschrieben im Mitteldeutschen Verlag 2017 erschienen.

Als Chorpräfekt kann Biller erste Erfahrungen im Dirigieren sammeln. Hautnah erlebt er da auch 1972 den Wechsel von Mauersberger zum neuen Thomaskantor Hans-Joachim Rotzsch. 1974 legt er das Abitur in der Thomasschule ab, absolviert danach den 18-monatigen Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Anschließend beginnt das Studium an der Hochschule für Musik „Felix Mendelssohn Bartholdy“ mit Gesang und Orchesterdirigieren. Dort trifft er erstmals auf den Gewandhauskapellmeister Kurt Masur. Bereits im letzten Studienjahr beruft dieser Biller im Jahr 1980 zum Chordirektor des Gewandhauses zu Leipzig. Er wird außerdem Dozent für Chorleitung an der Kirchenmusikschule Halle/Saale. Chordirigieren unterrichtet er später an den Musikhochschulen in Detmold und Frankfurt/Main. Als Gesangssolist ist er ebenfalls unterwegs. Und er leitet das Leipziger Vocalensemble, das er 1976 gründete.

Thomaskantor als Lebenstraum


Mit der Berufung zum Thomaskantor am 1. August 1992 erfüllt sich für Biller „ein Lebenstraum“, wie er selbst sagt. Die Amtszeit beginnt allerdings im Krankenbett, da er auf der Fahrt nach Leipzig einen Autounfall hat. Zwei Jahre später wird er Professor für Chordirigieren an der Hochschule für Musik, ab 2009 lehrt er dort selbst. Ein Höhepunkt der Karriere ist sicherlich das große
Bachfest Leipzig 2000, das er konzipiert und künstlerisch leitet. Anlass ist der 250. Todestag des „größten aller Thomaskantoren“ Johann Sebastian Bach.

Der Traum vom Forum Thomanum


Ebenso wichtig: 800 Jahre Thomana im Jahr 2012. Das ist die gemeinsame 800-Jahr-Feier von Thomanerchor, Thomaskirche und Thomasschule. Dabei etabliert sich der Bildungscampus Forum Thomanum, zu dessen Initiatoren Biller gehört und für den er viele Jahre unermüdlich gekämpft hat. Denn Biller erkennt, dass der Thomanerchor nur dann in der neuen Zeit bestehen kann, wenn die Nachwuchspflege professionalisiert wird. Schon 1998 verfasst er eine Denkschrift „Wohlbestallte Kirchenmusik“, die diese Vision beschreibt. Den Titel lehnt er bewusst an Bachs berühmte Eingabe von 1730 an, der damals eine Mindestzahl von 12 bis 16 Sängern für den Chor einfordert.

Der Thomaskantor ist ein Angestellter der Stadt Leipzig, der Chor ebenfalls in städtischer Trägerschaft. Biller muss daher für sich und seinen inzwischen viel größeren Thomanerchor einen Platz zwischen weltlichem Dienstherrn und geistlichen Aufgaben finden. Mit dem Stadtrat muss Biller einige Konflikte austragen, etwa als es Versuche gibt, das musikalische Profil des Thomasgymnasiums abzuschaffen. Das scheitert am Protest der Eltern. „Er war kein pflegeleichter Partner, er war streitbar – nie in eigener Sache, immer für den Chor“, sagt Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung später auf dem Trauergottesdienst.

Ein Verein Forum Thomanum Leipzig wird schließlich am 28. August 2002 gegründet, um die Vision eines musikalischen Bildungscampus für die Bachstadt Leipzig Wirklichkeit werden zu lassen. Die Eröffnung erfolgt mit einem Festakt am 20. März 2012. „Ich wünsche mir, dass sich mehr Menschen für eine musische Ausbildung begeistern lassen“, sagt Biller damals gegenüber der Leipziger Volkszeitung: „Denn leider gibt es zu viele, die Musik nur noch konsumieren und nicht wissen, wie wertvoll es ist, sie selbst zu pflegen.“

Eine Zukunft für den Thomanerchor


Als Pädagoge liegt Biller die Zukunftsfähigkeit des Thomanerchores sehr am Herzen, den er als Künstler auf höchstes musikalisches Niveau bringt. Da er selbst Thomaner war, besitzt er die Gabe, sich in die Welt der Jungs hineinzuversetzen. Und er bemüht sich auch, sich selbst vom Sockel des Kantors zu holen. Dabei prägt er viele junge Menschen, die bei ihm nicht nur das Singen lernen, sondern auch erfahren, was es bedeutet, als Gemeinschaft zu funktionieren. Er lässt die Tradition der wöchentlichen Kantaten und Motetten in der Thomaskirche wieder aufleben – jene musikalischen Andachten sind begehrt. Bei Tourneen und Auftritten ist der Thomanerchor in Asien, Australien, Südamerika, in den USA sowie in vielen europäischen Ländern zu Gast. 2014 wird Biller für seine Verdienste mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Er ist mit der Schauspielerin
Ute Loeck verheiratet.

Die tägliche Arbeit mit dem Chor ist ein Fulltime-Job. Dennoch findet Biller Zeit, weiter eigene Werke zu komponieren. Wegen depressiver Störungen fällt er 2014 längere Zeit aus. 2015 zieht sich Biller wegen einer neurologischen Erkrankung aus dem Amt zurück, Sprechen und Gehen werden mühsam. Am 18. Juni 2015 wird der 16. Thomaskantor nach Bach in einem Festakt verabschiedet. Die Musik hilft ihm, das eigene Leiden auszuhalten. Inzwischen ist er auf den Rollstuhl angewiesen.

Er stirbt am 27. Januar 2022 im Alter von 66 Jahren in Leipzig. Nach einem Trauergottesdienst in der Thomaskirche wird er am 10. Februar 2022 auf dem Südfriedhof beigesetzt. Sein Grab ist unweit der Grabstätte seines Lehrers Kurt Masur. „Mit Georg Christoph Biller verliert die Stadt einen Ausnahmemusiker, der dem Thomanerchor in schwieriger Zeit nach 1990 ein solides Fundament gegeben hat“, würdigt Oberbürgermeister Burkhard Jung das Wirken des Thomaskantors.

Stand: 16.01.2025

Bildergalerie - Biller, Georg Christoph

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