Bayerischer Bahnhof

Bayerischer Platz / Arthur-Hoffmann-Straße
Ortsteil: Zentrum-Süd

Solch einen Bahnhof muss der geneigte Besucher erst einmal entdecken: Wo früher die Züge ankamen und abfuhren, liegen keine Gleise mehr. Der Name blieb. 126 Jahre nach der Eröffnung des Vorgängers übernahm eine andere Station mit der Traditionsbezeichnung Bayerischer Bahnhof tief unter der Erde eine neue Funktion im Zuge des City-Tunnels. In die ehrwürdigen Gemäuer des früheren Bayerischen Bahnhofs an der Oberfläche zog stattdessen zünftige Gastronomie ein, Eisenbahn-Flair inklusive.

Grün-Weiß strebt Weiß-Blau entgegen


Der Bayerische Bahnhof war ein Kind des ausgebrochenen Eisenbahnfiebers in den 1830er Jahren. Die Annalen des Eisenbahnknotens Leipzig verzeichnen ihn als dritten Fernbahnhof. Nach dem Dresdner Bahnhof (1837/Gesamtstrecke in die sächsische Landeshauptstadt 1839) und dem Magdeburger Bahnhof (1840) im Nordosten der historischen Kernstadt stieß der Bayerische Bahnhof 1842 das Tor nach Süden weit auf. Mit einem Schienenweg zunächst bis Altenburg und anschließend etappenweise bis Reichenbach und Plauen tastete sich die Strecke in Richtung Hof vor, wo auf bayerischer Seite das neue Verkehrsmittel Eisenbahn geschwind vorankam.

Wie an vier anderen Stellen in Leipzig ebenfalls bot die kompakte, ihre mittelalterliche Enge erst langsam sprengende Stadt keine andere Gelegenheit, als einen Kopfbahnhof anzulegen. Einen Schienenweg mitten durch das historische Leipzig anzulegen, war undenkbar. 

Den ursprünglichen Bayerischen Bahnhof bildeten zwei helle, längliche Gebäudetrakte für die Bahnhofsverwaltung und als Wohnstätte der höheren Bahnbeamten zu beiden Seiten der Gleise für Ankunft und Abfahrt in der viergleisigen Bahnhofshalle. Quer über die Gleise wölbte sich auf der Stadtseite ein klassizistisch gestalteter Portikus mit seinen erhabenen Buchstaben „Sächsisch-Bayersche Staats-Eisenbahn“ und den Flaggen in Grün-Weiß und Weiß-Blau der beiden Freistaaten nebst den entsprechenden Wappen. Ankommende Lokomotiven rollten durch einen Torbogen auf die Drehscheibe vor dem Portikus (in Höhe des heutigen Zugangs zum City-Tunnel) und setzten sich nach dem Drehen in die entgegengesetzte Fahrtrichtung und dem Passieren des benachbarten Torbogens für die Rückfahrt wieder vor ihren Zug. 

Praktisch genutzter Denkmal-Solitär


Mühsam teilreparierte Kriegsschäden verliehen dem bedeutenden Baudenkmal, das sich weiterhin in voller Nutzung befand, in der DDR eine traurige Gestalt. Doch das Traditionsbewusstsein war wach genug, um den Bayerischen Bahnhof auf die Zentrale Denkmalliste zu setzen. Damit erlangte der Denkmalschutz Gesetzeskraft. Eine Zeitlang spornten Träume, hier ein Zentrales Eisenbahnmuseum mit historischen Fahrzeugen einzurichten, sogar die Phantasie an. Alles andere wäre Frevel gewesen – teilte sich der Bayerische Bahnhof in Leipzig mit einer Station in Liverpool doch den Spitzenplatz, ältester in Betrieb befindlicher Bahnhof der Welt aus der Frühzeit der Eisenbahn zu sein.

Sanierung des Klassikers, Wechsel in den Untergrund


„Rettet den Bayerischen Bahnhof in Leipzig“ befanden Münchner Eisenbahn-Enthusiasten, die 1990 viel Gefallen daran gefunden hatten, dass ein Bahnhof mitten in Sachsen mit seinem exklusiven Namen ununterbrochen das Fernweh nach dem weiß-blauen Freistaat im Süden wachgehalten hatte. Rasch begannen sichtbare Reparaturen der angegriffenen Bausubstanz und denkmalpflegerische Arbeiten, die diesen Namen verdienten. Nunmehr konnte an festlichen Tagen der zu alter Schönheit zurückgekehrte Portikus guten Gewissens wieder im Scheinwerferlicht erstrahlen.

Veränderungsdruck nahte von anderer Seite: Endlich ging der alte Traum von einer durchgängigen innerstädtischen Schienenverbindung zwischen dem Hauptbahnhof und dem Bayerischen Bahnhof in Erfüllung. Die Tunnelidee, die bis in das frühe 20. Jahrhundert zurückreichte, sollte im 21. Jahrhundert Realität werden. Das ließ sich nur mit zwei Großvorhaben umsetzen. Der Bayerische Bahnhof verlor seine oberirdischen Bahnanlagen, und der prächtig sanierte Portikus musste während des Tunnelbaus in offener Baugrube für den Anschnitt der Tunnelstrecke zur Seite geschoben werden. Im Juni 2001 verließ der letzte Zug in Anwesenheit einer treuen Fan-Gemeinde den in jeder Beziehung zum Klassiker avancierten Bayerischen Bahnhof.

Gastronomie mit Eisenbahn-Flair


Dicht an dicht gedrängt verfolgte eine riesige Menschenmenge am 10. April 2006 das Zur-Seite-Rücken des 2.800 Tonnen schweren Portikus in seine 30 Meter entfernte Parkposition während des Tunnelbaus. Hin- und Rückfahrt am 30. Oktober 2006 gelangen perfekt. Als der Portikus wieder am westlichen Bahnhofstrakt „andockte“, blieb nicht der geringste Spalt. Und seit dem 13. Dezember 2013 rollen in der Hauptverkehrszeit tief unter dem historischen Bahnhofsareal die Züge der S-Bahn Mitteldeutschland im Fünf-Minuten-Takt in Richtung Innenstadt oder Süden.

Derweil lädt in den historischen Räumen des Empfangsgebäudes die Gasthaus und Gosebrauerei Bayerischer Bahnhof zur Einkehr ein. Vor dem Gebäude ist die Speisekarte in einem Blechkasten mit der Kontur der weltberühmten bayerischen Dampflok-Baureihe S 3/6 in ihrem klassischen Grün zu finden. Der sächsisch-bayerische Traditionsbezug lebt. Alle Speisen tragen bahnpersonalaffine Namen und entstammen dem beliebten deftigen Kreis der Kulinarik. In der warmen Jahreszeit öffnet außerdem ein gemütlicher Biergarten im Schatten des alten Baumbestands. Historische Fotos und Bahnutensilien unterstreichen die Verbundenheit mit der Bahnhofsgeschichte. Während die Mitropa früher einen Teil des Bahnhofsinnenlebens bestritt, dominiert die heutige Gaststätte das historische Gemäuer des Bayerischen Bahnhofs. Eisenbahnfreunde schätzen diesen stets präsenten emotionalen Brückenschlag zu den Ursprüngen des Bahnhofs.

Bildergalerie - Bayerischer Bahnhof

Historisches Bildmaterial - Bayerischer Bahnhof

Wintergartenhochhaus

Wintergartenstraße 2
Ortsteil: Zentrum

Hochhäuser prägen die Silhouette vieler deutscher Großstädte. Meistens handelt es sich dabei um Bürotürme, denen zugetraut wird, dass sie das Selbstverständnis der darin residierenden Banken oder Industriekonzerne prägnant, ja eindringlich herauskehren. Anders in Leipzig. Hier rangiert ein Wohnhochhaus in der Spitzengruppe der höchsten Bauwerke. Über viele Jahre hinweg ließ es sich der Höhe nach von keinem anderen deutschen Wohnturm übertreffen – das Wintergartenhochhaus.  

Dominante des Aufbauwerks


Ende der 1960er war das Aufbauwerk in Leipzig nach den Zerstörungen der alten Stadt im Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen geschafft. Großzügiger als im Sinne bloßer Stadtreparatur sollte nunmehr geplant und gebaut werden. „Dominanten“ fanden Eingang in den Sprachgebrauch der Baumeister und der an Architektur und Städtebau interessierten breiten Öffentlichkeit. Die Messestadt Leipzig sollte in die Höhe wachsen und an fünf Stellen den Siegeszug einer sich überlegen dünkenden „neuen Gesellschaftsordnung“ gestalterisch in Beton gießen. Die „neuen sozialistischen Stadtzentren“ wurden kräftig propagiert – und im Mai 1968 steckte in der Leipziger Volkszeitung die erste vierfarbige Beilage dieses Blattes mit zahlreichen Planzeichnungen und Modellen, wie schön alles werden sollte. Fünf Hochhäuser – die Dominanten des Forschrittsversprechens und der Schlaglichtauftritte vor dem zwei Mal pro Jahr anreisenden internationalen Messepublikum – sollten eine weithin sichtbare Skyline formen (auch wenn solch ein Amerikanismus damals im Sprachgebrauch fehlte). Es ging neben dem Wohnhochhaus Wintergartenstraße um das Hochhaus der Karl-Marx-Universität (heute City-Hochhaus), ein Hotel am Friedrich-Engels-Platz (heute Goerdelerring, nicht realisiert), ein Hochhaus am Bayerischen Bahnhof als Entree zur Straße des 18. Oktober (nicht realisiert) und einen weiteren Wohnturm im Zentrum der Messemagistrale (nicht realisiert). Die schwindende Umsetzungsquote der hochfliegenden Pläne war der Diskrepanz zwischen Präsentationswunsch und Baukosten für die speziell, keineswegs am Fließband projektierten Hochhäuser geschuldet. Plattenbau ging schneller und war billiger.

Ein Hochhaustraum geht in Erfüllung


Doch an der Wintergartenstraße ging der Hochhaustraum in Erfüllung. Auf dem benachbarten Hauptbahnhof kamen die Messegäste mit den Sonderzügen und mit den Pendelbussen vom Flughafen an. Dort verflocht sich der Stadtverkehr mit dem hereinflutenden Autostrom. Es war die angemessene Stelle, um ein Achtungszeichen in der Symbolgestalt eines erhobenen Zeigefingers zu setzen.

Die geschwungene Einfädelung Promenadenring/Wintergartenstraße ist ein prominenter Ort. Deshalb war Stadtbaurat Hubert Ritter mit seiner legendären Vision einer Ringcity schon in den 1920er Jahren auf die Idee gekommen, an der Ostseite des Hauptbahnhofs ein Hochhaus zu platzieren. Der Krieg hinterließ dagegen an diesem Fleck den Torso des Hotels Stadt Rom. Es fiel 1969, um das Baufeld für das Hochhaus zu räumen, auch wenn die Bodenbeschaffenheit für einen Vielgeschosser an diesem Fixpunkt nicht ideal ist. Mit einer massiven Betonwanne ließen sich die Nachteile korrigieren.

Das Wohnhochhaus entstand zwischen 1970 und 1972. Im wahrhaft praktischen Mittelpunkt stand der erstmals für ein Bauwerk dieser Dimension angewandte Betongleitkern. Wie es damit vorangeht, stand jeden Morgen mit der Regelmäßigkeit des Wetterberichts oder des Fernsehprogramms in der Tageszeitung. Ein gedrucktes Bautagebuch gewissermaßen. Die Tatra-Transportbetonmischer rollten nach einem strengen Plan an. Fiel einer aus, sprang sofort ein vorgehaltenes Ersatzfahrzeug ein. Für die laufenden Messungen der Maßhaltigkeit des Gleitkerns kam erstmals hochmoderne Lasertechnologie zum Einsatz. Die Kontinuität und Zuverlässigkeit des Wachsens prägte alle Abläufe.

Attraktive Perspektiven jederzeit und allerorten


Architektonische Leitidee des Wohnhochhauses, entworfen von Horst Siegel, sind die 16 Außenecken des symmetrischen Grundrisses aller 26 Wohnetagen, die sich optisch durch abgeschrägte Balkonvorderseiten zum Eindruck eines achteckigen Baukörpers verdichten. Rote Sichtflächen an den Vorderseiten der Balkone und die vorgefertigte schneeweiße Außenhaut unterstrichen den herausgehobenen, immer besonders reinlich wirkenden Auftritt des Bauwerks in einem sich ändernden Stadtbild.

Und erst die Aussicht! Egal, auf welcher Seite jemand in der sozial wohlweislich durchmischten Hausgemeinschaft eine Wohnung bekam, für eine überzeugende Perspektive war gesorgt. Die Sonnenaufgänge im Osten der Stadt! Das Innenstadtpanorama im Süden! Das wuselige, großstädtische Umfeld des Hauptbahnhofs! Lob kam und kommt von allen Seiten. Das Wohnhochhaus Wintergartenstraße – wiewohl ein Solitär – stand trotzdem nicht allein. Unten nahm das zweietagige Restaurant Stadt Dresden die leicht geschwungene Linie des Georgirings auf, und nach Osten erstreckte sich der ebenfalls zweigeschossige, ausgreifende Bauriegel des „Einkaufszentrums am Hauptbahnhof“ mit dem Hortex-Markt, der jeden Morgen mit frischem Obst und Gemüse aus Polen direkt beliefert wurde.

In dieser Kombination glitt das Wintergartenhochhaus nahtlos in die deutsche Einheit. Eigentümer des Komplexes wurde im nunmehr marktwirtschaftlichen Gewand die städtische Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft LWB. Sie verkürzt den Namen ihres Juwels gern auf Wiga und hat sich ihm bewusst dadurch genähert, dass sie ihren neuen Unternehmenssitz zu Füßen des damals rund 40 Jahre alten Hochhauses errichtete. Um dieses Vorhaben auf dem kompliziert geformten Grundstück umsetzen zu können, mussten das Restaurant und das Einkaufszentrum abgerissen werden. Leer blieb die Fläche selbstverständlich nicht. Im Anschluss an die gründliche Sanierung des Hochhauses vor der FIFA Fußball-WM 2006 entstanden neben dem genannten LWB-Hauptquartier ein Hotel und schicke Wohnbauten, die es – gemessen an der sich bietenden Aussicht – natürlich nicht mit einer der oberen Etagen des Hochhauses aufnehmen können.

Ach ja, die Höhe. Fast 107 Meter sind es bis zur Oberkante des Doppel-M der Leipziger Messe, das sich von Beginn an in luftiger Höhe dreht. Auf fast 96 Meter Höhe schichten sich die Wohnetagen. Damit war das Wintergartenhochhaus bis zum Jahr 2020 in ganz Deutschland das höchste reine Wohngebäude. Dann stürmte der Grand Tower in Leipzigs Partnerstadt Frankfurt am Main mit seinen 180 Metern Höhe auf 47 Etagen an die Spitze. Sei’s drum: Für Wohnungen im Wiga führt die LWB eine Warteliste.

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