Die Fotos bleiben wohl ewig in Erinnerung: Leipzig setzt sich am 12. April 2003 mit seiner Bewerbung für Olympia 2012 im deutschen Vorentscheid sensationell gegen Hamburg durch. Neben dem emotionalen Bewerbungsvideo überrascht an jenem Tag der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee mit seinem Cello-Spiel. „Dona Nobis Pacem“ (Gib uns Frieden) spielt er auf dem Cello. Viele glauben an ein „zweites Leipziger Wunder“ – in Anspielung auf die Friedliche Revolution. International platzt der Olympiatraum. London erhält schließlich für Olympia 2012 den Zuschlag. Im November 2005 wechselt der SPD-Politiker nach Berlin und wird Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Geboren wird Wolfgang Tiefensee am 4. Januar 1955 im thüringischen Gera. Er wächst in einer sehr musikalischen Familie auf. Die ist katholisch geprägt. Der Vater ist der Komponist und Kapellmeister Siegfried Tiefensee, die Mutter eine sozial engagierte Hausfrau. Mit seinen drei Geschwistern wächst er in Leipzig auf, die Familie zieht 1958 in die Messestadt um. Der Vater übernimmt die Stelle eines Kapellmeisters am Theater der Jungen Welt.
Ein Katholik wird Bausoldat
Wolfgang Tiefensee erhält frühzeitig Instrumentalunterricht. Er ist weder Mitglied der Jungen Pioniere noch der Freien Deutschen Jugend, nimmt auch nicht an der Jugendweihe teil. Im Jahr 1973 macht er an der Erweiterten Oberschule „Georg Dimitroff“ das Abitur. Zum Studium darf er zunächst nicht. Als junger Mann gewinnt er mit dem Cello den Bachwettbewerb, lernt Gitarre und spielt in einer Band.
Tiefensee macht eine Ausbildung zum Facharbeiter für Nachrichtentechnik, verweigert 1975 aus Gewissengründen den Dienst an der Waffe in der Nationalen Volksarmee. Dort wird er schließlich Bausoldat, was durch seine religiöse Verbundenheit möglich ist. Seine Frau Gabriele heiratet er 1976, aus dieser Ehe gehen zwei Söhne und zwei Töchter hervor.
Für Freie Pädagogik am Runden Tisch
1979 kann Tiefensee dann ein Studium als Ingenieur für industrielle Elektronik an der Ingenieurschule in Görlitz abschließen und arbeitet danach im Fernmeldeamt Leipzig auf dem Gebiet Forschung und Entwicklung. Ab1986 bis 1990 wechselt er als Entwicklungsingenieur in die Sektion Elektroenergieanlagen der Technischen Hochschule Leipzig. Er beginnt ein weiteres berufsbegleitendes Studium, erwirbt den Abschluss eines Diplom-Ingenieurs für Elektrotechnik.
Die Unzufriedenheit mit dem politischen System in der DDR nimmt zu. Tiefensee schließt sich der Opposition an. 1989 engagiert er sich erstmals politisch in der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, die er in der Arbeitsgruppe Freie Pädagogik schließlich am Runden Tisch in Leipzig vertritt. Bildungsfragen werden schließlich sein Spezialgebiet und es ist folgerichtig, dass er 1990 zum Amtsleiter des Schulverwaltungsamtes der Stadt Leipzig gewählt wird. Leipzig braucht unbelastete Menschen, die die Kommunalpolitik steuern können. Das hat der aus Hannover kommende Hinrich Lehmann-Grube, der seit Juni 1990 Leipziger Oberbürgermeister ist, rasch erkannt.
Vom Schulamtsleiter zum Oberbürgermeister
Eine Zeitlang sitzt der Parteilose Wolfgang Tiefensee für Bündnis 90 – damals eine Vereinigung der Bürgerrechtsgruppen – in der Stadtverordnetenversammlung. Das Mandat gibt er zurück, als er in die Verwaltung wechselt. Dort gibt es gigantische Aufgaben zu lösen – die Modernisierung maroder Schulen wird die Stadt über Jahrzehnte beschäftigen. Es gilt aber auch, ideologischen Ballast abzuwerfen, neue demokratische Schulformen zu entwickeln. 1992 folgt der nächste Karriereschritt: Das agile Rednertalent wird Stadtrat für Jugend, Schule und Bildung. 1994 wird er dann Bürgermeister und erster Stellvertreter von Hinrich Lehmann-Grube sowie Beigeordneter für Jugend, Schule und Sport. 1995 tritt Wolfgang Tiefensee in die SPD ein. Der charismatische Redner empfiehlt sich rasch für höhere Aufgaben. Seine Partei baut ihn als Nachfolger von Lehmann-Grube auf. „Wir Leipziger schaffen das!“ wird sein Wahlkampf-Slogan. Das gelingt: Am 26. April 1998 wird Tiefensee im zweiten Wahlgang für sieben Jahre zum Oberbürgermeister von Leipzig gewählt.
Tiefensee engagiert sich für die Ansiedlung von Großunternehmen in Leipzig. 1999 wird Porsche Leipzig gegründet. Im neuen Montagewerk entstehen zunächst 300 Arbeitsplätze – das ist angesichts der hohen Arbeitslosigkeit zwar nicht unbedingt viel. Doch die exklusive Marke wird zu einer Art Initialzündung. Am 7. Mai 2002 erfolgte der erste Spatenstich für das BMW-Werk Leipzig. Dabei erweisen sich die Eingemeindungen nach Leipzig als Glücksfall, da die notwendigen Flächen bereitstehen. 2004 beschließt DHL, ihr Europa-Luftfracht-Drehkreuz an den Flughafen Leipzig/Halle zu verlegen. Das bleibt zwar aufgrund des nächtlichen Fluglärms umstritten. Doch für den Wirtschaftsstandort Leipzig sind es beachtliche Erfolge, wobei die Arbeitslosigkeit nach wie vor hoch bleibt. Es sind nicht allein seine Erfolge – doch er weiß sich gut zu verkaufen.
Eine Politkarriere in Berlin und Erfurt
Nach der gewonnenen Wahl 2002 will ihn Bundeskanzler Gerhard Schröder als Minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen nach Berlin holen. Doch der Leipziger Oberbürgermeister lehnt ab und begründet dies mit seiner starken Verbundenheit mit Leipzig sowie der Einbindung in die Olympiabewerbung. Damals entsteht in Leipzig und im Umland ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl. Viele Leute sind von der Kampagne unter dem Motto „One Family“ begeistert. „Jenseits vom Tagesgeschäft braucht es solche Visionen, sonst entsteht kein Aufbruch“, erinnert sich Tiefensee in Interviews an die enorme Begeisterung. In Berlin arbeitet Tiefensee in der Kommission mit, in der die Hartz-Reformen entstehen.
Bei der Oberbürgermeisterwahl am 10. April 2005 wird Tiefensee im ersten Wahlgang mit 67,1 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Ein halbes Jahr später wechselt er in die Bundesregierung, als Verkehrsminister unter Kanzlerin Angela Merkel. In der Regierung wird ihm auch die Funktion des Ost-Beauftragten übertragen. Seine Ehe mit Gabriele Tiefensee wird 2011 geschieden.
Die Aura des Besonderen, die Tiefensee in Leipzig umgeben hat, verflüchtigt sich in der Hauptstadt allerdings rasch. Der Verkehrsminister muss viel Kritik einstecken. Diverse Großprojekte, wie die Bahnreform, scheitern. Dem Aufbau Ost vermag der sozialdemokratische Hoffnungsträger aus dem Osten keine wirklichen Impulse zu geben. 2009 ist es mit der Großen Koalition vorbei. Er wird „einfacher Bundestagsabgeordneter“. Seit Juni 2012 ist er dann wirtschafts-, später auch energiepolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. 2013 regiert die SPD wieder mit der CDU – auch da erhält er keinen Posten mehr. Tiefensee gehört dem Deutschen Bundestag bis Dezember 2014 an.
Es folgt eine Politkarriere im Freistaat Thüringen, die mit der Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten Thüringens beginnt. Er holt Wolfgang Tiefensee als Wirtschafts- und Wissenschaftsminister in sein Kabinett. Seit dem 11. März 2018 ist Tiefensee zudem Vorsitzender der SPD Thüringen. Am 1. September 2024 wählte Thüringen seinen neuen Landtag. Die rot-rot-grüne Koalition verfehlt deutlich die Mehrheit. Minister in Erfurt bleibt er in der Übergangsregierung. In der neuen Regierung ist er nicht mehr dabei.
Stand: 14.12.2024