Er hält einen Rekord: 34 Jahre vertritt Christian Schulze die Sozialdemokraten im Leipziger Stadtrat. Und hat dabei als Finanzexperte und Urgestein der SPD einige Sternstunden, aber auch Skandale erlebt. Seit der Neukonstituierung des Rates im September 2024 ist er allerdings nicht mehr dabei. Die Ergebnisse der SPD haben für seine Wiederwahl nicht gereicht. Das politische Geschehen in Leipzig wird er weiter interessiert verfolgen und aufpassen, dass sich „seine Stadt“ gut entwickelt. „Sonst mache ich von der Seitenlinie Krach“, sagt Schulze in seiner letzten Rede im Stadtrat im August 2024. Politisch engagieren wird er sich weiter im Ehrenamt. Vor allem in seinen Vierteln, in Lindenau und Leutzsch.
Geboren wird Christian Schulze am 20. Mai 1963 als Sohn eines Pfarrers am Prenzlauer Berg in Berlin. Dort wird er eingeschult, die Familie zieht aber bald nach Berlin-Johannisthal. Nach der Oberschule absolviert er eine Lehre in der Landwirtschaft, wird Agrotechniker/Mechanisator und schreibt seine Abschlussarbeit über die Kartoffelsorte „Adretta“. Mit 18 Jahren kommt Schulze nach Leipzig, um am Theologischen Seminar zu studieren. Nach zweieinhalb Jahren scheidet er allerdings aus, repariert Lkw-Anhänger in einer Schmiede, macht verschiedene Jobs. 1984 beginnt er als Handwerker und Grabmacher beim Kirchlichen Friedhofsamt und schafft nach einem halben Jahr als 21-Jähriger den Sprung zum Friedhofsleiter in Lindenau. Er beginnt, sich in kirchlichen Gruppen zu engagieren – gemeinsam mit Menschen, die alle der eine Gedanke eint: „In diesem Land muss was passieren!“.
Die Gründung der SDP in Leipzig
Von 1988 an arbeitet Schulze als Verwaltungsleiter in der Nathanaelkirche in Lindenau. Dort gründet sich im Spätsommer 1989 ein politischer Gesprächskreis, der zunächst das Neue Forum unterstützt. Geliebäugelt wird allerdings mit einem Leipziger „Ableger“ der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP), die im Oktober 1989 in Schwante bei Berlin entsteht. Schulze ist aktiv dabei, gemeinsam mit Andreas Schurig die SDP auch in Leipzig ins Leben zu rufen.
Als Verwaltungsleiter besitzt er damals einen Computer mit Nadeldrucker. Auf der Montagsdemonstration am 6. November 1989 können daher Handzettel verteilt werden, mit denen zur Gründung der Partei am 7. November 1989 in die Reformierte Kirche am Tröndlinring eingeladen wird. „Auf dem Weg dorthin kamen Ängste in mir hoch. Hat die Stasi vielleicht doch noch die Kraft, alles abzusperren und zu verhindern?“, erinnert Schulze sich. Doch die Kirche ist gut gefüllt. Ungefähr 150 bis 200 Bürger versammeln sich im Gotteshaus, darunter auch junge Männer von der Stasi. Die Gründung gelingt, die Umbenennung in SPD erfolgt dann im Januar 1990. Schulze vertritt seine Partei in Lindenau, Leutzsch und Böhlitz-Ehrenberg.
Für die Kommunalwahl am 6. Mai 1990 holen die neuen Genossen dann den Hannoveraner Oberstadtdirektor Hinrich Lehmann-Grube nach Leipzig. Das war eigentlich ein großer Zufall: Den Namen Lehmann-Grube hört Christian Schulze das erste Mal am 19. März 1990. Die Leipziger Sozialdemokraten lecken zu dieser Zeit im Haus der Demokratie ihre Wunden. Sie haben die erste freie Volkskammerwahl in der DDR haushoch verloren. Für die sieben Wochen später stattfindende Kommunalwahl in Leipzig wollen sie dennoch einen SPD-Spitzenkandidaten aufstellen. Ursula Lehmann-Grube ist damals Gast beim Lindenauer SPD-Ortsverein. Sie wird gefragt, ob sich ihr Mann eine Kandidatur vorstellen kann. Da dieser in Hannover als Verwaltungschef unzufrieden ist, kommt ihm der Ruf aus Leipzig gerade recht. Schulze bezeichnet „LG“, wie er im Rathaus oft genannt wird, später als seinen politischen Ziehvater.
LG wird der politische Ziehvater
Lehmann-Grube wird Oberbürgermeister, die SPD mit 35 Prozent die stärkste politische Kraft – und Schulze einer von 45 Sozialdemokraten in der Stadtverordnetenversammlung, die damals 128 Sitze hat. „Eigentlich wollte ich als anständiger Sozialdemokrat in den Sozialausschuss. Da ich in der Kirchgemeinde Lohn gerechnet und die Kasse geführt habe, schickte mich die Fraktion in den Finanzausschuss“, erinnert er sich. Diesen leitet er ab September 1990, nachdem die Vorgängerin wegen Stasi-Verstrickungen abgelöst wurde. Insgesamt bleibt er 30 Jahre Finanzausschusschef.
Am Tisch von Lehmann-Grube wird überlegt, wie Leipzig bis Ende 1990 überhaupt über Wasser gehalten werden kann. „Das hat mich als damals 26-Jährigen sehr beeindruckt“, gibt er zu. Ein Jahr zuvor – bei der Schwindelkommunalwahl am 7. Mai 1989 in der DDR, wie er sagt – wird er nur mit großer Not zur konstituierenden Sitzung der Stadtbezirksversammlung West als Besucher zugelassen. „Ein Jahr später saß ich dann an den Hebeln der Macht und durfte mitentscheiden, wofür das Geld ausgegeben wird“. Wichtig ist zunächst, die Finanzierung für Kitas, Schulen, Heime abzusichern sowie eine Verwaltung aufzubauen. In den Aufbruchsjahren der 1990er seien alle beseelt davon gewesen, das Überleben der Stadt zu sichern, erzählt Schulze.
Die Arbeit im Stadtrat ist über die Jahre schwieriger geworden – die zunächst konstruktive Zusammenarbeit der Aufbruchsjahre über Parteigrenzen hinweg ist politischen Zwängen und Spielchen gewichen. „Wir haben uns bemüht, eine Vermittlerrolle einzunehmen und Mehrheiten für den Oberbürgermeister und die Verwaltung zu organisieren“, konstatiert Schulze.
Weder schwarze Straßen noch rote Kitas
Eins betont er immer wieder: „Für mich gab es nie schwarze Straßen, rote Kitas oder grüne Radwege. Mein Credo war immer: Ich bin für das Beste der Stadt unterwegs.“ Wer gewählt ist, müsse Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen. Dabei gehe es in erster Linie um Vernunft. Von Lehmann-Grube habe er gelernt, wie er betont, „dass man zu einer Sache stehen, zu einer getroffenen Entscheidung Haltung zeigen muss, sich nicht gleich vom ersten Wind umpusten lässt“.
Eine der Sternstunden ist für Schulze die Gründung einer Tunnel GmbH, in die 5 Millionen DM eingezahlt werden. „Wir nahmen an, dass die damals geplante Transrapid-Strecke zwischen Berlin und Hamburg scheitert. Und Geld im Bund übrig ist, das wir für unser Tunnelprojekt nutzen können.“ Wer heute mit der S-Bahn durch den City-Tunnel fährt, weiß, dass die Rechnung aufgegangen ist. Um viele Projekte wie die Umgestaltung des Hauptbahnhofes oder die Verlagerung der Leipziger Messe sind erbitterte Auseinandersetzungen geführt worden. Heute sind es Entscheidungen, die kaum jemand noch ernsthaft infrage stellt. „Ich habe mich immer als Ansprechpartner der Menschen vor Ort gesehen und für die Themen, die diese beschäftigen.“ Sei es ein klappernder Gullydeckel oder ein fehlender Radstreifen. Für seine Verdienste, darunter die fast 30-jährige Leitung des Ortsvereins Alt-West der SPD, wird er 2019 von seiner Partei mit der Willy-Brandt-Medaille geehrt. 2024 erhält er ebenfalls die Goldene Ehrennadel der Stadt Leipzig.
Seit 1998 leitet Christian Schulze ein Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt mit 100 Bewohnern sowie 75 Beschäftigten in Beerendorf bei Delitzsch. Nach dem Ausscheiden aus dem Stadtrat verbringt er wieder mehr Zeit mit der Familie, die von Stockholm bis Zürich verstreut ist. Mit seiner Frau hat er fünf Kinder großgezogen, das fünfte Enkelkind ist unterwegs. Er lernt inzwischen intensiv Englisch, damit er sich besser mit seinem Schwiegersohn in Schweden verständigen kann. Nach wie vor singt er in zwei Chören, darunter in der Taborkantorei, und ist ein leidenschaftlicher Motorradfahrer.
Stand: 09.10.2024