Im Jahre 1992 war der Posten an der Spitze des im Grassimuseum beheimateten GRASSI Museum für Angewandte Kunst neu zu besetzen. Der Wechsel besaß zwei bemerkenswerte Dimensionen: Ausgewählt wurde niemand „von drüben“, wie das zu jener Zeit auf fast jeder erdenklichen Position geschah, und ausgewählt wurde eine Frau, was damals ebenfalls noch kein Normalfall war. Eva Maria Hoyer gestaltete und lenkte die Geschicke des Museums anschließend bis zu ihrem planmäßigen Ruhestand im Jahre 2015.
Die Kunst der riesigen Bauaufgabe
Das Grassi ist kein Museum wie jedes andere. Geschenkt, dass wohl jeder Museumsdirektor diesen Satz für „sein“ Haus allein schon marketingtechnisch unterschreiben würde. Doch das Grassi lebt von einer Ballung an Exzellenz, die ihresgleichen sucht. Eröffnet 1874 in der blutjungen Großstadt Leipzig als zweites Kunstgewerbemuseum Deutschlands, umgezogen 1929 in den herausragenden Neubau am Johannisplatz, schwer getroffen 1943 im beginnenden Bombenkrieg, provisorisch 1954 in Teilen wieder eröffnet, hart erwischt 1981 von einer Havarie der Heizungsanlage, auf Interimslösungen angewiesen bis in das frühe 21. Jahrhundert, war das Museum eine einzige Baustelle, als Eva Maria Hoyer die Leitung übernahm. Sie wusste genau, worauf sie sich einließ und was sie wollte: Die wertvollsten Teile des Museumsbaus erneut herstellen. Die Grassimesse als eine der ersten deutschen Museumsmessen wiederbeleben und zielstrebig für den Ankauf neuer, wertvoller Stücke mit kunstgeschichtlichem Potential nutzen. Den Rang des Museums weit über Leipzig hinaus wieder zum Strahlen bringen.
Eva Maria Hoyer kannte das Haus, als dessen Chefin sie fortan wirkte. In ihrer Vita waren die Jahre zwischen 1975 und 1977 mit dem Einstieg als wissenschaftliche Mitarbeiterin im damaligen Museum für Kunsthandwerk angefüllt. Dann legte sie noch einmal einen planmäßigen Rückschwung in die akademische Sphäre ein. Wissenschaftliche Aspirantur – das hieß terminlich streng umrissene drei Jahre intensiver, konzentrierter intellektueller Arbeit mit der Promotion als krönendem Abschluss.
Der Elan der energischen Direktorin
1990, das Jahr, das die deutsche Einheit bringen sollte, war gerade einmal zwei Tage alt, als Eva Maria Hoyer als stellvertretende Direktorin in das Museum zurückkehrte. Zwei Jahre später war sie Chefin des Hauses.
Eine Menge Phantasie und ungeheurer Wille gehörten dazu, den Bau und seine gesammelten Schätze rundum aufzuwerten und wieder strahlen zu lassen. Dabei – um diesen etwas plakativen Vergleich zu bemühen – war die Herausforderung des beharrlichen Aufstiegs keine geringere als der Vormarsch in höhere Ligen im Fußball, der auf seinem Gebiet allerdings das grellere öffentlichere Scheinwerferlicht genießt. Aber so hart erkämpft wie im Leistungssport war der Aufstieg des Museums allemal. Und die Triebkraft dahinter musste ebenso ehrgeizig agieren. Eva Maria Hoyer schrieb Bauanträge über Bauanträge, sie verbrachte viel Zeit in Gremiensitzungen, wo über Fördergelder befunden wurde, während sie sich doch viel lieber den wertvollen Ausstellungsstücken gewidmet hätte, die tief in den Museumsdepots und fern der Öffentlichkeit vor sich hin schlummerten. Doch ohne den Verwaltungskram und ohne eine perfekte Vernetzung mit allen Facetten des Leipziger Kulturbetriebs hätten die Museumsschätze wohl eine Dauer-Verbannung in dunkle Aufbewahrungs-Verliese erdulden müssen. Eva Maria Hoyer kämpfte dort, wo beharrlich gekämpft werden musste.
Zwei Kleinode, die Besucherscharen heutzutage in das Grassimuseum ziehen und begeistern, gab es im Jahre 1992 noch nicht wieder – die Pfeilerhalle im spektakulären Art deco und die Josef-Albers-Fenster im Treppenhaus, das größte flächige Glasobjekt mit Bauhaus-Bezug, ein in außergewöhnlichen Farbtönen changierendes, streng geometrisches Kunstwerk.
2005 fand nach langen interimistischen Jahren die Wiedereröffnung des renovierten Hauses statt. 2007 schließlich erhielt die Öffentlichkeit das Museum für Angewandte Kunst zurück. Eva Maria Hoyer verbreitete einen ansteckenden Stolz, der auf die gesamte Festversammlung übersprang, und Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker soll der Direktorin bei dieser Gelegenheit zugeraunt haben: „Das habt ihr gut gemacht.“ Gleichwohl dachte die Chefin weiter und schrieb in den neuen Museumsführer: „Das begrenzte Baubudget ließ … bisher noch nicht die Wiederherstellung aller einst das Gebäude auszeichnenden Details zu.“ Wäre das Budget nicht halbiert worden, hätte die Sanierung die Handschrift von David Chipperfield getragen und dem Haus die ersehnte Prise Globalität verschafft. In der Europaliga der Museen spielte es bereits. Die Ostdeutsche Sparkassenstiftung und die Sparkasse Leipzig erhörten den fein dosierten Ruf nach einem gelingenden Finale, und seit 2012 zieren nun auch die wiederhergestellten Josef-Albers-Fenster das Museum. Drei Jahre später rundeten die Art-deco-Treppenhausleuchten das wertvolle Ensemble stimmig ab.
Die Auferstehung des Museums für Angewandte Kunst, seine Aufnahme in die höchst ehrenwerte Liste national bedeutsamer Kultureinrichtungen in Ostdeutschland und das unermüdliche Wirken von Eva Maria Hoyer – das sind drei Handlungsstränge, die eng miteinander verwoben sind. Die Zeiten waren günstig für den Aufbruch, und das Museum profitierte nachhaltig davon, dass diese Direktorin zur rechten Zeit an seiner Spitze stand und die sich bietenden Chancen nutzte.
Die Klasse, Klasse zu zeigen
Eva Maria Hoyer strahlte ständig eine charmante Strenge aus, was bedeutete, dass jeder, der zu ihr mit einer Frage oder einem Interviewwunsch kam, sein Ansinnen gut begründen musste. Gelang das nicht, machte die Angesprochene auf unnachahmliche Art deutlich, dass da wohl eine gewisse Distanz in den persönlichen Ansprüchen des Fragenden und der Gefragten bestehe. Wem Selbiges absichtsvoll widerfuhr, dem brannte sich solch ein Erlebnis für immer ein. Natürlich funktionierte das Muster der Dialogführung auch auf die entgegengesetzte Weise. Sobald es auf einer Wellenlänge funkte, folgten inspirierende, im Idealfall lange Gespräche mit bleibendem Gewinn für beide Seiten. Bereitete der Austausch begründeter Argumente ihr Freude, ließ Eva Maria Hoyer auch das jeden Gast deutlich – und höchst charmant – spüren.
Im Ruhestand ist Eva Maria Hoyer weit davon entfernt, ihre Privatwohnung in eine Museumskopie zu verwandeln. Das eine oder andere Designobjekt darf es durchaus sein – mehr aber nicht. Die Spuren, die sie professionell hinterließ, sind im Museum für Angewandte Kunst zu besichtigen, und darauf kommt es an.