Er ist ein wenig versteckt hinter einer mit Efeu bewachsenen Mauer. Doch Besucher sind auf dem Alten Israelitischen Friedhof in der Berliner Straße durchaus willkommen. Der ist zwar für die Verstorbenen angelegt, doch Friedhöfe wenden sich bekanntlich auch an die Lebenden. Das gilt besonders für einen jüdischen Friedhof, der mehr als andere Begräbnisstätten Schicksale von Menschen dokumentiert. Mehr als sechs Jahrzehnte, in den Jahren zwischen 1864 und 1928, hat die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig auf dem Areal zwischen der Berliner Straße und der Theresienstraße ihre Verstorbenen beerdigt. Dann wird es dort zu klein.
Laut jüdischem Glauben dürfen Grabstätten nicht erneut vergeben und belegt werden. Daher legt die Israelitische Religionsgemeinde den Neuen Israelitischen Friedhof in der Delitzscher Straße 224 an. Dieser ist – unterbrochen durch die Zeit des Nationalsozialismus – seit 1927 Bestattungsplatz für die Leipziger jüdischen Mitbürger. Auf dem 19.829 Quadratmeter, also knapp zwei Hektar großen Friedhof, gibt es 4.053 Grabstellen. Die Anlage steht unter Denkmalschutz. Erinnert wird auch an die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus den Konzentrationslagern.
Bekannte jüdische Leipziger sind hier begraben
Wer über den Alten Israelitischen Friedhof schlendert, kann viele Namen der Leipziger Historie entdecken. Darunter jenen der Pädagogin und Frauenrechtlerin Henriette Goldschmidt, die den ersten Volkskindergarten sowie die erste Hochschule für Frauen in Leipzig gründet. Die Familie des 1925 verstorbenen Getreidegroßhändlers Samuel Kroch, der Leipzig 1928 das Krochhochhaus zu verdanken hat, ist ebenfalls teilweise hier bestattet. Ebenso Pascal Deuel, der erste Leiter des von Chaim Eitingon für die Bürger der Stadt Leipzig gestifteten Eitingon-Krankenhauses.
Tausende Namen von Menschen, die in Leipzig gelebt und ihre Spuren hinterlassen haben, sind hier in Stein gemeißelt. Doch viele ihrer Grabsteine sind verwittert und somit dem Verfall preisgegeben. Das unterscheidet den alten jüdischen Friedhof kaum von kommunalen Friedhöfen, an deren Grabmalen ebenfalls der Zahn der Zeit nagt. Der Alte Israelitische Friedhof steht jedoch komplett unter Denkmalschutz. Er wird vom städtischen Amt für Stadtgrün und Gewässer – mit Zuschüssen vom Bund und vom Freistaat Sachsen – gepflegt und unterhalten. Dennoch ist der starke Verfall auf dem größten jüdischen Friedhof in Sachsen zu spüren.
Schlichte und aufwändige Grabstätten
Da gibt es schlichte, oft verwitterte und teils umgestürzte Sandsteine. Die erheben sich dicht aneinander gedrängt aus dem Boden. Hebräische Inschriften sind kaum noch zu lesen. Sie stehen Seite an Seite mit Grabsteinen aus Granit oder Marmor. Es gibt Sockel und Grabeinfassungen, aber auch bepflanzte Hügel. Vieles weicht schon vom ursprünglichen jüdischen Bestattungsritual ab. Doch es ist ein Beleg, wie das orthodoxe und liberale Judentum in Leipzig nebeneinander existiert. Es gibt auch aufwändig angelegte Grabstätten im Stile christlicher Bestattungsrituale. Die Gemeinde erlaubte, ab 1884 auch nichtjüdische Angehörige zu beerdigen.
Davidsterne, Thorarollen, die segnenden Hände des Kohen und andere Symbole des Judentums prägen das Bild. Ortsangaben wie Krakau, Brody, Lemberg und Odessa stehen auf Grabmalen und verdeutlichen, woher die jüdischen Familien einst kommen. Die Inschriften sind teils in deutscher, teils in hebräischer Sprache.
Es gibt auch ein Kriegerdenkmal, das von Stolz und Nationalismus berichtet. Es erinnert an die jüdischen Gefallenen im Ersten Weltkrieg. Das Denkmal besteht aus Steinen mit den Namen der Gefallenen. Zwei ruhende Löwen am Fuß symbolisieren ihre Tapferkeit. Wilhelm Haller hat dieses Ehrenmal im Stil des Art déco geschaffen.
An den Außenmauern, aber auch an Zwischenwänden befinden sich die Wandgrabstätten bedeutender jüdischer Familien. Der Friedhof wird von einer Mittelallee durchschnitten, die jede Abteilung in ein linkes und ein rechtes Gräberfeld teilt. Insgesamt ist er in fünf Abteilungen untergliedert.
Kinder müssen auf dem Friedhof spielen
Ein normales Leben können jüdische Bürger im Nationalsozialismus nicht führen. Alles wird in Verordnungen und Verboten geregelt. So dürfen jüdische Kinder nicht auf öffentlichen Plätzen spielen – ihnen bleibt ein Spielplatz auf dem alten Friedhof, wo sie wenigstens unbehelligt sind. Für sie ist dieser ein „guter Ort“, wie Friedhof auf Hebräisch heißt. An diese traurige Situation wird erinnert, für die hier bestatteten Kinder gibt es seit 1996 einen Gedenkstein.
Den Leipziger Juden, sofern sie noch nicht vertrieben oder deportiert wurden, bleibt während des Nationalsozialismus das Begräbnis auf dem Neuen Israelitischen Friedhof verwehrt. Die Toten müssen ab Juli 1940 auf dem alten Friedhof begraben werden, der ansonsten erstaunlicherweise in der NS-Zeit nicht angetastet wird. Zerstört wurde die Trauerhalle und die benachbarte Gärtnerwohnung dann beim großen anglo-amerikanischen Luftangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943. Die Ruinen – auch von zerstörten Gräbern – sind zu einem Hügel aufgeschüttet worden, der auch begrünt wird.
Carlebach Stiftung dokumentiert alle Grabsteine
Die Ephraim Carlebach Stiftung hat die historische Anlage in einem mehrjährigen Projekt umfangreich dokumentiert. So sind alle Grabsteine erfasst, hebräische Inschriften teilweise übersetzt sowie Familienbiografien zu ausgewählten Grabstellen angelegt. Zu diesem Zweck wurden eine Datenbank sowie eine Fotokartei erstellt, die systematisch ergänzt werden. Die Leipziger Fotografin Sylvia Hauptmann hat jede Grabstelle in mehreren Perspektiven in ihrem aktuellen Zustand dargestellt und beschrieben.
Stand: 11.07.2024