Klangvolle Namen! Die ursprüngliche Leipziger Industrie, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts entstand und kräftig expandierte, wies manche Weltmarktfabrik auf. Namen wie Bleichert, Blüthner oder Brehmer sind bis heute geläufig. Und doch waren es tausende viel kleinerer Fabriken, die eher den Alltag und das Nachfrage-Universum der Menschen erreichten. Summarisch heißen sie bis heute oft „Hinterhofbetriebe“. Das ist überhaupt nicht abschätzig gemeint, sondern beschreibt treffend ihren Standort in einer expandierenden Metropole mit einem höchst limitierten Vorrat an Gewerbeflächen. Das Tapetenwerk reiht sich geradezu prototypisch in den Kreis der nützlichen Hersteller der sagenhaften „tausend kleinen Dinge“ ein, die meist erst dann so richtig auffallen, wenn sie mal nicht sofort zur Hand sind. Gleichwohl wäre es müßig, zu erwarten, dass heutzutage noch Tapeten aus dem Tapetenwerk kommen. Wichtigster „Output“ der kräftig umgebauten Fabrik ist vor allem eine facettenreiche Industriekultur.
Am Anfang stand der Wandschmuck
Erinnern Sie sich, wie schwungvoll ABBA-Sängerin Agnetha Fältskog in dem Video zu „One of us“ ihre neue Wohnung tapeziert? So haben es in der sehr praktisch orientierten DDR Millionen Heimwerker ebenfalls gehalten. Ob sie beim Entfernen der Verpackungshülle von jeder Tapetenrolle einen Blick auf das Etikett des Herstellers geworfen haben, weiß kein Mensch. Hätten sie es getan, wäre auf unzähligen Rollen der Herstellervermerk VEB Tapetenwerk Leipzig aufgetaucht.
Das Werksgelände mit seinen markanten Gebäuden aus der Gründerzeit existiert bis heute. Dort wird sogar der Ursprungsname hochgehalten. Aus gutem Grund.
Die Idee einer industriellen Tapetenfertigung hatten Robert und Adolf Langhammer im Jahre 1883. Lindenau gehörte zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Stadt Leipzig, sondern war eines der stärksten „Industriedörfer“, die sich in einem kompakten Ring rund um die noble Messestadt gruppierten und mit einer immer dichteren Skyline aus rauchenden Schloten von sich reden machten. Dörflich war damals in Lindenau allenfalls noch die Herkunft. Auftrumpfen konnte die selbstständige Gemeinde ebenso wie das benachbarte einstige Bauerndorf Plagwitz mit modernen Fabriken, in die Höhe wachsenden Wohnbauten und einer Pferdebahn, die zuverlässig nach Leipzig verkehrte. Weil es viele wagemutige Fabrikanten dorthin zog, waren die verfügbaren Grundstücke schnell belegt oder gar vergriffen.
Reizvolle, klassische Fabrikarchitektur
So auch im Falle des Tapetenwerks. Viel Fläche zum Wachsen stand nicht zur Verfügung. Die Anordnung der einzelnen Gebäude zeigte es: Vorn die bereits sehr städtische Lützner Straße, hinten eine Ladestelle an den Industriegleisen, die eine Verbindung zum Weltmarkt bahnten. Dazwischen ein schmales Areal mit länglichen Fabrikationsgebäuden, einem Kontorhaus – alles ausgeführt in Ziegelbauweise ohne viel Putz und Zierrat – und mit beengten Verkehrsflächen dazwischen, die eher Schluchten glichen.
An dieser äußeren Gestalt hat sich bis heute wenig geändert. Vorn verläuft die lebendige Lützner Straße mit ihrer Straßenbahntrasse, hinten dehnt sich das Terrain, wo einst die Industriegleise lagen und heute der Henriettenpark zum Verweilen einlädt. Die eigentliche Veränderung steckt in den Fabrikgebäuden selbst.
Dachte zu DDR-Zeiten wahrscheinlich jeder, dort würden „ewig“ Tapeten produziert, kam nach einem gewagten Neustart unter marktwirtschaftlichen Verhältnissen schließlich doch das Aus für den Produktionsbetrieb, der einmal der zweitgrößte deutsche Tapetenhersteller war. Die neue westdeutsche Eigentümerfirma wurde insolvent und riss ihre Leipziger Firmentochter mit in den Strudel der Liquidation. Das Ende des Wandschmucks aus ornamental bedrucktem, robustem Papier war gekommen.
Fast schon ein Sehnsuchtsort der Kreativen
Zwei Architektinnen verfolgten die Idee einer industriekulturellen Umgestaltung und Wiederbelebung der früheren Fabrik und kauften im Jahr 2006 die Immobilie Tapetenwerk der Treuhand-Immobiliengesellschaft ab. Sie planten einen neuen Zuschnitt der historischen Räume für einen „Produktionsbetrieb“ der unkonventionellen Ideen, wie sie nur von besonders Kreativen stammen können. Manchmal stellt das wechselnde, matrixartige Verfahren des inspirierenden Zusammenwirkens verschiedener Berufe – neudeutsch zu Co-Working verklärt – die eigentliche Innovation dar. Im Tapetenwerk heutigen Zuschnitts sind Architekten, Künstler, Handwerker, Kulturmanager, Buchgestalter und Galerien angesiedelt, und sie leben vom intensiven, gegenseitigen Austausch, von dem alle Seiten profitieren. Wert gelegt wird auf Frei-Räume. Und eine einladende Kantine mit schmackhaften Gerichten aus gesunden, regionalen Zutaten gibt es außerdem, wo der angebahnte Gedankenaustausch oft genug weitergeht.
Bei all diesen schöpferischen Prozessen ist das Tapetenwerk beileibe kein Kokon mit interessanten Leuten, die gern unter sich bleiben wollen, ehe ein Projekt die nötige Reife erreicht hat. Das Tapetenwerk folgt im Gegenteil dem Gedanken größtmöglicher Offenheit. Dafür stehen vor allem die Galerien, und dafür stehen die Tapetenwerkfeste, die regelmäßig zu Rundgängen einladen.
Fachleute, die sich mit der Zukunft der Arbeitswelt beschäftigen, stufen das Tapetenwerk weit oben auf der Skala moderner Ideenproduktion und einer inspirierenden Nutzung historischer Fabrikanlagen ein. Auch die Stadt Leipzig verlegt Workshops, in denen der nationale und internationale Austausch über die Zukunft umbrechender Stadtquartiere und einer gesunden Mischung aus Wohnen und Gewerbe mit auswärtigen Partnern geführt wird, gern in das Tapetenwerk.
An diesem Hotspot der Industriekultur fallen Schranken – falls sie denn überhaupt existiert haben. Besucher sind herzlich willkommen, den Produzenten kreativer Ideen über die Schulter zu schauen und vor allem die Ergebnisse des zeitgenössischen künstlerischen Schaffens am authentischen Entstehungsort in Augenschein zu nehmen. Das Tapetenwerk behauptet damit einen festen Platz in der aktuellen Leipziger Kreativszene.
Stand: 09.06.2022