Auf den Bergbau im Erzgebirge und die Textilindustrie in den Städten stützte sich das deutsche industrielle Kernland Sachsen anfangs vor allem. Die aufblühende Industriestadt Leipzig folgte diesem Muster und verdankte ein Gutteil ihrer Geltung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der florierenden Textilindustrie und ihren Vorstufen. Ein Branchenprimus genießt Weltgeltung bis heute – die Leipziger Baumwollspinnerei. Doch nicht mehr als Arbeitsstätte tausender Frauen, sondern in erster Linie als Zentrum von Künstlerateliers und Galerien. Hier steckt der industrielle Wandel förmlich in jeder Mauerritze.
Am Kanal wächst eine Fabrikstadt
Früher handelte es sich bei der Baumwollspinnerei um eine nahezu geschlossene Fabrikstadt, die sich über eine Gesamtfläche von zehn Hektar erstreckte. Den Kern bildeten die Fabrikationsstätten; am Rand der geschäftigen Stadt in der Stadt – zur Thüringer Straße hin – reihte sich für die dort Beschäftigten Wohnhaus an Wohnhaus. Die Baumwollspinnerei war ein schmuckes Kind des phänomenalen industriellen Aufschwungs der jungen Großstadt Leipzig nach 1871. Sie entstand ab 1884 auf freiem Gelände, aber in weiser Voraussicht einer kommenden, leistungsstarken infrastrukturellen Anbindung. Gegenüber vom damaligen Bahnhof Plagwitz-Lindenau gelegen, war dem Industriebetrieb eine Anschlussbahn bis vor die Fabrikhallen ebenso sicher wie der Zugang zu den Brauchwasserressourcen des entstehenden Elster-Saale-Kanals, den heutzutage jedermann nur als Karl-Heine-Kanal kennt.
Insgesamt vier Entwicklungsschübe ließen „die Spinne“ längs der Anschlussbahn wachsen, deren Gleise bis heute im Pflaster der innerbetrieblichen Werkstraße zu finden sind. Eigene Baumwollplantagen in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika sicherten der Baumwollspinnerei den Rohstoffbezug. Damit machte sich das Unternehmen unabhängig vom Baumwollimport aus England, der bis dahin dominiert hatte.
Primus im Kreis der europäischen Spinnereien
Im Gründungsjahr 1884 drehten sich in Lindenau, das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht nach Leipzig eingemeindet war, 30.000 Spindeln. 1909 – am Höhepunkt der Unternehmensentwicklung – waren es 240.000. Damit stieg die Leipziger Baumwollspinnerei zur größten in Kontinentaleuropa auf. Eine klassische gemalte Fabrikansicht öffnet das Fabrikpanorama über den Kanal hinweg bis zur Spinnerei und zu weiteren Plagwitzer Unternehmen in der Ferne. Überall rauchende Schlote – so sah damals Fortschrittsgewissheit aus, und Leipzig verströmte mit seinen Großbetrieben eine Menge davon. 1928, am Vorabend der Weltwirtschaftskrise, fand sich die Baumwollspinnerei nach ihrem Aktienkapital auf Rang 21 der größten Leipziger Unternehmen. Doch mit ihren 2.290 Beschäftigten war sie die Nummer 2 der Großindustrie in der Messestadt.
1946 ging die Baumwollspinnerei in Volkseigentum über. Ihr wirtschaftlicher Rang als Exportbetrieb blieb bestehen. Allerdings ließ sich die Wettbewerbsposition im Laufe der Zeit nur unter Mühen aufrecht erhalten. Spinnereien in den Anbauländern der Baumwolle ließen sich viel kostengünstiger betreiben. Die deutsch-deutsche Währungsunion ab dem 1. Juli 1990 schuf Tatsachen: In D-Mark zu zahlende Löhne für die in Leipzig versponnene, importierte Baumwolle trieben den Betrieb in der Weltmarktkonkurrenz vollkommen ins Abseits. 1993 kam das Aus für die Garnproduktion in dem Traditionsunternehmen. Als letzter aktiver Betriebsteil bestand die Reifencordherstellung an der Alten Salzstraße bis in die frühen 1990er Jahre. Dann schwiegen auch dort die grenzwertig beanspruchten Maschinen, und ein Großbetrieb mit einst tausenden Beschäftigten verschwand aus dem Handelsregister.
From Cotton to Culture – was für ein Wandel
Ein Investor aus Köln erkannte zum Glück das in den massiven Fabrikgebäuden schlummernde Potential. Als Produktionsstätte von Wolle waren sie aus dem Marktgeschehen ausgeschieden. Als neues Domizil für Kreative eigneten sie sich dagegen vorzüglich. Der Slogan „From Cotton to Culture“ für das Spinnereigelände verdichtet den Anspruch zur Gewissheit. 24 markante Gebäude und Gebäudeteile finden sich auf dem optischen Wegweiser am Eingang zur Fabrik. Manche erwecken den Eindruck, dass hier erst vor Kurzem der letzte Zug mit Baumwollballen oder Kohle angekommen ist, andere stellen den Wandel hinter den historischen Fassaden demonstrativ heraus. Seit 2001 ist der gelernte Architekt Bertram Schultze Geschäftsführer der Betreibergesellschaft der Spinnerei. Er ist davon überzeugt, dass niedrige Mieten die Basis für Künstler und Kreative sind, dass sie Räume anmieten und ohne Druck arbeiten können.
Zwölf Galerien haben sich hier angesiedelt, darunter Eigen+Art von Gerd Harry „Judy“ Lybke. In mehreren Ateliers arbeiten bekannte Maler der Leipziger Schule. Es kann durchaus passieren, dass einem zwischen den Fabrikgebäuden Neo Rauch auf seinem Fahrrad entgegenkommt. Spezialgeschäfte für Künstlerbedarf stellen die materielle Basis für die neuen Werke sicher. Das SpinLab in Regie der Handelshochschule nutzt die knisternde Atmosphäre des Areals, um versponnenen Produktideen junger Innovatoren den Weg zum Pionierunternehmen zu bahnen. Und ein Ingenieurbüro, das auf vielfältige Weise den industriellen Wandel in Leipzig und drumherum begleitet, ist ebenfalls Mieter auf dem Spinnereigelände. Lofft – das Theater für Tanz, Theater und Performances bildet in der Halle 7 die jüngste Ansiedlung in der zu Kreativität einladenden Umgebung. Grelle Leuchtbuchstaben im Werbestil der 1960er Jahre weisen den Weg.
Favorit der Umgestaltung
Bundes- und Landesprominenz ist gern und häufig zu Gast in der Baumwollspinnerei. Wo sonst lässt sich so eindringlich der Wandel von einem epocheprägenden Industrieareal zu einer Heimstatt für Kreative zahlreicher Richtungen und Inspirationen ablesen?! Deshalb fiel die Wahl zur anschaulichen Präsentation einer gelungenen Transformation schon mehrfach auf die Baumwollspinnerei. Tage des Stadtumbaus sind ebenso wie der Tag des offenen Denkmals oder der Tag der Industriekultur wie geschaffen für einen Besuch des weitläufigen Areals. Vom jährlich dreimal durchgeführten Rundgang – SpinnereiGalerien als Großereignis für Kunstinteressierte ganz zu schweigen.
Es ist die Stärke dieses versunkenen Fabrikgeländes, dass es industriekulturell Interessierte mit authentischen Sachzeugen anzieht, während Freunde der Kunst ihren passenden Zugang zur stillen Welt der Ateliers oder zu heißen Debatten in dem dafür eingerichteten Kunstzentrum in der Halle 14 finden.
Stand: 25.12.2021