Es ist ein Museum in Bewegung, das sich gerade neu erfindet. „Reinventing Grassi“ ist die intensive Selbstbefragung und Umstrukturierung des GRASSI Museums für Völkerkunde am Johannisplatz überschrieben. Die Institution krempelt alle bisherigen Ausstellungsteile um und beendet so die gewohnte Reise rund um eine Welt, die einst verschiedene Länder und Kontinente in den Vordergrund rückte. Ziel ist es, das ethnologische Museum in die Zukunft zu geleiten und die eigene museale und koloniale Geschichte kritisch aufzuarbeiten.
Karl Weule und die Makonde-Masken
Der Weg dazu ist umstritten und gelegentlich mit einem Aufschrei verbunden. Etwa als mit Karl Weule (1864-1926) einer der berühmten Direktoren vom Sockel geholt und seine Stele im Treppenaufgang regelrecht „zermörsert“ wird. Weules Name ist eng mit den Makonde-Masken verbunden. Einige Sammelstücke sind berühmt, waren schon in New York, Berlin und London ausgestellt. Weule, der erste Professor für Völkerkunde in Deutschland, hat sie bei einer Expedition in die damaligen deutschen Kolonialgebiete 1906 nach Leipzig geholt. Und das ist das Problem. Die Museen wollen nicht mehr wegschauen, wie ihre Exponate in die Sammlungen gekommen sind. Ob geraubt, gekauft, getauscht – es gibt viele Fragen, die nicht immer leicht zu beantworten sind, da etliche Objekte undatiert sind. Der Großteil ist aber korrekt erworben.
Das Museum wird 1869 von der Leipziger Bürgerschaft gegründet. Die Sammlung des Dresdner Hofrats und Bibliothekars Gustav Klemm legt dabei den Grundstock. 1874 erfolgt die offizielle Eröffnung im ehemaligen Johannishospital. Weil die Anzahl der Exponate rasch zunimmt, wird für ihre Präsentation ein eigenes Gebäude benötigt. Im Grassimuseum am Königsplatz (heute Stadtbibliothek am Wilhelm-Leuschner-Platz) erhält die Sammlung 1895 eine erste Heimstatt. 1929 erfolgt der Umzug ins heutige Domizil im damals neuen Grassimuseum am Johannisplatz, das 1925 bis 1929 errichtet wird. Beim größten Luftangriff auf Leipzig wurde es 1943 weitestgehend zerstört, etwa 30.000 Objekte gingen in den Flammen unwiederbringlich verloren.
1947 begann der Wiederaufbau, 1954 öffnete mit den Abteilungen Ozeanien/Australien sowie Indonesien die erste Dauerschau nach dem Zweiten Weltkrieg. 1981 verursachte eine Havarie an der Heizungsanlage eine Schließung der Ausstellungen, erst 1985 konnte die Dauerschau wieder besucht werden.
Ein Neuanfang mit Lektion im Anti-Kolonialismus
1991 geht das Völkerkundemuseum in die Regie des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst über. 2004 fusionieren die Völkerkundemuseen Leipzig, Dresden und Herrnhut zu den Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen. Das Grassimuseum wird schließlich 2001 bis 2005 saniert. Schrittweise wird die Dauerausstellung „Rundgänge in einer Welt“ eröffnet, die im November 2005 zum 140. Geburtstag des Museums für Völkerkunde zunächst Südasien vorstellt. Weitere Länder und Kontinente folgen – doch die bisherige Ausstellungspraxis wird in Frage gestellt. Es beginnt eine Neuausrichtung als Lektion in Anti-Kolonialismus.
Ein Beispiel sind die wertvollen Benin-Bronzen, einst das Aushängeschild der Leipziger Völkerkunde-Sammlung, die etwa 200.000 Objekte und 100.000 Archivalien zählt. Die Benin-Bronzen stammen größtenteils aus den Plünderungen der britischen Royal Navy 1897 im Königreich Benin, dem heutigen Nigeria. Der afrikanische Staat will die Bronzen wiederhaben. Sachsen hat bereits einige Objekte zurückgegeben. Das Museum macht dies in der Ausstellung zum Thema. Dabei kommt es auch zum Perspektivwechsel. Künstlerin Mary Osaretin Omorgie aus Lagos erzählt die Geschichte Benins aus der Sicht von Frauen, um bis heute geltende patriarchalische Strukturen zu durchbrechen.
Meyers Gipfelraub am Kilimandscharo
Selbst ein Stück der Zugspitze lagert in einer Art Geiselhaft im Museum. PARA, ein Künstlerkollektiv, hat am 16. September 2021 die obersten sechs Zentimeter der Zugspitze entfernt. Der höchste Berg Deutschlands, heißt es, wäre nun nicht mehr ganz 2962 Meter hoch. Mitbekommen hat das wohl kaum einer. Der entfernte Stein lagert in einem angeketteten Tresor in der Ausstellung in Leipzig und kann mit Hilfe einer Kamera betrachtet werden. Erinnert wird damit an den Gipfel-Raub, den der Leipziger Geograf und Kolonialpolitiker Hans Meyer 1889 verübt, als er Gestein aus der Spitze des Kilimandscharo entnimmt und als Trophäe aus Tansania, damals Deutsch-Ostafrika, in die Heimat mitbringt.
Meyer, ein Förderer des Museums, soll den Stein zersägt haben. Eine Hälfte überreicht er Kaiser Wilhelm II., die andere nutzt er der Legende nach als Briefbeschwerer. Jenes Stück, von einem Nachfahren Meyers angekauft, liegt inzwischen im Wiener Antiquariat Kainbacher und soll für 35.000 Euro zurückerworben werden. Ziel ist es, den Stein an Tansania zurückzugeben. Selbst die Bausubstanz des Grassimuseums wird ein wenig zerbröseln. Aus jenem Material sind Repliken hergestellt, die dann in einer Crowdfunding-Kampagne erworben werden können.
Ein Blick auf Völkerkunde in der DDR
Die Dauerausstellung im Museum kann seit Anfang 2024 kostenfrei besichtigt werden. Sie bietet sich als Diskussionsforum an – im Gegensatz zum einst etwas autoritären Bildungstempel. Im Mittelpunkt stehen Aspekte, die Leipzig mit der Welt verbinden. Ein neuer Ausstellungsteil Völkerfreundschaft ermöglicht einen Blick zurück in die Ethnologie in der DDR vor 1990. In Vitrinen stehen beispielsweise diplomatische Geschenke an die Staats- und Parteiführung der DDR, die ans Museum weitergereicht wurden: eine Riesenvase aus Vietnam mit Erich Honeckers Konterfei oder ein Pionier-Halstuch aus Nordkorea. Zu sehen sind auch eine Friedenspfeife aus der Prärie, ein mexikanischer Bauarbeiterhelm oder eine Kaffeekanne aus Bagdad sowie ein aus Gras geflochtener Bus. Damals konnten die DDR-Bürger nicht frei reisen. Museen wurden zu Sehnsuchtsorten, an denen sie an einem Tag „die Welt erleben“ konnten.
Am Beispiel der vielen „Indianistik“-Klubs zeigt eine Präsentation, welchen Einfluss die Völkerkunde auf das Privatleben, die Nischen- und Popkultur in der DDR hatte. Federhauben oder Tomahawks von amerikanischen Indianer-Stämmen sind zwar derzeit in der Ausstellung nicht mehr zu sehen. Doch es werden auch Fragen diskutiert, ob man eigentlich überhaupt noch Indianer sagen darf? Eine einfache Antwort, einen für alle Interessengruppen und Situationen funktionierenden Begriff gibt es darauf nicht – das Museum wirbt dafür, sich vor allem mit Respekt zu begegnen. Überall auf der Welt!
Stand: 25.2.2024