Einzelne Bauwerke können so üppig dimensioniert, gleichwohl so harmonisch gestaltet sein, dass ihnen auch die Lage zu beiden Seiten eines größeren Gewässers nichts ausmacht – sie werden als zusammenhängendes Ensemble erkannt und wahrgenommen. Auf die Buntgarnwerke, die ihren Ausgangspunkt in Plagwitz nahmen und in den Jahren ihres ungestümen industriellen Wachstums über die Weiße Elster hinweg am anderen Ufer nach Schleußig ausgriffen, trifft dieser Befund uneingeschränkt zu.
Kein Wollfaden wird hier mehr gesponnen. Dafür wohnt es sich umso attraktiver direkt am Wasser, wo im Sommer die Ausflugsboote in derart dichter Folge vorbei gleiten wie auf anderen Magistralen die Automobile. Gelungene Umnutzung früherer Industriegebäude sagen Fachleute dazu.
Florierende Geschäfte mit bunten Garnen
Im Jahre 1875 zog es die im Leipziger Textilhandel versierten Kaufleute Carl Augustin Tittel und August Andreas Krüger in das aufstrebende Plagwitz vor die Tore der Stadt. Ihre Gründungsidee zielte auf eine Dampffärberei, um im Herstellungsprozess der Textilien mit seinen zahlreichen vorgelagerten Stufen Fuß zu fassen. Es war jene Zeit, als die durch Karl Heine vorangetriebenen Erschließungsarbeiten auf den früheren Agrarflächen im Vorfeld von Leipzig Früchte zu tragen begannen. Tittel und Krüger fanden ein geeignetes Gewerbegrundstück direkt an der Weißen Elster. Zwischen 1887 und 1895 entstand nach Plänen der Architekten Ottomar Jummel sowie Pfeiffer & Händel das unverwechselbare Gebäude der Buntgarnwerke. Zwölf Jahre nach der Ansiedlung beschreibt ein Firmenporträt bereits einen „großartigen Fabrikkomplex dieses Welthauses.“
Die Geschäfte liefen gut. 1887 wurde die Sächsische Wollgarnfabrik AG, vormals Tittel & Krüger, in das Handelsregister eingetragen. Die folgende Unternehmensgeschichte verlief vor allem als Baugeschichte, deren Spuren bis heute zu besichtigen sind. Auf die ersten bescheidenen Anbauten an die ursprüngliche Dampffärberei folgten schon bald die sogenannten Hochbauten, die fünf Stockwerke hoch aufragten und wohl entscheidend zum Wandel des Erscheinungsbildes des einstigen Bauerndorfs Plagwitz beitrugen. 1888 entstand der Hochbau West, der sich ein reichliches Jahrhundert später in die Elsterlofts verwandelte. Die Architekten des Umbaus fanden in den 1990er Jahren zwei günstige Voraussetzungen vor – die in der Entstehungszeit von den Eigentümern der Wollgarnfabrik geforderte attraktive Bauweise, die der Backsteinarchitektur ein möglichst repräsentatives Erscheinungsbild entlocken sollte sowie die stabile Konstruktion mit gusseisernen Trägern, die ja erforderlich war, um den schweren, in ununterbrochener Bewegung schwingenden Maschinenpark sicher zu tragen. Zusammen mit der Lage am Flussufer ergab sich daraus eine nahezu ideale Umbau-Perspektive.
Industriearchitektur von besonderer Qualität
Der nach Leipzig gewechselte Architekt Gunnar Volkmann geriet beim Blick auf den Stadtteil ins Schwärmen: „Plagwitz hat alle Chancen. Aus dem Ruhrgebiet kommend, ist man fasziniert vom geschlossenen Bild dieses Leipziger Stadtteils“, schrieb er 1999. Denn die Wollgarnfabrikanten hatten es ja nicht bei einem Hochbau belassen. Die Expansion des Unternehmens verlangte nach weiteren Fabrikräumen für die inzwischen mehr als 2.000 Beschäftigten. Ab 1897 entstanden die Hochbauten Mitte und Nord – ebenfalls am Plagwitzer Ufer der Weißen Elster bzw. entlang der Nonnenstraße. 1906 folgte auf dem gegenüberliegenden Schleußiger Ufer der Hochbau Süd, nunmehr allerdings in Stahlbetonbauweise, die sich in jenen Jahren durchzusetzen begann.
Den eiligen innerbetrieblichen Austausch zwischen den Hochbauten zu beiden Seiten der Weißen Elster stellte eine zweietagige, überdachte und verglaste Brücke in Höhe der zweiten und dritten Obergeschosse her. Ebenfalls von Ufer zu Ufer spannte sich eine genietete Gitterbrücke, auf der das bereits seit 1888 vom Bahnhof Plagwitz heranführende Anschlussgleis bis vor den Schleußiger Betriebsteil verlängert wurde.
Alle Bauten der Wollgarnfabrik zusammen verfügten über eine Bruttogeschossfläche von rund 100.000 Quadratmetern, was annähernd der Ausstellungsfläche des heutigen Geländes der Leipziger Messe im Norden der Stadt entspricht. Der weiße Schwan, das eingetragene Warenzeichen der Wollgarnfabrik, war eine Weltmarke. Das Unternehmen, das nach dem Zweiten Weltkrieg enteignet wurde, in Volkseigentum überging und fortan als VEB Buntgarnwerke firmierte, behauptete sich in den schwierigen Textilkonjunkturen des 20. Jahrhunderts bis zum Jahr 1990. Doch als die wankende DDR durch die deutsch-deutsche Währungsunion am 1. Juli 1990 im Handumdrehen in die Weltwirtschaft integriert wurde, kam das schnelle Aus. Den Kostenvorteil asiatischer Produzenten konnte das Leipziger Unternehmen nicht wettmachen. Dafür begann mit umfangreichen Sanierungsarbeiten unter der Regie verschiedener engagierter Eigentümer ein neuer Lebensabschnitt der Buntgarnwerke. Von der Maschinerie befreit, wandelten sich die Hochbauten am Elsterufer vor allem zu gefragten Lofts.
Attraktives Leben am Flussufer
Den schönsten Blick auf den Gebäudekomplex gewinnt der Betrachter zweifellos von der Straßenbrücke über die Weiße Elster, die jetzt Karlbrücke heißt. So majestätisch, mit klarer Betonung der horizontalen und vertikalen Fassadengliederung ragten die Hochbauten schon in den über hundert Jahren auf, als sich in den hell erleuchteten Fabriksälen alles um gefärbte Wolle drehte. Doch – um ehrlich zu sein – verfielen damals nur wenige Passanten auf die Idee, sich von der Brücke her dem Genuss der klassischen Industriearchitektur hinzugeben. Zu geruchsintensiv wälzte sich damals die Weiße Elster dahin. Dass der industrielle Strukturbruch mit dem Beginn einer groß angelegten Sanierung der Gewässer einherging, war deshalb ein Glücksfall, von dem die heutigen Bewohner der Buntgarnwerke besonders profitieren.
Einige Büros und Einzelhandelsflächen runden das neue Profil in Deutschlands größtem Industriedenkmal ab. Und als größter erhaltener Industriekomplex der Gründerzeit hält das Areal sogar den einschlägigen Europarekord.
Äußerlich also alles perfekt? Leider nicht vollkommen. Die Eisenbahnbrücke wurde im Jahr 2015 demontiert, weil der Zahn der Zeit zu stark an der Stahlstruktur genagt hatte. Würde die Brücke über die Weiße Elster heute noch stehen – sie wäre als Fußweg eine perfekte Verknüpfung für alle Besucher der wunderbar aufgefrischten Buntgarnwerke.
Stand: 26.09.2023