Rosensonntagsumzug

Markt / Innenstadt | Ortsteil: Zentrum

Eine Karnevalshochburg wie Köln oder Wasungen ist Leipzig sicherlich nicht. Dennoch begeistern enthusiastische Närrinnen und Narren Jahr für Jahr mit einem Rosensonntagsumzug – jeweils einen Tag vor Rosenmontag. Organisiert wird die beliebte Veranstaltung vom Förderkomitee Leipziger Karneval seit 2000. Löwin Leila – das ist das Maskottchen der Leipziger Karnevalisten – führt den Umzug durch die Leipziger City an. Leila ist eine Abkürzung für „Leipzig Lacht“ – und zwar „Herzlich und Laut“. Daraus ergibt sich der Schlachtruf „Leila helau!“.

Maskottchen wird erstmals 1984 gekürt


Die Löwin Leila als Maskottchen der Leipziger Karnevalisten wird am 4. November 1984 zur ersten Karnevals-Leistungsschau des Bezirkes Leipzig in der Leipziger
Kongreßhalle am Zoo gekürt. Der Verein Förderkomitee Leipziger Karneval nimmt die Löwin ab 11.11.1992 unter seine Fittiche. Jedes Jahr wird seitdem eine junge Dame aus den beteiligten Karnevalsvereinen für die fünfte Jahreszeit als Oberhaupt gekürt. Die Löwin übernimmt jeweils am 11.11. die Regentschaft und repräsentiert die Leipziger Narren auch über die Grenzen Leipzigs hinaus. Löwin Leila, eine mindestens 18 Jahre alte junge Dame, wird für eine Saison gekrönt. Jede darf nur einmal im Leben die Repräsentantin des Leipziger Karnevals sein.

Rosensonntagsumzug belebt Tradition neu


Erstmals seit den 1950er Jahren gibt es im Jahr 2000 wieder einen größeren Karnevalsumzug durch die Innenstadt. Das Förderkomitee Leipziger Karneval, verschiedene Gastronomen der
Drallewatsch – Kneipenmeile und Mitglieder vom Verein City Management haben ihn organisiert, um diese Tradition neu beleben. 1954 und 1955 kamen schon einmal Tausende Messestädter zu dem Straßen-Spektakel. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wollen die Machthaber dem Volk ein Ventil bieten. So wird in einer Hauruck-Aktion 1954 ein Elferrat ins Leben gerufen. Viele der Sprüche gefallen den SED-Funktionären allerdings nicht.

In Zeitungen melden sich daher Brigaden zu Wort, die die Werktätigen aufrufen, sich nicht an den Umzügen zu beteiligen, weil dadurch Arbeitsstunden ausfallen. Für 1955 wird ein Kompromiss gesucht: Der Umzug beginnt erst nach der Arbeit, die Strecke wird gekürzt. Trotzdem sind auch 1955 zum Umzug die Massen auf den Beinen. Ein Jahr später gibt es keine Straßenumzüge mehr. Dennoch wird in der DDR Fasching gefeiert, darunter in den großen Leipziger Sälen von Vergnügungsstätten wie Felsenkeller oder Elstertal.

„Goldene Rose“ für Verdienste um Karneval


Gleichzeitig wird jedes Jahr die „Goldene Rose“ – auch „Leipziger Bliemchen“ genannt, verliehen. Leipziger Karnevalisten knüpfen mit dieser Rose an eine sehr alte Tradition an. Im 11. Jahrhundert soll der Papst von seinem Balkon in Rom aus vor der Fastenzeit rote Rosen verschenkt haben. In Leipzig wird die „Goldene Rose“ erstmals 1998 verliehen.

Hergestellt wird sie vom Ehepaar Monika und Gunter Heyn. Das sind Goldschmiedemeister aus Leipzig-Thekla. Sie trocknen jeweils eine echte Rose und überziehen sie mit Gold. Erster Preisträger ist Leipzigs damaliger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube, der für seine Verdienste um den Leipziger Karneval geehrt wird. Weitere Preisträger in den Folgejahren sind Manfred Uhlig, ein Leipziger Urgestein der DDR-Unterhaltungskunst, und Kabarettist Jürgen Hart, der als Schlagerbarde mit „Sing, mei Sachse sing“ die legendäre Sangeslust der Sachsen in die Welt hinausträgt. Swing-Legende Fips Fleischer, Zoochef Jörg Junhold, der Handballclub Leipzig, The Firebirds, das Team der in Leipzig gedrehten MDR-Krankenhausserie „In aller Freundschaft“, Schlagerstar Frank Schöbel und viele andere werden ebenfalls geehrt. 2024 erhielt das Team des Krystallpalast Varietés die Auszeichnung.

In den letzten Jahren startete der Rosensonntagsumzug meist am Brühl und verlief über Hainstraße, Markt (Westseite), Petersstraße, Preußergässchen, Neumarkt, Reichsstraße, Salzgässchen zum Markt.

In der Corona-Zeit muss Leipzig zwei Jahre lang auf seinen Straßenkarneval verzichten. 2023 steht er wegen explodierender Kosten, etwa für die Straßenreinigung, auf der Kippe. Durch eine Crowdfunding-Aktion, bei der Spenden gesammelt werden, kann er aber in letzter Minute gerettet werden. 2024 wurde der 25. Geburtstag des Spektakels gefeiert: Bunt geschmückte Wagen rollen an tausenden Zuschauern vorbei und verteilen Konfetti, Bonbons und Frohsinn. Die im Förderkomitee Leipziger Karneval organisierten Vereine zeigen Ausschnitte aus ihren Programmen vor dem Alten Rathaus auf dem Markt.

Stand: 11.02.2024

Neuer Israelitischer Friedhof

Delitzscher Straße 224 | Ortsteil: Eutritzsch

„Stärker als der Tod ist die Liebe“ steht über dem Eingang der Trauerhalle. Es ist ein schmuckloser Bau aus den 1950er-Jahren. Er steht hinter einer Mauer an der Delitzscher Straße. Von außen ist der Blick auf die Gräber des Neuen Israelitischen Friedhofs unmöglich. Doch das sollte niemanden abschrecken, diesen besonderen Erinnerungsort unter vielen alten Bäumen zu erkunden. Wer dort entlang spaziert, kann auf den Grabsteinen viele Namen entdecken, die untrennbar mit der Leipziger Geschichte verbunden sind. Jenen des Musikers und Chorpädagogen Barnet Licht beispielsweise, der den Synagogenchor geleitet hat. Zu finden ist auch das Grab von Werner Sander, der 1963 den Leipziger Synagogalchor gründete. Oder jenes des Pelzkönigs Chaim Eitingon, der Leipzig ein Krankenhaus schenkte. Der Neue Israelitische Friedhof ist nach der ersten, nicht mehr existierenden Begräbnisstätte im Johannistal und dem Alten Israelitischen Friedhof an der Berliner Straße die dritte jüdische Ruhestätte in Leipzig. Wie alle jüdischen Friedhöfe erlebt das Areal eine wechselvolle Geschichte.

Ein jüdischer Friedhof für die Ewigkeit


Das Land am nördlichen Stadtrand gehört der
Israelitischen Religionsgemeinde seit 1901. Damals ist absehbar, dass der bisherige Alte Friedhof nicht ausreicht. Nach der Halacha, den rechtlichen Überlieferungen des Judentums, dürfen Gräber nicht doppelbelegt oder ausgehoben werden. Jüdische Friedhöfe sind für die Ewigkeit bestimmt. 1925 startet der Bau der Anlage nach Plänen des Leipziger Gartenarchitekten Otto Moosdorf. Imposant wird die Trauerhalle, die der Architekt Wilhelm Haller entwirft. Es ist eine Dreiflügelanlage, die Funktionsräume um einen zentralen Kuppelbau beherbergt. Die 21 Meter hohe monumentale Kuppel prägt durchaus den gesamten Stadtteil.

Der Neue Israelitische Friedhof an der Delitzscher Landstraße (heute Delitzscher Straße) wird am 6. Mai 1928 feierlich geweiht. Bereits zehn Jahre später, beim Novemberpogrom 1938 fallen die Flügelbauten der Trauerhalle einem Brandanschlag der Nationalsozialisten zum Opfer. Die Kuppelhalle kann dem Feuer zwar widerstehen. Doch am 24. Februar 1939 wird sie auf Betreiben der Stadtverwaltung gesprengt. Bereits 1936 ordnet diese die Einebnung des ersten jüdischen Friedhofs im Johannistal an der Stephanstraße an.

Messjuden gründen ersten jüdischen Friedhof Leipzigs


Dieser Friedhof wird 1814 von Messjuden aus dem galizischen Brody außerhalb der Stadtmauern gegründet. Dafür gibt es einen simplen Grund: Es ist einfach mühsam, während der
Leipziger Messe Verstorbene zu überführen. Die Stadtväter wissen jedoch, welchen beträchtlichen Nutzen ein Messebesuch polnischer Juden dem Handelsplatz Leipzig bringt. Deshalb entsteht der Friedhof lange bevor sich in Leipzig eine jüdische Gemeinde etablieren darf. Für Beisetzungen wird er bis 1864 genutzt. Seine Geschichte wird von der Historikerin Karin Löffler in einem Buch aufgearbeitet, das im Lehmstedt-Verlag erschienen ist. Die Gemeinde muss das Areal 1937 beräumen. Das ist nach jüdischem Glauben ein Tabubruch: Jüdische Friedhöfe sind für die Ewigkeit angelegt und dürfen nicht aufgegeben werden. Dennoch werden Gebeine exhumiert, in kleine Leinensäcke gepackt und auf den Neuen Israelitischen Friedhof überführt. Ebenso 17 Grabsteine.

Nach dem Zweiten Weltkrieg können dort Aufräumungsarbeiten beginnen. Urnen aus Konzentrationslagern sowie verstorbene oder ermordete polnische Juden aus dem nahe gelegenen Zwangsarbeiterlager werden hier ebenfalls bestattet.

Ab 1948 finden wieder reguläre Begräbnisse statt. Ein Mahnmal für die 14.000 im Nationalsozialismus ermordeten Leipziger Bürger jüdischen Glaubens wird 1951 errichtet. Es entsteht zudem eine viel kleinere, bescheidenere Trauerhalle mit rituellen Räumen, die nach Plänen des Architekten Walter Beyer von 1953 bis 1955 gebaut wird. Im Innern wird eine Gedenktafel aufgehängt, die an die Zerstörung der alten Kuppelhalle erinnert.

Nach Zuwanderung ist mehr Platz nötig


Seit 1993 ist der Neue Israelitische Friedhof ein Kulturdenkmal. Auch einzelne Grabmale sind geschützt. In den 1990er-Jahren ist die Gemeinde aufgrund der Zuwanderung von Menschen jüdischen Glaubens aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion stark gewachsen. Die Gemeinde muss das Areal für ihre Toten erweitern. Das Gelände gehört ihr zwar. Ein Teil davon ist allerdings an einen benachbarten Kleingartenverein verpachtet. Zwei Dutzend Parzellen müssen letztlich weichen, was sogar Gerichte beschäftigt.

Inzwischen ist es wieder ruhig um den Friedhof geworden. Die Gemeinde arbeitet daran, ihn besser in die städtische Erinnerungskultur zu integrieren sowie intensiver zu erforschen. Bei der Sanierung der Universitätsbibliothek Albertina werden 1998 Fragmente von neun Thorarollen gefunden. Die werden ein Jahr später auf dem Friedhof beerdigt. Die Handschriften stammen aus polnischen Synagogen und wurden dort von den Nationalsozialisten geraubt.

Trotz der Bemühungen der Gemeinde und der Unterstützung der Stadt Leipzig befinden sich viele Grabanlagen in schlechtem Zustand. Oft gibt es keine Nachkommen oder sie leben weit verstreut in der Welt. Der Aufwand zur Erhaltung des Friedhofs ist riesig – es gibt allerdings auch viel Engagement in der Stadtgesellschaft.

HTWK erforscht Gräber mit Bodenradar


Eta Zachäus
von der Israelitischen Religionsgemeinde ist die gute Seele des Friedhofes, die die Erforschung und die Neugestaltung des Areals beflügelt. Dabei steht ihr der Leipziger Historiker Steffen Held zur Seite, der in akribischer Archivarbeit zur Aufklärung beiträgt und Führungen über den Friedhof anbietet.

Einzigartig ist ein gemeinsames Projekt mit der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig. Forscher der HTWK um Geotechnik-Professor Ralf Thiele sowie Architekt Ronald Scherzer-Heidenberger, Professor für Regionalplanung und Städtebau, vermessen die jüdische Ruhestätte mittels Bodenradar. Sie blicken in den Untergrund, ohne den Boden umzuschichten. Untersucht wird, ob sich an den vermuteten Stellen tatsächlich Gebeine befinden. Oder auch Urnen, die es im liberalen Judentum durchaus gibt. Oft werden die Urnen auch im Sarg beigesetzt. Im Holocaust wurden jüdische Leichen ebenfalls verbrannt.

Und es wird erkundet, wohin die Gräber und Gebeine des Alten Johannisfriedhofs in der nationalsozialistischen Zeit gewaltsam versetzt wurden. Es gibt Unterlagen und Sterbebücher. Aber viele Daten fehlen noch. „Wir sind dabei eine Datenbank zu erstellen, um sagen zu können: Ja, der Mensch ist wirklich hier beerdigt“, so Eta Zachäus.

Gemeinsam mit der Gemeinde werden Pläne zur behutsamen Neugestaltung des Parkfriedhofes entwickelt. Die in den vergangenen Jahren frei angelegten Grabfelder sollen sich in ein schlüssiges Gesamtkonzept integrieren. Die neuen Gräber sind Ausdruck einer Bestattungskultur in Ländern, in denen die eingewanderten Juden einst lebten. Dort sind beispielsweise Bildnisse und Kunstblumen an Gräbern üblich – was durchaus zu Konflikten mit der Friedhofsleitung führt. Gräber mit besonderer historischer Bedeutung – etwa die Umbettungen vom Johannisfriedhof – sollen zudem besser erkenntlich sein.

Stand: 28.06.2024

Nabert, Thomas

Historiker, Geschäftsführer | geb. am 9. September 1962 in Thale/Harz

Er sieht sich nicht als Verleger, vielmehr als Büchermacher. Dabei hat Thomas Nabert, der Geschäftsführer des Vereins Pro Leipzig, seit vielen Jahren etliche Bücher geschrieben oder als Herausgeber an ihnen mitgewirkt. Die Liste der bei Pro Leipzig erschienenen Titel ist mit rund 370 sehr groß. Sein Hauptaugenmerk richtet der Verein jedoch darauf, Bürger zu aktivieren, sich kritisch mit ihrer Stadt und den entsprechenden Planungen auseinanderzusetzen und selbst behutsame Ansätze zur Stadtentwicklung beizutragen. Aus dieser Idee heraus ist Pro Leipzig entstanden. Thomas Nabert ist seit Sommer 1991 dabei.

Geboren wird er am 9. September 1962 in Thale. Im Harz wächst Thomas Nabert zunächst in ländlicher Idylle auf und geht in Allrode zur Polytechnischen Oberschule. Die Mutter, eine Gemeindeschwester, zieht nach der Trennung vom Vater nach Meuselwitz. Meuselwitz wird für Thomas ein wenig zum „Kulturschock“. Dort gibt es plötzlich mehrstöckige Häuser mit einer gewissen Braunkohle-Patina, wie er es später nennt. Er erlebt den neuen Ort gerade am 1. Mai, als die Kampfgruppen aufmarschieren. Das kennt er von seinem Dorf, das ein wenig „hinterm Berg“ liegt, nicht. Jenes Tamtam habe ihn erschreckt, erinnert er sich. Das Abitur legt er 1981 auf der Erweiterten Oberschule in Meuselwitz ab.

Als Heizer in der Braunkohle


Im Braunkohlekombinat Regis beginnt er im August 1981 eine Tätigkeit als Heizer. Er will die Zeit bis zum Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee und zum späteren Studium überbrücken. Die Zeit in der Kohle hat ihn geprägt, da die Arbeiter das Herz am richtigen Fleck haben und freimütig reden. Ihnen kann schließlich niemand drohen, sie „in die Kohle“ zu schicken, wie es in der DDR oft heißt. Denn dort arbeiten sie bereits.

Im September 1983 nimmt Thomas Nabert ein Studium an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auf. Ursprünglich will er Forstingenieur werden. Doch das Interesse für Geschichte ist größer. Also lässt er sich zum Diplomlehrer für Geschichte ausbilden. In den Schuldienst geht er nicht, stattdessen schließt sich ein Forschungsstudium in Neuer Geschichte an. Schwerpunkt an der Universität ist dabei Adel und Großgrundbesitz. Nebenberuflich unterrichtet Nabert Geschichte an der Volkshochschule, an der Schüler damals ihren Schulabschluss nachholen können. Heute gibt es dafür spezielle Abendschulen. Seit 1984 lebt er in Leipzig, lernt hier seine spätere Frau Andrea kennen, die ebenfalls viel publiziert.

Die Sorge um die historische Identität


Im Sommer 1990 trifft Nabert auf
Bernd Sikora, einen seiner späteren Mitstreiter. Sikora gehört zu jenen engagierten Bürgern, die sich schon 1988 bei einem Ideenwettbewerb fürs Stadtzentrum einbringen wollen. Sie eint die Sorge, dass Leipzigs gründerzeitliche Bausubstanz immer mehr verfällt, die Stadt von Tagebauen umklammert wird, ihre Identität verlieren könnte. Nabert erlebt das Drama, wie sich die Braunkohlebagger sowohl im Süden als auch im Norden an Leipzig heranfressen, bei seinen Fahrten von Meuselwitz nach Halle oder Leipzig, hautnah. „Der Verfall tat mir im Herzen weh“, sagt er. Und er wird großer Fan des Buches „Leipziger Landschaften“, in dem Bernd Sikora, Nobert Vogel und Peter Guth 1987 schonungslos den Verfall dieser Kulturlandschaften aufarbeiten. Er hat zunehmend weniger Lust, auf eine Assistenz an der historischen Fakultät der Uni Halle. Deshalb nutzt er die Chance, bei Pro Leipzig mitzutun.

Dabei gilt der 21. Februar 1991 als Geburtsstunde der Initiative. An jenem Tag treffen sich im Gasthaus „Goldene Krone“ in Connewitz Persönlichkeiten wie beispielsweise Bernd-Lutz Lange, Gunter Böhnke, Wolf-Dietrich Rost, Heinz-Jürgen Böhme, Detlef Lieffertz und Gudrun Neumann. Sie wenden sich mit einem Appell „Pro Leipzig“ an die Öffentlichkeit. Eine Ausstellung „Pro Leipzig. Ansätze zur behutsamen Stadterneuerung“ im Messehaus am Markt legte schon im November 1990 den Finger in die Wunde. Die gibt dem späteren Verein, der sich am 25. Februar 1993 gründet, seinen Namen.

Ein unermüdlicher Büchermacher


Zunächst geht es darum, Strukturen aufzubauen, wobei der Verein Wissenschaftszentrum Leipzig hilft. Dort ist Nabert zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt. Ab 1993 wird Thomas Nabert, der kurz zuvor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg über Neuere Geschichte promoviert, Geschäftsführer von Pro Leipzig. Zwei Jahre wird Pro Leipzig institutionell gefördert und etabliert sich bis Mitte der 1990er. Nabert ist für die Publikationen im Eigenverlag des Vereins zuständig. „Damit finanzieren wir unsere Arbeit“, sagt er.

Große Sprünge lassen sich da allerdings nicht machen, wobei der Anspruch des Vereins groß ist. Los geht es zunächst mit 18 Heften übers Waldstraßenviertel, in dem der Verein bis 2020 sein Domizil hat. Erschienen sind ebenfalls 70 Stadtteilhefte, die mit ihrer blassgelben Optik ein Markenzeichen von Pro Leipzig sind. Das zusammengetragene Wissen wird in Datenbanken festgehalten. Zudem entstehen Studien fürs Grünflächenamt – etwa über Parks und die Naherholung. Vieles davon wird publiziert.

„Der stärkste Antrieb sind meine persönlichen Interessen“, betont Nabert. „Das ist ein großer Vorteil anderen gegenüber, die ihre Arbeitszeit absolvieren und auf die Freizeit warten.“ Bücher zu machen, sei seine Leidenschaft. Und er bohrt gern tief, um möglichst noch eine zusätzliche Quelle oder ein historisches Foto zu finden. Bislang hat Nabert an 54 Einzelpublikationen, 85 Buch- und Zeitschriftenbeiträgen, 80 Studien mitgewirkt und 95 Bücher gestaltet.  Besonders stolz ist er, die Geschichte seines Heimatortes Meuselwitz geschrieben und mehrere Bücher rund um Möbel verfasst zu haben. Ein Highlight sind ebenfalls die Stadtteillexika, die historischen Postkarten-Bücher sowie das Buch „Zeitspiegel“ über das gerettete Fotoarchiv von Hans Lindner, das er gemeinsam mit Heinz-Jürgen Böhme publiziert.

Einen großen Anteil hat Nabert an der Herausgabe des Stadtlexikons A-Z von Horst Riedel. Es erscheint 2012 in überarbeiteter Auflage. „Das tausendjährige Leipzig“ heißt eine dreibändige Publikation von Peter Schwarz – ebenfalls ein Highlight aus dem Programm.

Studie zeigt Vision von Radweg auf


Der Verein erfährt bis zur Jahrtausendwende viel Wertschätzung und hat richtig Einfluss.
Das schlägt sich nieder in Erfolgen wie dem Elster-Saale-Radweg auf der in den 1990ern stillgelegten Bahnstrecke Leipzig-Lützen, der auf der Idee und einer Studie von Pro Leipzig beruht. Inzwischen ist der Einfluss der Bürgervereine längst geringer geworden. Nabert und seine Mitstreiter müssen erfahren, dass Beteiligung in der Leipziger Wirklichkeit oft „ein eher unerwünschtes Ärgernis“ ist. Viele Beteiligungsverfahren sind kaum noch ergebnisoffen, werden pro forma durchgeführt, die Ergebnisse geglättet. Beispiele dafür sind die Öffnung des Pleißemühlgrabens an der Hauptfeuerwache oder Debatten um den Wilhelm-Leuschner-Platz. Nabert wird dennoch unermüdlich weitermachen – arbeitet bereits an neuen Publikationen. Und ist in der Freizeit oft beim Volleyball spielen, Laufen, Wandern und Rad fahren anzutreffen.

Stand: 16.02.2025

Bildergalerie - Nabert, Thomas

Musikpavillon Leipzig

Anton-Bruckner-Allee 11 | Ortsteil: Zentrum-Süd

Entspannt sitzen die Menschen bei Kaffee, Bier oder Bionade im Grünen. Im Musikpavillon im Clara-Zetkin-Park wird an den Wochenenden bei sommerlichen Temperaturen regelmäßig zum Kaffee aufgespielt. Die Gastronomie und der Biergarten am Pavillon sind ein beliebter Treffpunkt. Seit mehr als 100 Jahren ist der Musikpavillon Teil einer langen Tradition von Kunst und Musikkultur im Grünen. Pro Saison gibt es dort bis zu 40 Veranstaltungen. Aber auch bei Fußballspielen steppt der Bär. Seit 2020 können die Gäste regelmäßig alle Fußballspiele einer Weltmeisterschaft oder die Live-Spiele der Europameisterschaft auf mehreren großen LED-Fernsehern schauen. Und bei den Musikveranstaltungen wird oft der Geist von damals heraufbeschworen. „Mir ist es wichtig, gepflegte Musikkultur anzubieten“, sagt der Leipziger Gastronom Eberhard Wiedenmann, der den Musikpavillon restaurieren ließ und betreibt. Die Gastronomie ist ganzjährig geöffnet.

Bürger wünschen sich Konzerte im Park


Den Musikpavillon in seiner heutigen Form gibt es seit September 1912. Erste Ideen für solch einen Bau im damaligen
König-Albert-Park lassen sich allerdings bis ins Jahr 1908 zurückverfolgen. Bürger äußerten damals den Wunsch, den Park durch öffentliche Konzerte zu beleben. Die Stadtverwaltung empfiehlt daraufhin, den Konzertplatz längs der Achse des vorderen Teiches zu errichten. Dort gibt es breite Promenadenwege und Bänke. Fürs Publikum bestehen also ausreichend Möglichkeiten, den Konzerten beim Flanieren zu lauschen oder zu verweilen. Umgesetzt wird ein Entwurf von Stadtbaurat Otto W. Scharenberg, dem Leipzig auch das Stadtbad in der Eutritzscher Straße zu verdanken hat.

Scharenberg skizziert 1909 einen achteckigen Pavillon, an dessen Seiten Markisen angebracht werden sollen. Damit das Bauvorhaben aus Stiftungsmitteln finanziert werden kann, soll der Pavillon nur aus Beton und Eisen hergestellt werden.

Ein Jugendstilbau mit schiefergedeckter Kuppel


Am 14. September 1912 wird der neue Musikpavillon nach viermonatiger Bauzeit übergeben. Es ist ein Jugendstilbau aus Beton und acht Stahlträgern, die eine schiefergedeckte Dachkuppel tragen. Die Dachkonstruktion ist aus Holz. Die Seitenwände sind offen. Die Innenfläche ist mit einem Gitter umzäunt und bietet 40 Musikern Platz. Die Kosten (etwa 12.540 Mark) werden aus Stiftungsmitteln der Oskar-Meyer-Stiftung und der Grossmann-Stiftung finanziert.

Zu den Konzerten spielen zunächst Militärkapellen. Das ist für die Stadtverwaltung günstiger. Private Orchester, die es damals in der Musikstadt Leipzig reichlich gibt, möchten sich ebenfalls dem Publikum präsentieren. Das ist wenig verwunderlich, da bei schönem Wetter bis zu 2.000 Menschen die Veranstaltungen besuchen. Die musikalische Umrahmung an Sonntagen übernehmen schließlich die damals bekannten Musiker Custav Curth (Krystallpalast Varieté und Varieté Haus Dreilinden) sowie Günther Koblenz, der unter anderem mit dem Grotrian-Steinweg-Orchester arbeitet. Die Freitage bleiben weiterhin den Militärkapellen vorbehalten.

Schon ab 1920 werden die Konzerte eingestellt – vor allem aus Kostengründen. In den darauffolgenden Jahren wird der Pavillon nur noch unregelmäßig genutzt – etwa von Gesangsvereinen und Schulchören. 1924 verpachtet die Stadt das bei den Leipzigern beliebte Ausflugsziel an das Leipziger Großhandelshaus Rothe und Ballschuh. Es bietet diverse Getränke und Spezialitäten an, finanziert so den Betrieb. Der Wunsch, durch den Zulauf mehr Tische und Stühle aufstellen zu dürfen, wird aber von der Gartendirektion mehrfach abgelehnt. 1926 erklärt die Stadtverwaltung den Platz vor dem Pavillon zum Richard-Strauss-Platz. Das ist auch ein Grund, warum der Ort heute Teil des Leipziger Notenbogens des Vereins Leipziger Notenspur geworden ist. Musik erklingt dort zu jener Zeit allerdings eher selten.

1955 entsteht der Zentrale Kulturpark „Clara Zetkin“. Dabei wird auch der Musikpavillon renoviert, eine Freizeitfläche am Richard-Strauss-Platz entsteht. In den folgenden Jahrzehnten werden am Pavillon viele Veranstaltungen angeboten – vom Blasorchester über Tanz bis hin zur Kaffeehausmusik.

Gastronom bietet wieder Kaffeehausmusik


Ab 1990 wird es wieder still um den Pavillon, dessen Zustand zusehends maroder wird. Die Stadtverwaltung unternimmt einige erfolglose Versuche, einen geeigneten Pächter zu finden. Das gelingt erst 2004 mit dem Unternehmer Eberhard Wiedenmann. Schon ab 2008 beginnt der Gastronom, zunächst sporadisch, die Tradition der Kaffeehauskonzerte wiederzubeleben. Die fachgerechte, keineswegs kostengünstige Restaurierung des Pavillons – begleitet vom Architekturbüro R. Keil – dauert aber einige Jahre. Bis zum 100. Geburtstag des Pavillons gelingt sie.

Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst des Fachbereichs für Malerei und Grafik haben dafür unter der Leitung ihres Professors Heribert C. Ottersbach ein zeitgenössisches Bild auf die Pavillondecke gezaubert. Es reflektiert die Geschichte des Ortes. Ursprünglich war so ein Deckengemälde schon zur Eröffnung geplant – damals wird aus Geldmangel darauf verzichtet. Am 14. September 2012 können die Besucher bei einer Jubiläumsfeier ihren neuen alten Musikpavillon wieder in Besitz nehmen. Er ist längst wieder zu einem Publikumsmagneten geworden – dort treten inzwischen sogar eigens dafür gegründete Ensembles, wie das Musikpavillon Salonorchester Thomas Krause sowie das Musikpavillon Swing Trio, auf.

Stand: 05.10.2024

Bildergalerie - Musikpavillon Leipzig

Historisches Bildmaterial - Musikpavillon Leipzig

Kotte, Henner

Schriftsteller, Stadtführer, Moderator, Theaterkritiker | geb. am 17. August 1963 in Wolgast, gest. am 6. Dezember 2024 in Leipzig

Sein Leben findet sich in seinen Büchern. Henner Kotte schreibt Leipzig-Krimis, die bis ins Detail viel Lokalkolorit seiner Stadt versprühen. Krimi- und Stadtgeschichte(n) hält er in seinen Büchern fest. Oft führt er Menschen durchs Zentrum, um ihnen als Stadtführer berühmte Kriminalfälle zu erzählen. Er schreibt aber auch Sachbücher, wie zur Geschichte des Hotels Astoria, und geht populären sächsischen Legenden nach. Die Gose hat es ihm ebenfalls angetan. Zum 200. Geburtstag der Ritterguts Gose ist er Herausgeber einer reich bebilderten Festschrift, die diesem erstmals 1824 gebrauten Getränk gewidmet ist. Oft ist er im Stadtarchiv Leipzig anzutreffen. Denn seine Werke sind gut recherchiert. Doch auch aus dem prallen Leben schöpft er seine Inspiration.

Ein ehemaliger Leichtathlet wird zum Germanisten


Geboren wird Henner Kotte am 17. August 1963 in Wolgast. Das ist eher Zufall, denn seine Eltern, ein Dresdner Ärztepaar, sind gerade zum Praktikum in der Stadt an der Ostsee. Wenig später geht es zurück an die Elbe, wo er aufwächst und zur Schule geht. Von der 8. Klasse an besucht er eine Kinder- und Jugend-Sportschule und trainiert als Leichtathlet. 1978 kann er mit seinem Team sogar den Vize-DDR-Meistertitel in der 4×100-Meter-Staffel erreichen. Abitur macht er auf der Dresdener Kreuzschule. Dort ist er zwar nicht in der Sängerklasse des berühmten Knabenchores, aber sehr kreativ. Etwa bei Theateraufführungen.

Nach der Schule folgt der Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee an der Grenze in Berlin. 1984 kommt Henner Kotte nach Leipzig, um an der Karl-Marx-Universität (heute Universität Leipzig) Germanistik zu studieren. 1987/88 verschlägt es ihn für ein Semester an die Moskauer Lomonossow-Universität. Das Land ist gerade im Umbruch, in der Perestroika. Seine Diplomarbeit schreibt er über die assoziative Einschätzung von Vornamen. Es folgt ein Forschungsstudium Anfang der 1990-er Jahre in Mannheim. Dort lebt er ein wenig abseits, entdeckt seine Leidenschaft fürs Schreiben.

Gut recherchierte Kriminalfälle sind sein Elixier


Seit 1994 lebt Kotte dann wieder in Leipzig. Nach der Rückkehr ist er zunächst arbeitslos. Später unterrichtet er Deutsch als Fremdsprache. Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme verschlägt ihn zum Literaturrat Sachsen sowie dem Förderkreis Freie Literatur. Für seine Kurzgeschichte „Taxi“ erringt Kotte 1997 den MDR-Literaturpreis.

Sein erstes Buch veröffentlicht er im Jahr 2000. Es heißt „Natürlich tot!“. Eine eigene kriminalliterarische Talkshow die „Schwarze Serie“ startet Kotte in der Moritzbastei. 2002 arbeitet Henner Kotte für den MDR. Es entsteht die Fernsehserie „Vergessene Akten“. Dort ist er in seinem Element, kann Kriminalfälle recherchieren.

Wie kaum ein anderer erforscht er die abgründigen Geschichten seiner Stadt Leipzig. Die erzählt er in seinen Büchern ebenso wie bei Stadtführungen. Dabei redet er von unbekannten und berühmten Menschen ebenso wie von jenen, die wie Woyzeck erst durch ihre Taten Berühmtheit erlangen und in die Literatur eingehen. Mit zahlreichen Krimis und Bänden mit authentischen Fällen wie „Leipzig mit blutiger Hand“ oder „Bonny und Clyde vom Sachsenplatz“ findet er sein Publikum. Dem Verbrechen auf der Spur ist er mit Kindern bei der KinderKrimiTour. „Auch die „Tatort“-Kommissare Ehrlicher und Kain erweckt er nach deren Aus in der Fernsehserie zu neuem literarischen Leben.

Eine Festschrift zur Gose


2021 folgt ein kultureller Reiseführer zur Geschichte jüdischen Lebens in Sachsen. Im selben Jahr erscheint sein Roman. Unter dem Titel „Die dreizehn Leben des Richard Rohde“ geht es um ein Dorf in der Oberlausitz, das der Kohle weichen muss. Sein letztes Werk heißt: „Die Gose schmeckt frühmorgens gut, ist abends keine Plage“. Da ist er der Herausgeber einer Festschrift, die zum 200-jährigen Brau-Jubiläum der Gose erscheint. Gemeinsam mit anderen Autoren, etwa dem Kabarettisten
Gunter Böhnke, Gose-Historiker Frank Heinrich sowie Gosebrauer Tilo Jänichen, hat er dafür Amüsantes und Abseitiges über das Getränk recherchiert. Und selbst Kriminelles kommt dabei nicht zu kurz.

Seine geliebte Leipziger Innenstadt und das Leben rund um den Bayerischen Bahnhof sind sein Lebenselixier. Doch das ist nun vorbei. In der Innenstadt bricht er zusammen, kommt ins Krankenhaus. Unerwartet ist Henner Kotte am 6. Dezember 2024 in Leipzig gestorben. Er wird nur 61 Jahre alt. Und viele Pläne, etwa ein Standardwerk zur kompletten Kriminalliteratur der DDR zu schreiben, bleiben unerledigt. Seine Führungen fehlen, doch die Bücher bleiben.

Stand: 14.12.2024

Bildergalerie - Kotte, Henner

Hauptmann, Silvia

Fotografin, Chronistin | geb. am 9. Oktober 1957 in Leipzig

Sie ist die Fotochronistin, die jüdisches Leben in Leipzig und Sachsen in vielen Facetten festhält. Ihr Markenzeichen sind Porträts von Menschen, denen sie sich mit gebührendem Respekt nähert, sowie verschiedene Milieustudien. Dabei hat sie ein Faible für Langzeitprojekte.

Geboren wird Silvia Hauptmann am 9. Oktober 1957 in Leipzig. Sie wächst in Böhlen auf. Als sie zwölf Jahre alt wird, ziehen die Eltern in ein Haus in Großdeuben „am Grubenrandstreifen“ der Braunkohle. „Hinterm Haus quietschte der Bagger lang, die Grube wurde zugeschüttet“, sagt sie und erinnert sich an nicht ungefährliche Abenteuer beim Baden in den Restlöchern. Zur Polytechnischen Oberschule fährt sie nach Gaschwitz. Danach beginnt die Berufsausbildung mit Abitur zur Laborantin. Sie arbeitet im Betriebsteil Böhlen des Volkseigenen Betriebes Petrolchemisches Kombinat Schwedt.

Aufträge für Architekturbüro und Zeitschriften


Doch das Auswerten von Proben befriedigt sie nicht. Eigentlich will sie Sprachen studieren, doch nach der Geburt ihres Sohnes Paul im Jahre 1981 entscheidet sie sich anders. Sie beschäftigt sich mit Fotografie, wird später an der
Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig immatrikuliert. Als freiberufliche Fotografin übernimmt sie Aufträge für ein Architekturbüro und arbeitet auch fürs Zentralhaus für Kulturarbeit. Jene Leipziger Einrichtung widmet sich der Förderung der Laienkunst und Brauchtumspflege in der DDR und gibt auch eine eigene Zeitschrift „Kultur und Freizeit“ heraus. Sie fotografiert sorbische Frauen, die Ostereier bemalen, sowie viele Menschen mit ihren Hobbys. Doch die Unzufriedenheit wächst. Im August 1989 verlässt sie mit ihrem damaligen Ehemann über Ungarn die DDR.

Im Westen angekommen, studiert sie an der Fachhochschule in Bielefeld Fotografie. Ihr Schwerpunkt wird dabei Sozial-kritisches Porträt/Fotoessay. Zusätzlich belegt sie Psychologie, um sich für die Fotoarbeiten besser in Menschen hineinversetzen zu können. Für ihre Abschlussarbeit fotografiert Silvia Hauptmann Roma in Rumänien. Nebenbei arbeitet sie für die von Bodelschwinghsche Stiftung in Bielefeld. Die hat Kontakte bis nach Japan – Silvia Hauptmann kann bei einem Empfang sogar den Kaiser des Landes der aufgehenden Sonne fotografieren.

Eine zufällige Begegnung in der Synagoge


Nach dem Studium kehrt sie nach Leipzig zurück. 1994 reist sie für eine Zeitung nach Moskau. Ihr Auftrag: Sie soll Bilder im Milieu von Prostituierten aufnehmen. Doch irgendwie merkt sie, dass ihr dieses Thema, mit „jungen Mädels, die im mafiösen Milieu ihre Haut zu Markte tragen“, nicht liegt.

Sie bummelt im strömenden Regen durch die Straßen der russischen Hauptstadt und landet zufällig in einem riesigen Gebäude. Das ist die Choral-Synagoge Moskaus. Dort wird gerade Rosch Haschana, einer der Hohen Feiertage des Judentums, gefeiert. Sie zückt die Kamera und kehrt mit einer Reportage über den Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt und die Moskauer Synagoge zurück. Und schnell wird klar: Das ist ihr Thema. Sie besucht die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig, die gerade ein Jubiläum vorbereitet, und deren damaligen Vorsitzenden Aron Adlerstein. Für die Gemeinde lichtet sie „Channuka im Astoria“ ab. Das wird der Beginn einer langen Zusammenarbeit.

Die Fotografin der Religionsgemeinde


Durch eine Ausstellung in der
Alten Nikolaischule, bei der zur Leipziger Buchmesse jüdisches Leben in Leipzig vorgestellt wird, entstehen Mitte der 1990er-Jahre Kontakte zur Ephraim Carlebach Stiftung und ihrer Vorstandsvorsitzenden Renate Drucker. Gemeinsam wird das Langzeitprojekt „Jüdisches Leben in Sachsen“ aufgelegt. „Ich war auch in Dresden und Chemnitz, auf allen jüdischen Friedhöfen in Sachsen. Mein Schwerpunkt blieb aber immer In Leipzig“, erzählt Hauptmann. Seit 1997 lebt sie mit dem Grafiker, Musiker und Autor Jürgen B. Wolff zusammen.

Sie hält 1998 fest, wie der erste sächsische Landesrabbiner Salomon Almekias-Siegl ordiniert wird. Silvia Hauptmann ist mittlerweile die Fotografin, die das Leben der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig am längsten dokumentiert. „Ich durfte erleben, wie die Gemeinde wächst und sich verändert“, sagt sie. Etwa durch den Zuzug von jüdischen Menschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Ihre Bilder bieten Einblicke in die erste jüdische liberale Hochzeit in der Brodyer Synagoge nach der Wende. „Das hat mich damals sehr fasziniert.“ Weitere Fotos zeigen Rituale, wie die Beschneidungen der Kinder oder die Beerdigung von Torarollen auf dem Neuen Israelitischen Friedhof. Sie darf die orthodoxe Hochzeit des Rabbiners Zsolt Balla in Berlin begleiten. Und macht ein Fotoessay über ihn. Die Einweihung des Ariowitsch-Hauses dokumentiert sie ebenfalls.

Eine digitale Datenbank vom Friedhof


Eine Herausforderung für die Projektmitarbeiterin der Ephraim Carlebach Stiftung wird eine große Dokumentation. Sie fotografiert und erfasst über vier Jahre gemeinsam mit Jürgen B. Wolff alle der rund 5.500 Gräber auf dem
Alten Israelitischen Friedhof und bereitet sie für eine Datenbank digital auf. Das wird ziemlich anstrengend. Die Ephraim Carlebach Stiftung nutzt die Datenbank, um Anfragen, etwa nach Personen, zu beantworten. Silvia Hauptmann bietet auch Führungen auf den Friedhöfen an. Was sie noch reizt, ist es, jüdische Familien daheim bei Festen wie Sabbat zu fotografieren. Doch das zu realisieren, ist schwierig. Im Ehrenamt unterstützt sie ebenfalls die Aktion Stolpersteine.

Fotoessays über Obdachlose und junge Strafgefangene


Silvia Hauptmann widmet sich auch vielen anderen Themen. Mit ihrer Kamera arbeitet sie im Strafvollzug. „Zwischenzeit“ heißt ihr Fotoessay über eine zu lebenslanger Haft verurteilte Frau. Diese hat sie 15 Jahre lang begleitet. Und sie hat in den Haftanstalten Zeithain, Waldheim sowie Regis-Breitingen fotografiert. Auch junge Strafgefangene. „Das Thema Schuld und Sühne hat mich immer gefesselt.“ Seit 1993 fotografiert sie regelmäßig beim Rudolstadt-Festival. Für die Sächsische Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien übernimmt sie ein Projekt, um ankommende Flüchtlinge zu zeigen. 

„Mich interessieren Randgruppen, daher habe ich auch viel mit Obdachlosen gearbeitet.“ Derzeit widmet sie sich Habseligkeiten von Obdachlosen, die auf der Straße zu sehen sind. Die Menschen zeigt sie diesmal nicht. Wichtig ist ihr ein Projekt im Zoo Leipzig. „Tiere zu fotografieren, ist faszinierend. Nichts ist entspannter.“ Sie erinnert sich an einen Komodowaran im Gondwanaland, wo sie sogar für die richtige Perspektive an einem Seil heruntergelassen und schnell hochgezogen wurde. „Meine große Liebe sind Hunde.“ Stolz ist sie auf ihren Foxterrier, der „noch vom Wolf abstammt.“ Sie reist außerdem gern, darunter oft nach Wien. Ihr Archiv umfasst inzwischen mehr als 25.000 Fotos.

Stand: 26.08.2024

Bildergalerie - Hauptmann, Silvia

Gildoni, Channa

Ehrenbürgerin, Zeitzeugin | geb. am 28. Dezember 1923 in Leipzig, gest. am 9. Mai 2023 in Ramat Gan (Israel)

Sie ist die erste Frau in der langen Liste Leipziger Ehrenbürger: Channa Gildoni, die im Dezember 1923 als Anni Moronowicz in Leipzig geboren wird, erhält diese Ehrung für ihre Verdienste um Versöhnung und Erinnerungskultur. Auf Einladung der Stadt Leipzig besucht sie mit einer kleinen Gruppe im November 1992 erstmals wieder ihre Geburtsstadt. Ihr ist es wichtig, in Gesprächen daran zu erinnern, welche große Rolle die Juden vor der Nazi-Diktatur in Leipzig gespielt haben. 1995 wird sie Vorsitzende des Verbandes ehemaliger Leipziger in Israel. Als Zeitzeugin hat Channa Gildoni viel zur Verständigung beigetragen – bis zu ihrem Tod im Mai 2023.

Geboren wird Anni Moronowicz am 28. Dezember 1923 in der elterlichen Wohnung in der Promenadenstraße (heute Käthe-Kollwitz-Straße). Die Mutter ist Hausfrau, der 1909 aus Polen eingewanderte Vater betreibt ein Geschäft in der Elsterstraße, in dem er von Nähgarn bis zu Möbeln und Brillanten alles verkauft. In Channas Geburtsjahr gibt es in Leipzig eine sehr lebendige Jüdische Gemeinde, der etwa 13.000 Juden angehören. Die Familie ist gut betucht, kann sich ein Haus- und Kindermädchen leisten.

Eine friedliche Kindheit in Leipzig


Der Vater ist aktiv in der Gemeinde, besucht nahezu jeden Tag die
Ez-Chaim-Synagoge in der Otto-Schill-Straße. Als Sechsjährige wird sie in die 41. Volksschule in der Hillerstraße eingeschult. Ab der vierten Klasse wechselt sie auf die Höhere Israelitische Schule, nach ihrem Gründer auch Carlebach-Schule genannt. „Es war ein friedliches Leben, Antisemitismus habe ich nicht gespürt“, erinnert sie sich später. Der Leipziger Verlag Hentrich & Hentrich hat ihr in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ ein Buch gewidmet, in der Sven Trautmann, Gabriele Goldfuss und Andrea Lorz die Lebensgeschichte von Canna Gildoni erzählen.

Flucht über Ungarn nach Palästina


Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird das Leben für die jüdischen Mitbürger in Deutschland zunehmend schwieriger. Die Familie fühlt sich in Leipzig nicht mehr sicher, will nach Palästina auswandern. Doch eine Ausreiseerlaubnis zu bekommen, erweist sich als schwierig. Der Vater wird auch verhaftet, angeklagt wegen Landesverrates, sitzt zwei Jahre unschuldig in Berlin-Moabit und später im Konzentrationslager Oranienburg. Der Grund: Sein Name taucht im Notizbuch eines entlarvten Spions auf, von dem er sich Geld geborgt hat. Jacob Moronowicz kommt aber frei. Sein Geschäft hat er da längst aufgeben müssen.

Das Leben für die jüdische Bevölkerung wird immer unerträglicher. Schließlich kann Jacob Moronowicz im November 1939 aus Leipzig fliehen. Frau und Tochter folgen ihm im April 1940 – zuerst geht es nach Wien, dann nach Ungarn und schließlich nach Tel Aviv. Dort beginnt die Familie ein neues Leben. Vater Jacob handelt mit Textilien.

In Tel Aviv ändert Anni ihren Namen in die hebräische Form Channa. Eigentlich will sie Jura studieren, kann sich diesen Wunsch aber nicht erfüllen. Es fehlen die finanziellen Mittel, aber auch der Schulabschluss. Deshalb arbeitet sie als Krankenschwester. Gleichzeitig tritt sie der Hagna, einer Untergrundorganisation, als Sanitäterin bei. Dort lernt sie ihren Mann Menachem Gildoni kennen, den sie 1945 heiratet. Am 14. Mai 1948 erklärt Israel seine Unabhängigkeit. Das erlebt Channa als Sanitäterin bei der Hagna.

Mit Anfang 30 wird sie schon Witwe, da ihr Mann an einem Herzleiden stirbt, und zieht ihre beiden Kinder allein groß. Zunächst übernimmt sie das Juweliergeschäft ihres Mannes, das sie dann aber verkauft. Sie arbeitet für die Hilfsorganisation Magen David Adom, vergleichbar mit dem Deutschen Roten Kreuz hierzulande. Mehr als 60 Jahre lang ist sie für die Organisation, ebenso wie für die Hagana, im Einsatz.

Ab 1953 organisieren sich ehemalige Leipziger in Israel zu einem Verband, dem sich ebenfalls Menschen in den USA und Großbritannien anschließen. Viele spüren den Wunsch, die alte Heimat noch einmal zu besuchen. Das ist aber erst nach der Friedlichen Revolution möglich. 1992 lädt die Stadt Leipzig erstmals zehn ehemalige jüdische Leipziger samt Begleitperson zu einem Besuch ein. Das Interesse ist groß, die Plätze müssen in Israel sogar verlost werden. Chana Gildoni hat Glück und ist im November 1992 erstmals wieder in ihrer Geburtsstadt. „Leipzig ist unsere Geburtsstadt, aber nicht mehr unsere Heimat“, betont Channa Gildoni damals im Gespräch der LVZ.

Viel Engagement für Erinnern und Aussöhnen


Von da an kommt sie regelmäßig, wird 1995 Vorsitzende des Verbandes ehemaliger Leipziger in Israel. Sie engagiert sich für die deutsch-israelische Aussöhnung. Als Zeitzeugin, die die noch die lebendige jüdische Gemeinde der Zwanzigerjahre in Leipzig erlebt hat, spricht sie in Schulklassen über ihre Erlebnisse. Ihre Erinnerungen fließen in verschiedene Buchprojekte. Wichtig ist ihr, dass das Unrecht nicht in Vergessenheit gerät, wenn die Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind. Im Jahr 1999 erhält sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Für ihre Verdienste um Versöhnung und Erinnerungskultur bekommt sie das Bundesverdienstkreuz und die Ehrennadel der Stadt Leipzig verliehen.

2019 kommt sie das letzte Mal nach Leipzig, die Reise ein Jahr später muss aufgrund von Corona abgesagt werden. Sie bleibt im telefonischen Kontakt mit den Freunden aus Leipzig und fühlt sich hier willkommen. Ende Oktober 2022 reist Oberbürgermeister Burkhard Jung mit einer kleinen Delegation in die Partnerstadt Herzliya und überreicht der betagten Dame im Yitzhak Rabin Centre in Tel Aviv persönlich die Ehrenbürgerschaft – die höchste Auszeichnung der Stadt Leipzig. Am 9. Mai 2023 ist Channa Gildoni in Ramat Gan in der Nähe von Tel Aviv – dort lebte sie im betreuten Wohnen – gestorben.

„Channa Gildoni glaubte an das Gute im Menschen. Trotz aller Schrecken, die sie in den 1930er-Jahren in Leipzig erleben musste, setzte sie sich für die Aussöhnung mit Deutschland ein“, würdigt sie Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung: „Sie war eine große Brückenbauerin, die die Verbindung in ihre alte Heimatstadt nie abreißen ließ.“

Stand: 16.01.2025

Bildergalerie - Gildoni, Channa

Dittrich, Gotthard

Diplomökonom, Schulgründer, Stifter | geb. am 29. März 1954 in Nienburg/Weser

Leipzig ist die Wiege seiner Bildungsvisionen. Hier arbeitet Gotthard Dittrich, der Chef der Rahn Education, unermüdlich daran, die Idee weltoffener Bildungsprojekte zu verwirklichen und in andere Länder zu tragen. Am 16. März 1990 gründet Dittrich mit Partnern eine gemeinnützige Schulgesellschaft. Mittlerweile ist daraus ein mittelständisches Unternehmen geworden, das in der Messestadt Leipzig den Bildungscampus im Graphischen Viertel betreibt.

Geboren wird Gotthard Dittrich am 29. März 1954 in Nienburg an der Weser. Er wächst in einfachen Verhältnissen auf und besucht dort die Volksschule. Anschließend macht er eine Ausbildung zum Kaufmann an der Handelsschule Dr. Paul Rahn in Nienburg. In Hannover legt er schließlich am Wirtschaftsgymnasium das Abitur ab. In den 1970er Jahren studiert er an der Bremer Hochschule für Sozialpädagogik und Sozialökonomie. Er wählt das Fach Sozialökonomie, das sich allerdings als Studium der Ernährungswissenschaften erweist. Daher hängt er noch zwei Semester Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bremen an.

Ein Besuch auf der Leipziger Messe


Schon während des Studiums arbeitet er in einem Handelsunternehmen, das norwegische Produkte in Deutschland vertreibt. Das wird allerdings unrentabel, da Norwegen einen Beitritt zur Europäischen Union ablehnt. 1983 besucht er die
Leipziger Messe und findet einen Ausweg: Er vermittelt für die Firma Kompensationsgeschäfte mit der damaligen DDR. Dafür verlegt er 1984 sogar seinen Wohnsitz nach Altenburg bei Leipzig. Gemeldet ist er auch in Westberlin, da er dadurch unkomplizierter als ein Bundesbürger einreisen kann. Im Februar 1990 wird Dittrich Staatsbürger der DDR, damit er leichter eine Firma gründen und Kapital in DDR-Mark einbringen kann. Mit der Einheit Deutschlands erledigen sich die Kompensationsgeschäfte allerdings von selbst.

Der Aufbau der Wirtschaftsakademie


Dittrich hat immer Handel-Seminare an der Rahn-Schule in Nienburg gehalten. Nun beginnt er für diese mit dem Aufbau von privaten Handelsschulen in den neuen Bundesländern. Ziel ist es, den Bedarf nach kaufmännischem Wissen zu befriedigen. Los geht es 1990 zunächst mit einer Wirtschaftsakademie in Leipzig, die Umschulungen und berufliche Fortbildungen anbietet. Die gibt es heute noch ebenso wie die Schulgesellschaft, die mit einer berufsbildenden Schule in der Kochstraße startet. Daraus entwickelt sich schließlich die gemeinnützige Rahn Education, eine Unternehmensgruppe, mit Hauptsitz in Leipzig. Dazu gehören mehrere Firmen.

1995 entsteht die Idee, Pädagogen der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ zum Gespräch einzuladen, um über Konzepte für eine Schule mit musikalisch-künstlerischer Ausrichtung zu reden. Das Resultat: ein Konzept für die Freie Grundschule „Clara Schumann“ im historischen Schumann-Haus in der Inselstraße 18. Die Schulgründung wird nur möglich, da im Freistaat Sachsen von den staatlichen Schulbehörden nichts Vergleichbares angeboten wird. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet und auch vom damaligen Leipziger Opernintendanten Udo Zimmermann als Schirmherrn gefördert. Die Genehmigung erfolgt 1997.

Ein Bildungscampus im Graphischen Viertel


Mittlerweile ist die Grundschule „Clara ‚Schumann“ längst Teil eines Bildungscampus mit Musikschulen, Kindertagesstätten, Gymnasium sowie Oberschule. „Ich bin selbst manchmal überrascht, wie sich das alles entwickelt hat“, bekennt Diplomökonom Dittrich, der sich als Ideengeber sieht und den Bau neuer Häuser koordiniert. „Für die Bildungsprojekte hole ich mir Partner vom Fach.“ Der Bildungscampus zwischen Salomon- und Inselstraße im Graphischen Viertel mit rund 2.000 Kindern und Jugendlichen ist das Herzstück des Unternehmens geworden.

Ein außergewöhnliches Projekt wird ebenfalls das Gymnasium im brandenburgischen Stift Neuzelle (Landkreis Oder-Spree) an der polnischen Grenze. Das Besondere: An der Ganztagsschule wird bilingual Deutsch und Polnisch unterrichtet. Durch das zum Kloster gehörige Internat können dort auch Kinder lernen, deren Eltern nicht in Deutschland leben. Insgesamt werden Schüler aus 20 Nationen betreut.

Die ersten Auslandsaktivitäten der Rahn Education starten 1993 in Zielona Góra in Polen. Dort werden eine Grundschule mit musikalisch-künstlerischer Ausrichtung sowie ein Gymnasium eingerichtet, an dem die Schüler auch das deutsche Sprachdiplom ablegen können. Zu Neuzelle entsteht eine deutsch-polnische Bildungsbrücke.

Eine eigenständige Schule in Kairo


Ein besonderes Augenmerk legt Dittrich auf die ägyptische Hauptstadt Kairo. Dort gibt es die eigenständige Rahn-Schule Kairo, an der nach brandenburgischem Curriculum unterrichtet wird. Für ihre Absolventen besteht die Möglichkeit, in Neuzelle bei einer zweijährigen zusätzlichen Ausbildung das deutsche Abitur abzulegen. Seit 2003 existiert die Hotelfachschule Paul Rahn in El Gouna am Roten Meer. Dort fahren sogar Vertreter der Leipziger Industrie- und Handelskammer (IHK) hin, um Prüfungen abzunehmen. „Dadurch erwerben die Jugendlichen einen Abschluss, der auch in Deutschland anerkannt ist“, erläutert Dittrich. Aufgrund des Fachkräftemangels gewinnt das zusehends an Bedeutung. Einige kommen nach Leipzig, um hier in der Gastronomie zu arbeiten. Rahn Education betreibt auch im Auftrag der Schweiz eine Schule in Mailand sowie in Cadorago am Comer See.

Eine Herzensangelegenheit ist es für Dittrich, das Polnische Institut – seit 1969 fester Bestandteil der Leipziger Kulturszene – in Leipzig zu erhalten. Diesem droht die Schließung. Die Rettung ist nur möglich, weil die Europäische Stiftung der Rahn Dittrich Group für Bildung und Kultur das Institut als Untermieter beherbergt. In den Räumen der Stiftung am Markt 10 ist inzwischen ebenso das neue Partnerstadtquartier der Stadt Leipzig untergekommen.

An seinen Standorten beschäftigt das Unternehmen Rahn Education ca. 1.100 Mitarbeiter, die über 800 Lernende betreuen. Zum Portfolio gehören Kindertagesstätten, Grundschulen, Sekundar- und Oberschulen und Gymnasien, Fachoberschulen, Studienkollegs, Berufsbildungszentren sowie Musik- und Sprachschulen. Es gibt rund 40 Bildungseinrichtungen in Deutschland, Ägypten, Italien und Polen. 

Auf dem Bildungscampus in Leipzig entstand das Café Salomon, das ursprünglich koschere Küche nicht nur für jüdische Mitbürger anbot. Es musste aber schließen. Ende Februar 2025 eröffnete dort die Stullenfabrik, ebenfalls mit einem innovativen Konzept.

Stand: 13.01.2025

Bildergalerie - Dittrich, Gotthard

Der Jahrhundertschritt

Grimmaische Straße 6 | Ortsteil: Zentrum

Sie dient vielen als Fotomotiv. Die Bronzeplastik vor dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig in der Grimmaischen Straße 6 lässt darüber hinaus viel Raum für Diskussionen und Interpretationen. Das hat der Künstler Wolfgang Mattheuer beabsichtigt, der mit dem „Jahrhundertschritt“ ein Symbol für die Menschheit geschaffen hat, die zwischen den Ideologien zerrissen wird, und die versucht, daraus zu lernen und vorwärts zu kommen. Dabei tritt die Skulptur ihren Betrachtern durchaus aggressiv entgegen.

Die Skulptur zeigt eine gedrungene Gestalt, die einen ausladenden Schritt nach vorn macht. Mit einem Bein drängt die Figur vorwärts, das andere Bein steckt in einem schweren Soldatenstiefel, bremst sie förmlich ab. Die Gestalt hebt den rechten Arm zum Hitlergruß, während der linke Arm als Faust nach oben gereckt ist. Das erinnert an die Kommunistenfaust. Der Kopf hingegen ist in einer Art Uniformjacke verschwunden.

Ein Volk zwischen zwei Diktaturen


Die Plastik stammt aus dem Jahr 1984. Eine erste Präsentation der bemalten Gipsfassung erfolgt auf der 11. Bezirkskunstausstellung 1986 in Leipzig. Der „Jahrhundertschritt“ taucht jedoch schon früher in den Werken Mattheuers auf. Er ist wohl seine persönliche Bilanz des 20. Jahrhunderts: Ein Volk ist hin- und hergerissen zwischen zwei Diktaturen.

1987/88 wird das Werk bei der zehnten Kunstausstellung der DDR in Dresden gezeigt. Das Publikum kürt es zum wichtigsten Werk der DDR-Ausstellung, die durch die Friedliche Revolution die letzte sein wird. Ein Jahr davor, am 7. Oktober 1988, tritt Mattheuer aus der SED aus, der er seit 1958 angehört. Er ist ein aktiver Teilnehmer der Leipziger Montagsdemonstrationen. Gegen Ende der DDR wird Mattheuer, der von der DDR-Staatssicherheit seit den 1960er Jahren beobachtet wird, als Staatsfeind eingestuft.

Stiftung erinnert an Schaffen Mattheuers


Mattheuer ist ein Vertreter der Kunstrichtung Leipziger Schule. Die Plastik „Der Jahrhundertschritt“ ist das Hauptwerk des Künstlers, der 2004 in Leipzig verstorben ist. Weitere Abgüsse der Skulptur befinden sich in Oberhausen, in Halle sowie im Innenhof des Museums Barberini in Potsdam. Versionen stehen in Berlin sowie vor dem Haus der Geschichte in Bonn, zu dem das Leipziger Zeitgeschichtliche Forum gehört.

In Leipzig gibt es eine von seiner Ehefrau Ursula Mattheuer-Neustädt im Jahre 2006 geschaffene Stiftung. Ihr Anliegen und Zweck ist es, das künstlerische Werk beider Künstler zu bewahren, wissenschaftlich zu bearbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Stiftung befindet sich in der Hauptmannstraße 1. In ihrem Besitz befinden sich zahlreiche Gemälde, Plastiken, Zeichnungen und grafische Blätter aus dem Nachlass von Wolfgang Mattheuer sowie das gesamte künstlerische Schaffen von Ursula Mattheuer-Neustädt.

Am Postament der Bronzeplastik befindet sich eine Hinweistafel mit den folgenden Zeilen:

Der Jahrhundertschritt von Wolfgang Mattheuer
symbolisiert das Verhältnis der Deutschen
zu den beiden totalitären Systemen im 20. Jahrhundert.
Der Erwerb wurde möglich durch
durch die großzügige Unterstützung der DePfa Bank AG.
Zur Geschichte von Diktatur und Widerstand in der DDR
erfahren Sie Näheres in der Dauerausstellung
des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig.

Der Eintritt ist frei.

Stand: 16.12.2024

Bildergalerie - Der Jahrhundertschritt

Brodyer Synagoge

Keilstraße 4 | Ortsteil: Zentrum-Nord

Mit ihren bunt verglasten Fenstern und den geometrischen Davidstern-Mustern an der Decke ist sie eine Besonderheit. Die Brodyer Synagoge wird in der Pogromnacht 1938 nicht angezündet, weil sich die Gebetsräume in einem Wohnhaus befinden. Die Nationalsozialisten befürchten, dass das Feuer auf Wohnungen übergreifen könnte, in denen „Arier“ leben. Ein von SA-Leuten gelegter Brandherd kann von beherzten Anwohnern gelöscht werden. Gerettet hat das die Synagoge zwar nicht, denn der Innenraum wird demoliert und die Bleiglasfenster werden zerstört. Doch die Synagoge hat den Krieg überlebt und ist danach wieder hergerichtet worden. In altem Glanz erstrahlt sie seit 1993 – damals konnte sie mit Hilfe der Stadt Leipzig restauriert werden.

Ihr Name geht auf Kaufleute aus Brody (Galizien, heute Ukraine) zurück. Diese jüdischen Pelzhändler spielen auf den Leipziger Messen eine große Rolle. Bereits 1763/64 richten sie am Brühl einen eigenen Gebetsort ein, die sogenannte Brody Schul – nach einem jiddischen Wort für Synagoge.

Ende des 19. Jahrhunderts kommen immer mehr ostjüdische Einwanderer nach Leipzig, der Platz im Gebetsraum ist knapp. Der Wunsch, eine eigene, größere Synagoge zu bekommen, wächst bei den orthodoxen Juden. Das Platzangebot in der Großen Gemeindesynagoge an der Gottschedstraße, die es bereits seit 1855 gibt und die zudem liberal ausgerichtet ist, reicht ohnehin nicht mehr aus.

Talmud-Thora-Verein baut einen Betsaal


Ein Lichtblick kommt mit dem jüdischen Holzhändler
Friedrich Gutfreund. Der Plagwitzer Kaufmann erwirbt um 1900 das Doppelwohnhaus in der Keilstraße 4-6. Er möchte das Erdgeschoss zu einem Betsaal umbauen. Doch die Pläne scheitern. Erst der Talmud-Thora-Verein, den jüdische Wirtschaftsleute wie Samuel Kroch und Alexander Landau gründen, kann das Vorhaben umsetzen.

Der Verein erwirbt den Komplex im April 1903, schon zwei Monate später beginnen die Umbauarbeiten. Pläne dafür stammen vom Architekten Oscar Schade. Um eine ausreichende Raumgröße für die Synagoge zu schaffen, wird die Decke zwischen Erdgeschoss und erstem Obergeschoss entfernt. So können Emporen eingebaut werden. Der Fußboden wird abgesenkt, in der Vorhalle das rituelle Handwaschbecken eingebaut. Der Thoraschrein kommt an die Ostseite des Raumes, die Jerusalem zugewandt ist. In der Raummitte entsteht die Bima. Das ist eine Art Podium, auf dem das Pult für den Vorbeter und die Thoralesung steht.

In der zweiten Etage des Wohnhauses ist Platz für eine Bibliothek samt Lesezimmer. Dort entsteht die Dienstwohnung für Rabbiner Ephraim Carlebach. Im dritten Geschoss werden Unterrichtsräume eingerichtet. Schon im September 1903 gibt das Bauordnungsamt die Talmud-Thora-Synagoge zur Nutzung frei, damit jüdische Leipziger ihre hohen Feiertage begehen können. Offiziell eingeweiht wird das Gotteshaus dann im März 1904. Die Bezeichnung Brodyer Schul oder Brodyer Synagoge bleibt bei den Betenden aber weit verbreitet. Heute wird sie meist nur noch Gemeindesynagoge genannt.

Wohngebäude wird zwangsversteigert


Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ist das Schicksal der Synagoge besiegelt. Anders als andere jüdischen Gotteshäuser geht sie zwar nicht in Flammen auf. Doch da der Talmud-Thora-Verein eine Hypothek nicht bedienen kann, wird das Gebäude 1937 zwangsversteigert. Bereits am 30. Juni 1937 wird das Gebäude im Zuge der Arisierung von einer Grundstücksverwaltung-Treuhand-AG übernommen. Die steht allerdings dem jüdischen Bankhaus Kroch nahe, das seinen Sitz im
Krochhochhaus am Augustusplatz hat. Auf Druck der Gestapo muss die Firma im Juni 1942 daher den Mietvertrag kündigen. Die Immobilienfirma beauftragt das Versteigerungshaus Klemm, das noch vorhandene Inventar zu versteigern. Nach der Zerstörung des Betraums wird dieser bis 1945 als Lagerhalle für Lacke und Farben missbraucht. Der Leipziger Historiker Steffen Held hat die Geschichte der Synagoge näher erforscht.

Synagoge wird neu geweiht


Nach dem Zweiten Weltkrieg bekommen die sich neu konstituierenden Mitglieder der Israelitischen Religionsgemeinde ihre Synagoge zurück. Am 28. Oktober 1945 wird das Gotteshaus wieder geweiht. Die Gemeinde erhält als Leihgabe 250 Stühle aus dem
Gohliser Schlösschen. Barnet Licht gelingt es, einen Synagogenchor zu gründen. Einen Rabbiner kann die Gemeinde vorerst nicht verpflichten. Die Synagoge wird der Wirkungsort von Werner Sander, der 1950 als Kantor an die Israelitische Religionsgemeinde berufen wird und bis zu seinem Tod 1972 sowohl den Leipziger Synagogalchor als auch die Gottesdienste leitet.

Die Gemeinde leidet schon in den letzten Jahren der DDR an Überalterung – im Juni 1991 gibt es nur noch 35 Mitglieder. In den Jahren nach der Friedlichen Revolution ändert sich das. Ein Grund dafür ist die Einwanderung russischer Juden nach Leipzig, die als sogenannte Kontingentflüchtlinge kommen. In ihrer Heimat sind sie Repressionen und Verfolgungen ausgesetzt. 1993 kann die Originalfassung des Betsaal-Innenraums denkmalgerecht wiederhergestellt werden. Das gelingt mit Fördermitteln vom Bund und der Stadt Leipzig. Die Synagoge wird am 22. Mai 1993 zum dritten Mal geweiht.

Mit jüdischen Einwanderern wächst Raumbedarf


Doch durch den Zustrom jüdischer Einwanderer wird das Gotteshaus wiederum zu klein. Die Israelitische Religionsgemeinde erweitert die Empore ihrer Synagoge daher um etwa 100 Plätze auf insgesamt 320. Dadurch verbessern sich die Bedingungen für das religiöse Leben der Gemeinde spürbar. Hilfe für die Erweiterung im Jahre 2001 gibt es von der Stadt Leipzig sowie dem Förderverein Synagoge und Begegnungszentrum Leipzig. Sie fördern auch den Ausbau des
Ariowitsch-Hauses als jüdisches Kultur- und Begegnungszentrum. Im Jahr 2025 gehören der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig etwa 1.100 Mitglieder an. Gemeinderabbiner ist Zsolt Balla.

Stand: 16.01.2025

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