Es ist wie ein Stern am Archivhimmel: Im ehemaligen Sowjetischen Pavillon mit dem roten Stern auf der Alten Messe hat Leipzigs historisches Stadtgedächtnis seinen Sitz. Wo die Sowjetunion einst ihre Messegüter ausstellt, sind nun unter besten klimatischen Bedingungen Leipzigs Schätze, etwa der fragile Stadtbrief, untergebracht. Rund drei Jahre hat es gedauert, die ehemalige Messehalle als Stadtarchiv Leipzig auszubauen. Der Magazin-Zweckbau bietet Platz für rund 20 Regalkilometer Archivgut auf 8.200 Quadratmetern. Weil das perspektivisch nicht ausreicht, drehen sich bereits in der benachbarten Messehalle 12 die Kräne. Dort entsteht ein Verwaltungssitz für das städtische Jugendamt sowie weitere Archivflächen, die dann bis mindestens 2050 ausreichen sollen. Das Stadtarchiv besitzt einen Veranstaltungssaal, der den Namen des ehemaligen Stadtchronisten Gustav Moritz Wustmann (1844 bis 1910) trägt. Der Saal ist mit modernster Technik ausgestattet und fasst bis zu 100 Personen. Als Magazin bewahrt das Stadtarchiv Unterlagen der Leipziger Stadtverwaltung sowie nichtamtliches Schrift- und Sammlungsgut aus verschiedenen Bereichen, das von bleibendem Wert für die Geschichte Leipzigs ist.
Eine Schatzkammer im Alten Rathaus
Leipzigs Räte haben frühzeitig ein sogenanntes Urkundendepot eingerichtet, in dem sie Kostbarkeiten sowie die Privilegien der Stadt aufbewahren. Seit 1287 ist zudem das Ausstellen von Urkunden überliefert. Die Stadturkunden werden nach 1483 in einer Geheimkammer im Alten Rathaus aufbewahrt. Im 16. Jahrhundert entsteht das Hauptarchiv, das für die Stadtbücher sowie das Aktenschriftgut zuständig ist. Mitte des 19. Jahrhundert wird allerdings ein Großteil der Sammlung vernichtet. Der Wert von Archivalien erkennt erst die bürgerliche Geschichtsschreibung. Ein Verein für Geschichte der Stadt Leipzig lässt die Aktenvernichtung stoppen. Ab 1868 wird das Archiv neugeordnet.
Unter der Regie von Wustmann gründet sich 1881 das Ratsarchiv als wissenschaftliche Einrichtung. Historische Urkunden werden zunächst im Bildermuseum am Augustusplatz aufbewahrt. Daneben entsteht ein selbstständiges Ratsarchiv. Ab 1914 werden beide im Stadthaus des Neuen Rathauses vereint. Vor allem durch die Eingemeindung der Leipziger Vororte um die Jahrhundertwende ist der Bestand der Sammlung stark angewachsen. Von 1960 an leistet sich Leipzig einen eigenen Stadtchronisten. 1994 zieht das Stadtarchiv in ein umgebautes Fabrikgebäude in der Torgauer Straße 74 um, da die vorhandenen Magazinflächen nicht mehr ausreichen.
Ein offenes Haus unterm Sowjetstern
Als es auch dort knapp wird, beschließt der Stadtrat, den ehemaligen Sowjetischen Pavillon auf der Alten Messe auszubauen. Das ist keineswegs ein nüchterner Zweckbau – durch seine Historie vermag dieser zu polarisieren, vielleicht sogar zu provozieren. Die Einweihung des modernisierten denkmalgeschützten Baus unterm Sowjetstern erfolgt am 29. Oktober 2019. „Ich verstehe das Stadtarchiv als offenes Haus für Wissenschaftler und Bürger“, sagt Michael Ruprecht, der Direktor, zur Eröffnung. Das Archiv will deutlich mehr bieten als die Aufbewahrung staubiger Akten in fensterlosen Kellerräumen.
Das Gebäude entsteht bereits 1923 bis 1924 nach Plänen von Oskar Pusch und Carl Krämer, und zwar als Messehalle für Werkzeugmaschinen. In seiner jetzigen Form existiert der Pavillon seit 1952. Ab 1950 werden Fassade und Innenraum des Gebäudes nach dem Vorbild Moskauer Bauten aus den 1930er Jahren umgebaut.
Heute hat das Stadtarchiv, eines der größten Kommunalarchive Deutschlands, modernste Bedingungen. Es verfügt über eine so genannte Passiv-Klimatisierung. Eine Doppelschalenwand sowie Luftpuffer sorgen dafür, dass externe Temperaturschwankungen abgefedert werden und das Raumklima konstant bleibt. Die Werkstatt bietet mit einer Nassstrecke sowie einem Trockenbereich zudem optimale Bedingungen für die Restauratoren.
Der Stadtbrief wird bei etwa 20 Grad sowie einer relativen Luftfeuchtigkeit von 55 Prozent in einer Schutzkassette aufbewahrt. Die liegt in einem Archivschrank aus Massivholz, den der erste Stadtarchivdirektor Gustav Moritz Wustmann 1886 anfertigen ließ.
Neben diesen Schätzen bewahrt das Archiv auch Alltägliches und Skurriles. Dazu gehören beispielsweise Pläne aus den 1920er Jahren für einen Flughafen auf dem heutigen Augustusplatz oder ein Bohrkern von Straßenbauarbeiten in Liebertwolkwitz. Zu den Archivalien zählen gegenwärtig mehr als 4.000 Urkunden, 12.500 laufende Meter Akten, Geschäftsbücher, Zeitungen und Druckschriften, 90.000 Karten und Pläne. Einzigartig ist eine Fotosammlung mit mehr als 350.000 Fotos und Postkarten der Stadt zu Architektur, Wirtschaft, Bildung, Kultur sowie kommunalen Angelegenheiten aus der Zeit um 1870 bis zur Gegenwart.
Die Leipziger sind als Detektive gefragt
Das Stadtarchiv muss ebenfalls dafür sorgen, dass digitale Inhalte noch in 500 Jahren verfügbar sind. Deshalb beteiligt es sich am sogenannten elektronischen Kommunalarchiv Sachsen, das als „Wissensspeicher für Generationen“ aufgebaut wird. Das Archivgut wird nach und nach digital für Recherchen zugänglich gemacht. Via Internet und über soziale Medien können sich die Leipziger außerdem als Detektive betätigen und dabei helfen, historische Bilder einzuordnen und zu erschließen, zu denen das Archiv wenig Hinweise hat. Selbst Filme sind bereits entstanden, wie Leipzig vor 100 Jahren ausgesehen hat. Das Projekt „Lebendes Buch“ bringt Schülern die spannende Archivarbeit näher und macht sie zu neugierigen Archivdetektiven. Dabei wird die analoge mit der digitalen Welt auf leicht zugängliche Weise verknüpft. Die Einrichtung organisiert Vorträge, Führungen und Seminare und gestaltet Ausstellungen. Für die Nutzer sind 36 Arbeitsplätze im Forschungssaal vorhanden.
Stand: 03.11.2023