Sein Name bleibt ewig mit Alfons Zitterbacke verbunden. 1986 schlüpft Enrico Lübbe als Elfjähriger in die Rolle des DDR-Kinderbuchhelden, dessen Abenteuer das DDR-Fernsehen in einer sechsteiligen Serie verfilmt. Damals konnte er sich wohl nicht vorstellen, als Intendant das Schauspiel in Leipzig zu leiten. Der Film hat durchaus seinen Lebensweg geprägt. Es bleibt zwar der einzige, da die DDR keine Kinderstars will und die jungen Schauspieler nur einmal besetzt. Doch Enrico Lübbe merkt, dass er diesen Beruf nicht erlernen will. Eigentlich möchte er Kulturjournalist werden.
Geboren wird Enrico Lübbe am 9. April 1975 als Sohn eines Kfz-Schlossers und einer Sekretärin in Schwerin. Dort wächst er auf, besucht die Polytechnische Oberschule „Georgi Dimitroff“. Er ist musisch begabt, lernt am Schweriner Konservatorium Akkordeon und Klavier spielen. Nach dem Abitur am Goethe-Gymnasium verschlägt es ihn nach Leipzig. An der Universität Leipzig studiert er 1993 bis 1999 Kommunikations-, Medien- und Theaterwissenschaft.
Nach Hospitation erste Regiearbeit in Leipzig
Um einen Kulturbetrieb „von innen“ zu erleben, hospitiert er 1995 am Schauspiel Leipzig. Und wird vom damaligen Intendanten Wolfgang Engel prompt gefragt, ob er nicht Regieassistent werden möchte. Er sagt zu und unterstützt Engel beispielsweise bei großen Inszenierungen wie dem „Faust“. In seiner Studienzeit arbeitet Lübbe zudem als Journalist für Radiosender wie MDR 1 und Deutschlandfunk. Und er hat sogar erwogen, in Moskau für eine deutsch-russische Zeitung zu arbeiten. Doch er entscheidet sich fürs Theater.
Sein Debüt als Regisseur gibt Lübbe 1998 mit dem Teenager-Drama „Disco Pigs“ von Enda Walsh. Zwei Jahre später wird er fester Hausregisseur am Schauspielhaus. 2005 wechselt er ans neue theater Halle. 2008 zieht es ihn nach Chemnitz, um am dortigen Städtischen Theater Schauspieldirektor zu werden. Regelmäßig ist er als Gastregisseur an vielen deutschen Bühnen erfolgreich, darunter am Berliner Ensemble, Deutschen Theater Berlin, am Schauspiel Frankfurt sowie am Bayerischen Staatsschauspiel München und am Volkstheater Wien.
An der Bühne in Chemnitz bleibt er bis 2013, da seine Bewerbung in Leipzig erfolgreich ist. Darüber ist er sehr erfreut: „Ich habe viele emotionale Bindungen an Leipzig seit meinem Studium“, bekennt er. Deshalb habe ihn die neue Aufgabe gereizt. Das Schauspiel, welches damals als Centraltheater firmiert, ist in einer schwierigen Phase. Viele Inszenierungen des Vorgängers Sebastian Hartmann sind beim Publikum nicht angekommen. Oft bleiben viele Stühle in den Vorstellungen leer. Langjährige Ensemblemitglieder wollen weg. Und auch zwischen Stadtverwaltung und Hartmann stimmt die Chemie nicht.
Auf dem Weg zum progressiven Stadttheater
Lübbe schafft es, das Schauspielhaus besser auszulasten. Sein Regiedebüt als Intendant gibt er mit der Lessing-Tragödie „Emilia Galotti“. Seitdem inszeniert er am eigenen Haus zwei Stücke pro Jahr. Besonders wichtig ist 2015 das Stück „Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen“ von Aischylos/Elfriede Jelinek, das in die Zeit der großen Flüchtlingswelle passt. Es folgen Großprojekte wie „Die Massnahme / Die Perser“ von Bertolt Brecht und Hanns Eisler sowie Aischylos.
Dauerbrenner werden aber auch Komödien wie „Der Gott des Gemetzels“ und „Der nackte Wahnsinn“. Die Liste der Inszenierungen ist inzwischen lang. Sein persönlichstes Stück ist 2022 das Märchen „Das kalte Herz“ nach Wilhelm Hauff. „Das hat auch etwas mit meiner DDR-Biographie zu tun und ist auch eine emotionale Geschichte“, sagt er.
Anders als in Berlin, München oder Hamburg gibt es in Leipzig, neben dem Theater der Jungen Welt für ein jüngeres Publikum, nur ein Schauspiel-Theater. Daraus ergibt sich eine Verantwortung für den Spielplan. Lübbe und sein Team setzen daher seit 2013 das Konzept eines progressiven Stadttheaters um. Dabei wird viel Wert auf eine ästhetische Vielfalt der aufgeführten Werke gelegt. Der Anspruch ist, für die unterschiedlichsten Menschen der Stadt recht unterschiedliche Angebote zu machen. Deshalb werden verschiedene Regisseure für die Inszenierungen eingeladen.
Mit der Diskothek entstand eine Spielstätte, die sich ausschließlich der Gegenwartsdramatik widmet. In der alten Baumwollspinnerei in Plagwitz betreibt das Schauspiel die Residenz. Diese versteht sich als Koproduktions- und Veranstaltungsort für frei produziertes performatives Theater. Und ist eine Förderung der Freien Szene aus eigenem Schauspiel-Etat.
Leipzig wird wieder Theaterstadt
Es ist Lübbes Verdienst, dass aus der Musikstadt Leipzig, in der es das Schauspiel nie leicht hatte, wieder eine Theaterstadt wird. Das gelingt mit einem Spielplan, den er so vielfältig wie möglich gestaltet. Die Vorstellungen im Großen Haus sind fast durchweg sehr gut besucht, oft auch ausverkauft. 2024 haben die Spielstätten des Schauspielhauses Leipzig mit knapp 132.000 Besuchern eine Auslastung von 82 Prozent. Das Besondere: Das Publikum ist in allen Spielstätten sehr gemischt. Junges Publikum zieht es nicht nur in die Residenz oder die Diskothek. Es kommt ebenso ins Große Haus. Und das ältere Publikum interessiert sich auch dafür, was an den kleinen Spielstätten gespielt wird. Vielen bleiben die Silvester-Specials in guter Erinnerung, bei denen seit dem Jahreswechsel 2013/2014 bis zu den Corona-Einschränkungen das ganze Haus bespielt wird. 2025 wird das Silvester-Event mit Bands, Catering und Aufführung auf Wunsch des Publikums wieder aufgenommen.
Viele Auszeichnungen für Schauspiel Leipzig
Seit Lübbe Intendant ist, erhält das Schauspiel Leipzig zahlreiche Einladungen zu renommierten Festivals im In- und Ausland. Dazu gehören das Berliner Theatertreffen, die Mülheimer Theatertage, der Heidelberger Stückemarkt, die Ruhrfestspiele Recklinghausen sowie die Biennale in Venedig. Ein großer Erfolg: 2017 erhält das Schauspiel Leipzig den Martin-Linzer-Theaterpreis für die herausragende künstlerische Gesamtleistung eines deutschsprachigen Theaterensembles, der damals erstmalig von der Fachzeitschrift „Theater der Zeit“ vergeben wird. 2022 folgt der Deutsche Theaterpreis „DER FAUST“. Für seine Leistungen im Bereich Partizipation und Inklusion wird das Schauspiel wiederholt ausgezeichnet. Erste Anregungen für Audiodeskription holt Lübbe sich bei einem Gastspiel am Volkstheater Wien. In Leipzig wird das Angebot professionalisiert, später auch mit Hilfe von Fördermitteln um Gebärdensprache ergänzt. Da steckt viel Energie drin, sagt er.
„Ich hätte in Leipzig niemals so erfolgreich arbeiten können ohne mein fantastisches Team, das mir auf vielen Gebieten den Rücken freigehalten hat“, betont Lübbe, der seit einigen Jahren ebenfalls ein erfolgreicher Opernregisseur ist. So inszenierte er beispielsweise an der Staatsoper Hannover die deutsche Erstaufführung von Manfred Trojahns „Orest“, „Wozzeck“ von Alban Berg an der Oper Erfurt, Richard Strauss’ „Elektra“ an der Oper Bonn sowie Richard Wagners „Tristan und Isolde“ an der Oper Leipzig.
2025 bespielt das Schauspiel Leipzig den agra-Messepark. Die Halle 4, ehemals Kultursaal der agra-Landwirtschaftsausstellung der DDR, ist ein Interimsquartier. Die Große Bühne wird vom April bis Oktober 2025 umgebaut. Unter dem Titel „ag(o)ra“ beschäftigt sich das Ensemble mit der Geschichte und Geschichten dieses Areals. „Das läuft sehr erfolgreich und kommt gut beim Publikum an.“
Lübbe ist für 190 Mitarbeiter verantwortlich, 25 davon sind fest engagierte Schauspieler. 2027 zieht er als Intendant in Leipzig einen Schlussstrich. Er möchte neue Dinge probieren, eine Weile mit seiner Frau, einer Lehrerin, sowie den beiden Kindern im Ausland verbringen. Wohin es ihn verschlägt, ist derzeit noch unklar. Auf jeden Fall will er frei arbeiten, dabei auch die Verbindungen nach Deutschland nicht kappen. So kann er sich vorstellen, auch künftig in Leipzig wieder einmal eine Oper oder ein Schauspiel zu inszenieren.
Stand: 11.09.2025