Er ist, gemessen an seinem Bauvolumen, der größte Kopfbahnhof in Europa, der Leipziger Hauptbahnhof. Mehr als eine Million Kubikmeter umbauter Raum schlagen zu Buche. Mit seinen ehemals 26 Bahnsteiggleisen war er früher in jeder Beziehung der größte europäische Kopfbahnhof. Doch seit der Inbetriebnahme des City-Tunnels im Dezember 2013 hat sich die bedeutende Verkehrsstation teilweise in einen Durchgangsbahnhof verwandelt, weil zwei Gleise im Untergrund verschwanden. Soviel Wandel ist genaugenommen ein ständiger Begleiter dieses Riesen im Leipziger Stadtbild.
Ein Central-Bahnhof soll es werden
In der Frühphase des Eisenbahn-Jahrhunderts bauten konkurrierende private Eisenbahn-Gesellschaften zwischen 1837 und 1874 sechs Fernbahnhöfe in der Messestadt. Der Dresdner Bahnhof, der Magdeburger Bahnhof, der Bayerische Bahnhof, der Thüringer Bahnhof, der Berliner Bahnhof und der Eilenburger Bahnhof bildeten die Anfangs- bzw. Endpunkte wichtiger überregionaler Strecken, die von dem angesehenen Handelszentrum in alle Himmelsrichtungen führten. Nur der Berliner Bahnhof war ein Durchgangsbahnhof. Die fünf anderen entstanden als Kopfbahnhöfe.
Viele Reisen ließen sich nur durch mehr oder weniger beschwerliches Umsteigen zwischen Zügen auf verschiedenen Leipziger Fernbahnhöfen antreten. Wer mit seinem Gepäck innerstädtisch nicht zu Fuß laufen wollte, bescherte den Droschkenkutschern und später der Pferdebahn und weitere 25 Jahre später der elektrischen Straßenbahn ein einträgliches Geschäft.
Mit der Verstaatlichung der privaten Bahngesellschaften änderte sich die Ausgangslage grundlegend. Die Bündelung der wichtigsten Strecken unter dem Dach einer riesigen Station rückte ab den 1880er Jahren an die Spitze der Leipziger Verkehrsvorhaben. Damit kam eine Besonderheit ins Spiel. Denn wegen der räumlichen Randlage der Messestadt im Königreich Sachsen stießen im Leipziger Stadtgebiet die einflussreichen Staatsbahnen Sachsens und Preußens aneinander. Beide wollten einen repräsentativen Central-Bahnhof. Sachsen favorisierte mit Blick auf gute Erreichbarkeit vieler Reiseziele einen Durchgangsbahnhof, während Preußen auf einem Kopfbahnhof beharrte, um keine Konkurrenz für seinen Durchgangsbahnhof im benachbarten Halle zu schaffen. Die Verhandlungen zogen sich über Jahre hin, und letztlich wurde die skeptische Leipziger Kaufmannschaft dadurch umgestimmt, dass der künftige Kopfbahnhof Innenstadtnähe und somit Vorteile vor allem für eilige Messegäste versprach. 1902 lag ein unterschriftsreifer Vertrag vor.
Der erste Großbahnhof des 20. Jahrhunderts
An der baulichen Aufgabe, bei 300 Meter Fassadenbreite und strenger sächsisch-preußischer Symmetrie des massigen Baukörpers die geforderten 26 Bahnsteiggleise und ein ganzes Bündel von Verwaltungs- und Versorgungseinrichtungen unterzubringen, beteiligten sich 72 namhafte deutsche Architekten bzw. ihre Büros. Den Vorzug erhielt der funktional ausgelegte Entwurf der Architekten William Lossow und Max Hans Kühne aus Dresden. Für üppige Formen mit allerlei Uhrtürmen, Fassadenzierrat und Mauervorsprüngen, wie sie von anderen Baumeistern vorgeschlagen wurden, war die Zeit abgelaufen.
Der Bau des Leipziger Hauptbahnhofs begann 1909. Zuerst wurde das künftige Baufeld beräumt, um anschließend in West-Ost-Richtung nach dem schrittweisen Abriss des Thüringer, des Magdeburger und zum Schluss des Dresdner Bahnhofs den neuen Prachtbau entstehen zu lassen.
Auf dem weiträumigen Gelände der drei Vorgängerbahnhöfe und ab 1912 auch auf den ersten Abschnitten des Hauptbahnhofs stand der Bahnverkehr – dank geschickter Provisorien und perfekter Organisation – nicht einen Tag still. Nur der Beginn des 1. Weltkriegs machte den Planern einen Strich durch die Rechnung. Vor allem wegen Arbeitskräftemangels nach dem Beginn der Mobilisierung verzögerte sich die Fertigstellung des Hauptbahnhofs um ein Jahr. Allerdings stimmte die Gesamtrechnung: Mit 137 Mio. Mark fiel sie nur unwesentlich höher aus als die zunächst avisierten 135 Mio. Mark für die Umgestaltung der Leipziger Bahnanlagen, darunter als herausragender Einzelposten 60 Mio. Mark für Empfangsgebäude, Gleisanlagen und Bahnsteighallen des Hauptbahnhofs. Zur feierlichen Schlusssteinlegung am 4. Dezember 1915 in der sächsischen Bahnhofshalle blieben die deutschen Ehrengäste unter sich. Die Eröffnung des Hauptbahnhofs mitten im 1. Weltkrieg verhinderte die fällige Würdigung als Schlüsselereignis der europäischen Verkehrsgeschichte.
Anlaufpunkt für die Leipziger Messe
Erst ab den 1920er Jahren konnte der Hauptbahnhof seine Eignung dafür zeigen, wofür er projektiert war – für friedlichen Reiseverkehr mit fabelhaften Verkehrsspitzen zu den Leipziger Messen, die jedes Mal mit rund 300 Sonderzügen als Zusatzangebot abgefangen werden mussten. Unter dem Dach der 1920 geschaffenen Reichsbahn wirkte der leidige „sächsisch-preußische Eisenbahnkrieg“ durch die fortgeschriebene Teilung nunmehr zwischen den Reichsbahndirektionen Halle und Dresden an der Trennlinie von Gleis 13 und 14 fort. Erst 1935 gelangte der gesamte Hauptbahnhof organisatorisch komplett zur Direktion Halle. Im Zweiten Weltkrieg war der Hauptbahnhof insbesondere während der beiden schweren Bombenangriffe vom 4. Dezember 1943 und vom 7. Juli 1944 ein Hauptbetroffener. Am Ende fand extrem gestörter Eisenbahnverkehr nur noch auf einem Trümmerfeld statt. In sämtlichen Hallen fand sich nicht eine unbeschädigte Glasscheibe mehr.
Nach dem Kriegsende 1945 genoss der Hauptbahnhof in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR Priorität als Begleiter der Messe. Gleichwohl unterblieben aus finanziellem Mangel wichtige Investitionen. Ab 1990 liefen alle Bauvorhaben auf Rettung hinaus. Sie gelang mit der Integration der Promenaden Leipzig Hauptbahnhof, einer zum Flanieren einladenden Abfolge von 140 Einzelhandelsgeschäften und reichlich Gastronomie auf drei Ebenen. Zur Eröffnung im Herbst 1997 erschien Bundeskanzler Helmut Kohl. Anschließend begann die Sanierung der Bahnsteighallen. Damit war der Hauptbahnhof ab 1999 als ICE-Knoten herausgeputzt.
Ende März 2021 wurde der Leipziger Hauptbahnhof zum schönsten und besten Bahnhof Europas gekürt. Zu diesem Ergebnis kam die internationale Verbraucherschutz-Organisation Consumer Choice Center (CCC), nachdem sie die 50 größten europäischen Bahnhöfe untersucht hatte.
Stand: 19.12.2021